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Von Sammelwut und Müllhalden

Wie Design sich aufbewahrt
07.02.2017

Eine Kolumne von Michael Erlhoff

Es gibt einige Themen, die, sollte jemand darüber einen Text schreiben, wahrscheinlich sehr viele Menschen auf die Palme bringen. Der nun folgende zielt mitten hinein ins Mark solcher Sensibilität. Denn gesellschaftlich ist das Sammeln sehr anerkannt, wird es sogar steuerlich begünstigt und gefördert, und erscheint als kulturelle Aktivität schlechthin. Dies betrifft öffentliche Institutionen wie Museen genauso wie Privatleute, und es ist noch nicht einmal bloßes Privileg der Reichen.

Gesammelt wird ohnehin alles, und häufig wird dies sogar öffentlich ausgestellt und immer sonst, zumindest im privaten Kontext, um solche Sammlungen eben anderen Leuten, wann immer diese zu Besuch kommen, nahezu aufdringlich vorzuführen. Es gibt wirklich Museen für Coca-Cola-Dosen, für Bürogeräte, Instrumente zur Bearbeitung von Kohlköpfen, für Messer und Scheren, für Gläser, Weinflaschen (ein gewaltiger Markt insbesondere in Asien), Verkehrsschilder, Bücher, Zigarren und was sonst noch eigentlich dafür absurd erscheinen mag. Neuerdings mischen sich in solche Sammel-Ekstase zusätzlich staatliche Institutionen wie Geheimdienste und ebenso Unternehmen ein: Die sammeln Daten bis zum Überdruss.

Die Motivation für solche Sammelwut wird etwas später versuchshalber erläutert, hier geht es erst einmal um die Tatsache selber, dass alles gesammelt wird. Übrigens auch Geld. Alle bilden ein Museum, und man kann sich des Eindrucks kaum verwehren, bei dem Besuch solcher Ansammlungen sich in Müllhalden zu befinden. Lediglich sind diese entweder durch die Benennung als „Museum“ vergoldet und somit quasi a priori legitimiert, oder diese Sammlungen werden von denen, die da gesammelt haben, mit solchem Ausdruck oder sogar Pathos und zumindest Liebe präsentiert, dass jeglicher Gedanke an eine Müllhalde sich sofort verflüchtigen soll. Alles wird als wertvoll vorgestellt und gestaltet – und tatsächlich könnte man ganz allgemein oder meta-theoretisch meinen und sogar bewundern, dass solche Sammlungen doch in großartiger Weise Geschichte aufbewahren und für kommende Generationen bereitstellen. Sicherlich ist bewundernswert, wenn jemand aus einem spezifischen Interesse heraus ansonsten vergängliche Dinge und Zeichen aufbewahrt, pflegt und diese dann mehr oder minder drastisch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Artikulieren sich doch sonst nicht ganz unberechtigt etliche Klagen, die Geschichte würde einfach verschwinden und das Geschichtsbewusstsein gleich mit.

Aber es wird noch komplizierter. Denn immerhin ist ja selbst die Vorstellung von dem, was Geschichte überhaupt ist, nicht einheitlich geregelt. Sogar diejenigen, die in den Geschichtswissenschaften arbeiten, sind sich dessen nicht so sicher, unterliegen durchaus modischen Strömungen (irgendwann ist das Mittelalter en vogue, zu einem anderen Zeitpunkt das 19. Jahrhundert oder Byzanz oder etwas anderes), irgendwann rückt man die historischen Möglichkeiten oder den Konjunktiv ins Zentrum (was wäre geschehen, wenn…), und philosophisch haben sich diverse Vorstellungen von Geschichte manifestiert. Zustimmen kann man gewiss dem Philosophen Max Horkheimer in dessen Anmerkung, Geschichte sei stets dreifach konnotiert: durch das, was einst geschah, dann durch die Überlieferung dessen, und drittens durch das (Finanz-, Herrschafts-, gegebenenfalls soziale- und kulturelle oder bloß konkurrierend modische) Interesse derer, die das bearbeiten und berichten. Womit jeglicher Gedanke an eine Art objektiv erfahrbarer Geschichte obsolet wird.

Doch noch viel einfacher: Heute mögen wir in einem Museum eine Kutsche oder in einer privaten Sammlung einen Wasserkessel von Peter Behrens finden und meinetwegen bewundern, nur hat die heutige Wahrnehmung mit der der Menschen jener Zeit, in der diese Dinge entstanden und täglich genutzt wurden, überhaupt nichts zu tun. Denn für uns heute sind es bloße Überlieferungen, die wir nicht mehr gebrauchen. Sogar dann noch, wenn wir mit ihnen in unserer Zeit hantieren, fehlen uns bestimmte Aspekte der Zeit, in der sie geschaffen wurden. Heute können wir beispielsweise nur noch mühsam rekonstruieren, aber nicht erfahren, das beizeiten das Radiogerät „SK 4“ des Unternehmens „Braun“ und entworfen von Dieter Rams einen Skandal evozierte und offenkundig damals Menschen dazu veranlasste, die Fensterscheiben von Händlern, die es im Schaufenster zeigten, mitsamt dem Radio selber zu zerstören. Man kann dies jetzt notieren, doch ohne den damit verbundenen Schrecken.

