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Schon bald in Ihrem Conceptstore: Beim Designfestival gibt es viele Accessoires, Tableware, Schreibwaren und anderen Kleinkram zu entdecken. Hier Schleudern von Geoffrey Fisher.

Wieviel Utopie darf’s denn sein?

von Jasmin Jouhar | 05.10.2016

Stiff upper lip – das war einmal. Jetzt zeigt London der Welt ein Lächeln, und gleich ein besonders breites. Die spektakulärste Installation des an spektakulären Installationen ohnehin nicht armen Londoner Designfestivals war eindeutig „The Smile“: Ein Pavillon ganz aus Holz, 34 Meter lang und an beiden Enden aufgebogen wie ein Mund. Wie auch immer der Rest des Königreichs künftig zum Kontinent stehen mag, die Hauptstadt lächelt die Brexit-Krise erst einmal weg. Passenderweise wird das Designfestival in diesem Jahr zum ersten Mal von einer Designbiennale begleitet, bei der 37 Nationen die Welt nach London bringen.

Ein Lächeln zwischen Tate Britain und Chelsea Art College: Der Pavillion „The Smile“ von der Architektin Alison Brooks.

Schon die Ankunft am Flughafen Heathrow rückt die Verhältnisse gerade: In der großen Halle vor der Passkontrolle bilden sich die längsten Schlangen vor den Schaltern für non-UK- und non-EU-Bürger. Die Reisenden mit EU-Pass dagegen wirken wie ein verlorenes Grüppchen unter dem riesigen Leuchtschild „UK Border“. Vielleicht braucht Europa Großbritannien doch mehr als umgekehrt? Das Designfestival jedenfalls ist ziemlich selbstgenügsam, zumindest aus kontinentaleuropäischer Sicht. Es gibt zwar die großen Installationen wie den lächelnden Pavillon der Architektin Alison Brooks oder die Projekte im Victoria & Albert Museum, die auf Instagram kurz die Aufregungskurve ausschlagen lassen. Ein Besuch auf den Messen während des Festivals aber offenbart: Hier geht es vor allem um den britischen Markt.

Teppiche im Zwielicht: Benjamin Hubert hat den Gobelin-Saal im Victoria & Albert Museum mit seiner kinetischen Installation „Foil“ illuminiert.

Die europäischen Marken zeigen durchaus Präsenz, etwa bei den Länderpräsentationen der London Design Fair oder in der skandinavisch geprägten Halle der Messe Designjunction. Zudem haben viele internationale Brands ohnehin eigene Showrooms in der Stadt. Doch was die Hersteller präsentieren, ist nur selten wirklich neu. Sie nutzen das Festival als Gelegenheit, ihr aktuelles Programm den Londonern vorzustellen – nachdem es zuvor bereits in Mailand, Paris und anderswo zu sehen war. Das heißt aber nicht, dass Großbritannien kein wichtiger Markt wäre. Im Gegenteil, High-End-Design ist ein Statussymbol in der City. Nicht umsonst unterhält beispielsweise der italienische Küchenhersteller Boffi in London gleich zwei Showrooms; das Königreich ist nach den Vereinigten Staaten der wichtigste Auslandsmarkt. Mit Leuchten vom derzeitigen Szeneliebling Michael Anastassiades lockt Boffi das Publikum in den Brompton Design District – in illustrer Nachbarschaft mit Bisazza, Kartell, Cassina, B&B und Conran. Vitra gibt in einem Pop-up-Laden in Shoreditch mit Prototypen von Konstantin Grcics Sitzmöbel „Stooltool“ schon einmal einen ersten Ausblick auf den großen Auftritt zur Messe Orgatec in drei Wochen. Eine funkelnde Ausnahme: Kristallspezialist Swarovski aus Österreich stellt erste Leuchten aus der Kooperation mit den Londoner Designern Frederikson Stallard vor. Ganz großer Glamour!

Ganz großer Glamour: Der Kristallspezialist Swarovski präsentiert zum London Design Festival eine Leuchter-Komposition der Designer Fredrikson Stallard.

Auch wenn sich die großen Player eher zurückhalten, die Reise nach London zum Festival lohnt sich allemal. Denn abseits der etablierten Marken lässt sich jede Menge entdecken. Messen wie Designjunction oder die London Design Fair mit ihrer Sektion „Tent“ bieten jungen, kleinen Designunternehmen eine Plattform. Gerade an den vielen kleinen Ständen mit Keramik, Glas, Leuchten, Accessoires, Kleinmöbeln, Schreibwaren oder Textilien finden sich Produkte, die es noch nicht überall gibt. Entsprechend quirlig ging es zu, das Szenepublikum schob sich dicht an dicht gedrängt durch die schmalen Gänge. Manches Objekt wird man im kommenden Jahr sicher in den einschlägigen Conceptstores wiedersehen. Ob es diese Newcomer-Brands in zwei Jahren alle noch geben wird, ist eine andere Frage. Aber mit einem Auftritt beim Festival verschaffen sie sich auf jeden Fall erste Publicity.

Feine Schnitzer: Die Designerin Bethan Gray zeigt auf der Designjunction Intarsien in abstrakten Mustern.

Die Aussicht auf entsprechende Aufmerksamkeit lockt sicher auch die branchenfremden Marken an, die zum Designfestival regelmäßig eigene Auftritte inszenieren. Da zeigt eine Champagnerfirma mittelmäßige Installationen von eigentlich guten Designern im Touristentrubel von Soho, und ein Hipsterhotel in Shoreditch rührt die Trommel für ein vergleichsweise schmales Design-Event. Der Automarke Mini wiederum gelingt – ebenfalls in Shoreditch – mit drei Pavillons des Architekten Asif Khan ein zeitgemäßes Statement zum Leben in der Stadt. Und die Hotelkette citizenM tut sich für eine gelehrte Installation namens „Speak Low if you speak Love“ mit dem Globe Theatre zusammen. Willkommener Anlass: Shakespears Todestag jährt sich zum 400. Mal. Langeweile droht Ende September in London nun wirklich nicht. 

Love is All Around: Die Hotelkette citizenM hat sich mit dem Globe Theatre zusammengetan, um den 400. Todestag William Shakespeares mit einer Installation zu feiern.

Warum also haben die Festivalmacher um den Vorsitzenden John Sorrell und den Direktor Ben Evans dem ohnehin stetig wachsenden Programm auch noch eine Designbiennale aufgeladen? „Vor 14 Jahren haben wir das Festival gegründet“, erinnert sich John Sorrell beim Rundgang über die Biennale. „Damals stand es nicht gut um die britische Designszene. Mittlerweile ist sie sichtlich gereift.“ Nun sei der richtige Zeitpunkt gekommen für eine neue Perspektive: „Mein Traum war eine internationale Ausstellung wie die Biennale in Venedig, nur für Design.“ An Ambitionen mangelt es also nicht.

Royaler Rahmen: Das prachtvolle Somerset House ist der Schauplatz der ersten Londoner Designbiennale.

Bei bislang 37 Teilnehmerländern darf die frischgeborene Unternehmung freilich noch wachsen; mit dem imposanten Somerset House an der Themse hat sie aber schon eine standesgemäße Unterkunft gefunden. Auch das Thema der ersten, von Christopher Turner kuratierten Ausgabe der Biennale verdeutlicht den Anspruch des Newcomers: „Utopia by Design“ lautet es, denn vor genau 500 Jahren wurde Thomas Morus’ epochales Werk „Utopia“ veröffentlicht. Die Beiträge bezogen sich mal mehr, mal weniger direkt auf das Thema. Wie bei der diesjährigen Architekturbiennale in Venedig ist auch hier ein „social turn“ zu beobachten, die Auseinandersetzung mit der politisch grundierten Frage, wie wir eigentlich leben wollen.

Ein echter Publikumsliebling, auch wenn es hier nicht zu sehen ist : Auf der Terrasse des Somerset House hat der Libanon ein Stück Beiruter Straßenleben aufgebaut.

Manch eine der Präsentationen hätte man dementsprechend auch in Venedig finden können, etwa dokumentarische Ansätze wie Norwegens Beitrag über Konzepte für den barrierefreien Alltag oder das Stück Beiruter Straßenleben, das der Libanon auf die Terrasse des Somerset House verpflanzt hat – inklusive Falafelduft, frisch gepresstem Orangensaft, arabischer Musik und Backgammon-Café. Mexiko zeigte einen beeindruckenden Multimedia-Raum über die Grenzregion zu den Vereinigten Staaten. Andere Beiträge widmeten sich dezidierter Designthemen, wie etwa die Schweiz, die eine aufgeräumte Installation aus Lagerregalen mit Koproduktionen von Designern und Ingenieuren bespielt hat. Superleichte Baumaterialien, Speziallinsen und innovative Textilien weisen in die Zukunft unserer Gebrauchsgegenstände. Russland wählt mit seinem gelungenen Raum den Blick auf utopische Ideen im sowjetischen Design. In einem Dokumentarfilm kommen Designhistoriker und damals tätige Gestalter zu Wort. Die Wände sind bedeckt mit hinterleuchteten Fotografien von Fahrzeugen, Elektrogeräten, Haushaltswaren, aber auch von Messen und technischen Zeichnungen. Allein hier hätte man einen halben Tag verbringen können. Andere Konzepte wiederum verheddern sich in dem eher sperrigen Thema, etwa die belanglose Installation von Studio Makkink & Bey für die Niederlande oder Konstantins Grcics Doppelraum für Deutschland, der insofern unser Land gut gut widerspiegelt, weil er ziemlich verkrampft-verkopft geraten ist.

Ein Kaminfeuer für Utopisten: Konstantin Grcic hat den deutschen Beitrag für die London Design Biennale gestaltet.

Eher unfreiwillig zeigte die Biennale, dass die Suche nach einem anderen, besseren Leben hinausführt aus den Museumsräumen. Manch ein Projekt des Designfestivals kam der Frage, wie wir leben wollen, deutlich näher als die Länderbeiträge in Somerset House. Mini Living etwa mit seinen drei Pavillons, die neue Perspektiven für den Alltag in der Stadt eröffneten – in dieser Form vielleicht noch nicht umsetzbar, aber doch wünschenswert und in greifbarer Nähe. Oder die Ausstellung der Industriedesignagentur Map, die per Crowdfunding finanzierte Produkte für Start-ups entwickelt – und dabei gestalterisch permanent zwischen dem realen Gegenstand und seiner digitalen Vernetzung vermitteln muss, sei es bei einem Lern-Computer, einer Türklingel oder ein Fahrradkompass. Mit Projekten wie diesen entscheidet sich im Kleinen tatsächlich, wie unser Alltag in ein paar Jahren aussehen wird.

In Shoreditch stellt die Industriedesignagentur „Map" Projekte vor, die sie gemeinsam mit Start-ups entwickelt und die per Crowdfunding finanziert werden.
Völker, hört die Signale: Russland huldigt auf der London Design Biennale dem Sowjet-Design.
Eidgenössische Eintracht: Der Schweizer Raum auf der London Design Biennale präsentiert Projekte, bei denen Designer und Ingenieure zusammenarbeiten.