So imaginieren solche Sammlungen lediglich die Illusion, an der Geschichte zu partizipieren und wahrhaftig daraus zu lernen. Letzteres nämlich wäre allein dann gültig, wenn wir uns ständig bei der Betrachtung und dem Nachdenken darüber jenes Gedankens von Max Horkheimer gewiss sind und mit dieser unausweichlichen inneren Widersprüchlichkeit umgehen.

Dies betrifft übrigens ebenso alle Museen. Wobei ohnehin in letzter Zeit an allen nur vorstellbaren Orten Museen entstehen. In einer ehemaligen Brauerei eines für das Bierbrauen, in einer stillgelegten Zeche eines zum Bergbau, im ehemaligen Möbellager zu Möbel-Design, im Gasometer, im Wald oder auf dem hohen Berg. Die dort versammelten Ausstellungen präsentieren lediglich Nostalgie und die Not von Arbeitsbeschaffung und irgendeiner Rest-Nutzung von Liegenschaften. Und erst durch die Gestaltung der Ausstellungen und insgesamt der Räume wird gegenüber den Besucherinnen und Besuchern Gegenwart vorgegaukelt und Betroffenheit erzeugt. Übrig bleiben letztlich nur das, immerhin sehr hoffnungsvolle, Staunen über historische Innovationen, Gestaltung und deren Umsetzung sowie die optimistische Vorstellung, angesichts solcher historischer Artikulationen die eigene Gegenwart nicht länger als normal, vielmehr als unweigerlich veränderbar zu erfahren und zu denken.

Kompliziert genug. Aber als noch merkwürdiger entpuppt sich überhaupt die Sucht, alles mögliche zu sammeln, bei genauerer Betrachtung als selber sehr obskur. Dabei hilft ein Text des ungarischen Psychoanalytikers Sándor Ferenczi: „Zur Ontogenese des Geldinteresses“ von 1914. Es lohnt sich, diesen Text an dieser Stelle zu paraphrasieren und gelegentlich zu erweitern. Denn Ferenczi beginnt mit einer Beobachtung, die jederzeit nachvollziehbar ist: Die erste körperlich materielle Entäußerung des Kleinstkindes artikuliert sich im Urinieren und noch handfester beim Scheißen. Die Babys jubeln bei dieser Aktion; sicherlich berechtigt, denn dabei erfahren sie erstmals ihre Schaffenskraft, Kreativität. Umso dramatischer und für jene kleinen Kinder deprimierend geschieht als Reaktion der Erwachsenen auf solche Tat, dass diese das negativ sanktionieren und möglichst schnell entsorgen wollen. Meistens in einer Toilette – man ahnt den verzweifelten Blick jener kleinen Kinder, wie sie dem raschen Verschwinden ihrer Schöpfung im Toilettenbecken hinterhersehen.

Allmählich, das nennt sich Erziehung, adaptieren und verinnerlichen diese Kinder den Ekel jener Erwachsenen und kompensieren das versuchshalber. Schon Ferenczi beschreibt, wie beispielsweise die Kinder nun im Sandkasten auf dem Spielplatz ganz fröhlich in den Sand pinkeln, so dass sie dann aus dem durch die Feuchtigkeit gefestigten Sand etwas Hübsches oder zumindest für sie Attraktives formen. Immerhin noch im Bezug zwischen ihrer zutiefst körperlichen Aktion und dem Objekt Sand, den sie sich so zueigen machen. Selbstverständlich wird ihnen auch dies wiederum ausgeredet oder verboten. So wenden die Kinder ihre schöpferische Erotik und narzisstischen Wünsche darauf irgendwelchem Spielzeug zu, das sie dann herzen und küssen oder zerzausen und zerstören. Bis sie, so stellte schon Ferenczi fest, beginnen, feste Gegenstände zu sammeln. Wiederum zuerst Dinge, die nicht ausdrücklich von anderen hergestellt sind, also etwa Steine oder Muscheln oder getrocknete Blätter. – Nebenbei geschieht übrigens meist noch etwas durch die Erwachsenen, den Kindern jegliche kreative Fantasie auszutreiben: Wenn, was kleine Kinder gerne tun, ein Kind auf ein Blatt Papier mit einem Stift einfach einige bunte Linien und Flächen zeichnet, dann treten die Eltern häufig mit dem Hinweis auf: „Oh, ein Fisch“ oder „eine Wolke“ oder „ein Auto“ oder dergleichen. Bis endlich das Kind Fische, Wolken, Autos und Ähnliches zeichnet, sich nicht länger Phantasmagorien und irgendeiner Schönheit überlässt, sondern der blassen Imitation folgt.

Doch zurück zum Sammeln: So wird kenntlich, wie sehr das Sammeln der von außen gesteuerten Zerstörung traumhaft eigener Schöpferkraft und eigenwillig produzierter Objekte, also tiefer Frustration, entspringt und sich somit als pure Kompensation analer Probleme reflektiert. Eine solch brutale Aktion der Erziehenden, gleich zu Beginn des Lebens die erste Kreation zu missachten und zu vernichten, muss unausweichlich dazu führen, diese Erfahrung zu verdrängen und durch eine vergleichbare, jetzt allerdings gesellschaftlich akzeptierte Handlung, zu ersetzen. Eben durch das Sammeln oder auch dadurch, als Hobby oder als Profession irgendwie anders den Traum, selber etwas schöpfen zu können, dennoch zu realisieren. Dabei fällt auf, dass diejenigen, die gerne gestalten, fast immer ebenso gerne sammeln.

Nun verheißt der Titel des Textes von Ferenczi ja noch mehr, eben den Weg zum Interesse an Geld. Was schnell erläutert ist: Irgendwann im Laufe der Entwicklung des Kindes wird dieses nicht länger Steine oder Muscheln, sondern zum Beispiel Briefmarken oder andere nunmehr zusätzlich von der Gesellschaft als materiell wertvoll erachtete Dinge zu sammeln. Autos, Kunst, Raritäten – und schließlich Geld. Da doch seltsam ebenfalls von denen, die schon so viel Geld angehäuft haben, bekannt ist, dass sie regelrecht leidenschaftlich nach immer noch mehr Geld suchen, um dies zu sammeln. Quasi verselbstständigt sich die Sehnsucht des Sammelns zur Sammelwut. Für den Zusammenhang solcher Wut mit dem Beginn davon in jener frühkindlichen Erfahrung spricht zusätzlich, wie sehr solche Sammlerinnen und Sammler (diese mögen übrigens geschlechterspezifisch je unterschiedliche Gegenstände sammeln, aber dies muss eine andere Studie erörtern) intensiv die gesammelten Objekte hegen und pflegen, streicheln und putzen sowie leidenschaftlich anderen Leuten zeigen und bekümmert dabei immer auf Zuneigung hoffen. Am allerbesten jedoch illustrierten die Geschichten in den alten Micky-Maus-Heften den hier behaupteten analen Charakter des Geldes oder wenigstens des intensiven Sammelns von Geld: Um richtig sein Glück auszuleben, springt dort Onkel Dagobert jubelnd häufig von einem Sprungbrett mitten hinein in das von ihm so massiv angesammelte Geld. Welche Sammlerin oder welcher Sammler täte das nicht auch glückselig, sich eben in der Sammlung zu reinigen.

Sehr verständlich hat all dies eindringlich mit Design zu tun. Mit der Sehnsucht, selber gestalten zu wollen und dies in diversen handwerklichen Aktionen ebenso zu realisieren wie in der Leidenschaft, etwas zu waschen, zu putzen, zu kochen, zu singen, Sport zu betreiben, zu fotografieren und so weiter. Ja, bis hin zu all den so emotional aufgeladenen pseudo-kreativen Auslassungen bei Facebook, in Blogs oder anderen Orten des Internet. Noch der Enthusiasmus über die Perspektive, bald könnte man sich seine Möbel oder Accessoires am Computer ausdrucken, ist wohl getragen durch diese Sucht. Nämlich sauber doch noch kreativ zu sein und somit das frühkindliche Trauma zu bereinigen.

Andererseits sind alle Museen, die privaten Sammlungen und selbstverständlich das Gesammelte fast ausschließlich Objekte, die jemand gestaltet hat. Und aufbewahrt werden alle Sammlungen in gestalteten Regalen, Schränken, Räumen, anderen Archiven und Websites. So beflügelt das Design auch noch den analen Charakter des Sammelns. Ohne Unterlass.

Michael Erlhoff

Er ist Autor, Design-Theoretiker, Unternehmensberater, Kurator und Organisator; einst CEO des Rat für Formgebung, Mitglied des Beirats der documenta 8 und Gründungsdekan (und dann bis 2013 Professor) der Köln International School of Design/KISD. Erlhoff war Gründer der Raymond Loewy Foundation, ist Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Designtheorie und -forschung und leitete als Gastdozent Projekte und Workshops an Universitäten in Tokio, Nagoya, Fukuoka, Hangzhou, Shanghai, Taipei, Hongkong, New York und Sydney. Seit 2016 lehrt er als Honorarprofessor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig.