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Springinsfeld am Arbeitsplatz: Ist es der „Swopper“ von Aeris, der hier die gute Laune verbreitet, oder die Musik aus dem Kopfhörer?

Orgatec 2016
Hopsen ausdrücklich erwünscht

von Thomas Wagner | 28.10.2016

Zappelphilipp oder Hopsen Sie mal wieder!

Der Morgen ist noch jung und die Hallen beginnen sich eben erst zu füllen. Die junge Frau am Stand von Aeris verbreitet gute Laune. Sie hat einen Kopfhörer aufgesetzt und wippt, hopst und schaukelt unablässig, heiter und selbstversunken auf ihrem „Swopper“ hin und her, auf und ab. So, denkt man, geht Büroarbeit heute. Keiner darf mehr mahnend sprechen: Hopsen sie doch nicht so! Als sie uns anschließend den „oyo“ vorführt (Slogan: „oyo rockt!“), eine Kombination aus Sattelsitz, Schalensitz und Schaukelstuhl, die ebenfalls dazu einladen soll, sich mehr zu bewegen und unterschiedliche Sitzpositionen einzunehmen, wird klar: Die Verhältnisse haben sich umgekehrt. Der Zappelphilipp aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“, Mitte des 19. Jahrhunderts ein Exempel mangelnder Disziplin und gescheiterter Erziehung zum Gehorsam, ist (abgesehen von der Katastrophe am Esstisch) zum Vorbild geworden. Orchestriert von Apellen zur Volksgesundheit und mahnenden Sprüchen wie „Sitzen ist das neue Rauchen“ und „Stehen oder Sitzen? Beides. Hauptsache gut“, bieten zahlreiche Hersteller längst nicht mehr nur ergonomisch optimierte Bürostühle, sondern massenweise bewegliche Hocker und Stehhilfen. Ein Meeting, bei dem alle Anwesenden hopsen und schaukeln, kann sich jeder selbst ausmalen.

Bongotrommel? Mitnichten. Es ist der Bewegungssitz „Stand-Up“ von Wilkhahn.
Still sitzen soll keiner mehr. Weder bei Interstuhl...
... noch bei Nurus.

Burkhard Remmers von Wilkhahn, wo man seit jeher großen Wert auf Ergonomie gelegt hat, sieht den Trend differenzierter und plädiert in Sachen Bewegung eher für eine „neue Pausenkultur“: „Während Pausen früher vor allem der Erholung von schwerer, körperlicher Arbeit dienten, geht es in Zeiten der digitalisierten Büroarbeit darum, den komatösen Bewegungsmangel bei der Bildschirmarbeit auszugleichen.“ Mittel, dem Koma zu entrinnen, sind nicht nur den Rücken stärkende und den Kreislauf in Gang bringende Bewegungssitze und Bewegungsobjekte wie Wilkhahns farbenfroher „Stand-Up“, sondern auch Angebote wie gemeinsames Joggen und Betriebssport in der Mittagspause, Besuche des Bewegungstherapeuten am Arbeitsplatz oder „Tanzen beim Lunchbeat“. Was auch immer man in Anspruch zu nehmen gedenkt, der Trend, Bewegung ins Büro zu bringen, hat sich rasend schnell verbreitet und scheint nicht mehr aufzuhalten zu sein. Das Projekt einer weiteren Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung hat längst auch den Körper des Büroangestellten erfasst. Das heißt es nicht mehr: „... und die Mutter blicket stumm auf dem ganzen Tisch herum“.

Wer mit dem Fahrrad ins Büro kommt, dem gefallen auch kreisrunde Trennwände, auf deren Rückseite man obendrein noch schreiben kann: Nendos rollendes Büro für den japanischen Hersteller Kokuyo.

Re-Individualisierung oder Die Rückkehr der Grünpflanze

Die Aussichten der Branche sind in der Tat rosig. Das liegt nicht nur am Trend zu mehr Spaß, Bewegung und Gesundheitsvorsorge. Seit weltweit Immobilienentwickler und -investoren die ökonomischen Vorteile offener und flexibel gestaltbarer Etagen entdeckt haben und im Grunde nur noch nackte Betonflächen samt universell nutzbarer Verkabelung anbieten, schießen flexible Nutzungskonzepte samt entsprechender Elemente geradezu ins Kraut. Feste Arbeitsplätze werden einerseits ganz abgeschafft, die Anzahl überhaupt zur Verfügung stehenden reduziert und durch Lounges, Kojen, Boxen, Sharing-Plätze, Schließfächer und Trolleys ersetzt. Andererseits gestalten die Mitarbeiter heute ihre Arbeitsumgebung immer häufiger zumindest mit. Nimmt man all das – samt dringend benötigter akustischer Dämmelemente, Sofas und Outdoor-Möbeln für die Terrasse – zusammen, so bedeutet es: Die Angebotspalette hat sich wesentlich erweitert. Was den Büroflächen an fixer Raumaufteilung verloren geht, wird per flexiblem Mobiliar nachgeholt, eingebaut oder umgebaut.

Idyll mit Topfpflanze: Bei König + Neurath werden Akustikpaneele zu multifunktionalen Einrichtungsgegenständen.
Fast wie bei der Bundeswehr: Dekorierte Kleinspinde für den stets einsatzbereiten Bürosoldaten bei König + Neurath.

Wer heute Büromöbel herstellt (und zunehmend eben auch andere Möbelhersteller), der bietet aber nicht nur Gesamtkonzepte an. Dass jeder Raum und jeder Arbeitsplatz mittlerweile im Rahmen eines Konzepts durchgestaltet wird, treibt freilich auch Blüten und bewirkt eine Wiederkehr des Verdrängten. So lässt sich im Bereich weniger avancierter Konzepte bereits wieder eine Rückkehr zur Individualisierung erkennen. Am Stand von König + Neurath („Die Werte Fabrik“) etwa, aber keineswegs nur dort, finden sich allerlei an die Schreibtische montierte Akustikelemente, an denen sich alles Mögliche anbringen und aufhängen lässt – beispielsweise ein Bügel für Mantel oder Sacco. Und in der Ecke der rechtwinkligen Abschirmvorrichtung steckt plötzlich wieder ein kleines Töpfchen fürs Grünpflänzchen.

Auch an das (nach dem Bildschirmschoner) einstweilen letzte Residuum der Individualität, die gestapelten Schließfächer, lassen sich mittels Magneten Urlaubspostkarten heften. Mit dem „K+N Balance Office“ feiert die Natur der Grünpflanzen und Stofftiere liebenden MitarbeiterInnen sodann vollendet ihre Wiederkehr, wenn der wuchtige Chefschreibtisch unter grünen, akustisch wirksamen Blätterschirmen im Kokon auftritt. „Der ganzheitliche Arbeitsplatz“, so heißt es von dem vierfach verstellbaren System, „lässt sich an die persönlichen Bedürfnisse anpassen.“ Die Werte, die derzeit nicht nur in der „Werte-Fabrik“ für Arbeit und Leben gelten sollen, hat man zum Memorieren schon mal auf Postkarten gedruckt: Zukunft, Gesundheit, Substanz, Ästhetik, Freude und Heimat.

Weshalb sollte die Arbeitswelt von Morgen keine Mischung aus Rückzugsort, Konferenzraum und Kaffeehaus sein? – „The Smart Coworking Lobby“.

Co-Working oder Arbeiten Sie doch wo sie wollen!

In früheren Zeiten waren es vor allem Literaten, die, ob in Berlin, Wien, Prag, Budapest oder Paris, gern in Kaffeehäusern, Bistros, Hotellobbys oder Bars arbeiteten, redeten, tranken. Heute, da jeder, ermöglicht durch Smartphone, Tablet und Laptop, überall „online“ und verfügbar ist, immer unterwegs und am Telefonieren und Mailen ist, wächst der Bedarf für Orte des sogenannten „Co-Working“. Die Elemente – von der Kaffeebar bis zum Konferenzkubus und von der Sitzecke bis zum runden Tisch – zum Ensemble vereint hat auf der Messe Michael O. Schmutzer, Gründer und CEO von „Design Offices“ (mit Standorten in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, Hamburg, Köln, München, Nürnberg und Stuttgart), in der Sonderschau „the smart coworking lobby“. Gerade weil hier recht eklektisch vorgegangen wird, zeigt dieser Prototyp einer Bürolandschaft, wie der Co-Working-Gedanke künftig mit dem kommunikativen Ort einer Lobby und den Möglichkeiten der Digitalisierung zusammenwachsen wird. Auch hier gilt: Ob einem das schmeckt oder nicht, der zeitgenössische Arbeitsnomade, gleichsam die vernetzte Variante des Wanderarbeiters, wird solche Orte mehr und mehr nutzen müssen. Was insofern interessant zu beobachten sein wird, als es dem Firmenbüro eine weitere, halböffentliche Variante der Arbeitswelt von morgen hinzufügt.

Kein Freizeitvergnügen: Am Eingang der von Vitra kuratierten und größtenteils bespielten Halle auf der Orgatec wird klargestellt, worum es hier geht.
Selten war es so leer wie hier: die Vitra-Halle erfreute sich großer Beliebtheit.

Work oder Einfach arbeiten

„Work“ – nur dieses eine Wort leuchtet einem am Eingang zu der Halle entgegen, in der Vitra seine eigenen Konzepte, Kollektionen und Projekte vorstellt. Hier, in einem Ensemble, das einem Stadtraum nachempfunden ist und aus Straßen, Plätzen, einem Restaurant und diversen Ständen besteht, will man der Frage nachgehen, „wie dynamische Räume aussehen, die dem heutigen Verständnis von Arbeit und ihrer Bedeutung in unserem Leben und unserer Kultur gerecht werden“. Dass man dabei nicht die Absicht hat, dem Fortschritt in den Arm zu fallen und seiner Dynamik bremsend entgegenzuwirken, versteht sich von selbst. Das Ganze wirkt auf den ersten Blick denn auch hell und freundlich, wie eine Messe in der Messe, bleibt aber sehr auf Vitra und das nicht eben originelle Thema „Collage Office“ fixiert, auch wenn andere Hersteller aus dem Umfeld wie Dinesen und Kvadrat, Laufen und Swisscom – und am Ende sogar Mercedes-Benz – mit von der Partie sein dürfen. In ihrer Anmutung gibt sich die Halle also urban, aber eben auch etwas abstrakt und nichtssagend. Wie eine große Vitra-Halle eben.

Das Büro – Eine Betrachtung: Irgendwo zwischen Café-Bar und Geschichte sucht das Arbeiten nach den Räumen, die es heute braucht.

Dabei wäre eine Fundierung in der Geschichte des Büros (sie findet nur in einer ausliegenden Zeitung statt) und eine erkennbare Zuspitzung konkurrierender Konzepte (in Ansätzen erfolgt sie in der aktuellen Broschüre „Workspirit 14“) nicht nur wünschenswert gewesen, sie hätte dem selbst formulierten Anspruch entsprochen. Ob eine stilisierte Stadt als „Inspirationsumgebung für Architekten, Designer und Entscheidungsträger“ und als „Plattform zum Austausch und zur Diskussion neuer Ideen“ genügen, sei dahin gestellt. Wer aber pauschal von einem „heutigen Verständnis von Arbeit“ spricht und vorgibt, ein solches abzubilden, der übersieht, dass genau darüber, ob es ein solch einheitliches Verständnis überhaupt gibt, zu diskutieren wäre. Auch und gerade mit Blick auf die Ideologie des Silicon-Valley und ihre Folgen für die Arbeitswelt. So aber fehlt es dem hallenfüllenden Vitra-Ensemble an Ende an Wiederhaken und kulturellen Reibungsflächen, weshalb die Plattform bleibt, was sie per definitionem ist: ein übergroßer Messestand.

Alles nur eine Frage der Niveau-Unterschiede: Antonio Citterios Bürotischsystem „CDS“ für Vitra.
Endlich wie UB oder Die Rückkehr der gediegenen Bibliotheksatmosphäre: Arbeitsplätze aus Möbeln der Studie „Cylinder“ für Vitra von Ronan und Erwan Bouroullec.

Was neue Vitra-Produkte angeht, so hält man sich mehr oder weniger ans Bewährte: Barber & Osgerby stellen mit dem „Pacific Chair“ einen durchaus eleganten, aber nicht außergewöhnlichen neuen Bürostuhl vor; Antonio Citterios Bürotischsystem „CDS“ setzt auf die Ästhetik einer von solider Mechanik dominierten Industrie, zeigt bei den Befestigungselementen für Leuchte, Bildschirm und USB, was sich im Detail gewinnen lässt, bleibt aber schwerfällig. Und wer die als Gegenentwurf zum technoiden Büro gedachte Studie „Cylinder“ der Gebrüder Bouroullec betrachtet, der erkennt in den Sofas nicht nur eine Variante ihres „Alcove“ in der Highback-Ausführung, sondern in den Tischen auch den guten alten Leseplatz wieder – was beides keineswegs schlecht ist. Allein Konstantin Grcic weiß – vorgemacht hat er es schon bei dem inzwischen serienreifen „Hack“ – wie man einem experimentellen Workspirit treuzubleiben vermag, ohne sogleich ideologisch zu erstarren. Er setzt seine Untersuchungen zu einer „Superflexibility“ ebenso fort wie die zum Thema „Möbel als Ort“: Mit dem stapelbaren „Stool-Tool“ zeigt er ein multifunktionales Arbeitsmöbel fürs Büro des 21. Jahrhunderts, das Stuhl und Tisch in einem Volumen vereint; und mit dem „Chair Table“ aktualisiert er die Idee noch einmal auf ganz andere Weise. Man könnte sagen: Wenn schon ganz anders und flexibel gearbeitet werden soll, dann aber richtig.

Das „Stool-Tool“...
...und sein Schöpfer Konstantin Grcic.

Living in a box oder Offenheit hat ihre Grenzen

Nicht nur bei Vitra, wo man unter anderem die eigenen, in der Praxis erprobten Büros in Birsfelden nachgebaut hat, auch bei anderen Herstellern ist die Tendenz unübersehbar, der nun allseits propagierten Offenheit nicht nur Lounges, Sessel und Sofas mit hohen Lehnen und individuelle Rückzugsbereiche zur Seite zu stellen, sondern auch notwendige geschlossene Boxen für Konferenzen und konzentriertes Arbeiten. Die Zeiten des Cubicle-Office scheinen offenbar noch nicht ganz überstanden zu sein. Ergänzt wird das Halten von Angestellten in kleinen, mittelhoch abgeschirmten Schreibtischboxen nun aber von einem Konzept, das man als temporäres Leben in der Box bezeichnen könnte. Hier und da stößt man zwar noch auf hohe konische Zylinder, heimelige Kreissegmente oder Jurten ähnliche Kojen, quantitativ aber dominiert eindeutig die kubische Box mit oder ohne gläserne Tür.

Boxenstopp: Séparées in der Vitra-Halle.

Konzepte statt Möblierung oder Wie wollen wir eigentlich arbeiten?

In Büros geht es heutzutage nicht mehr allein ums Einrichten, sondern darum, über die vielfältige und variable Möblierung offener Etagen neue Arbeitskonzepte zu implementieren. Dazu passen neben Flexibilität, Gesundheitsvorsorge, Akustik und Effizienz auch Schließfach, Trolley und Home Office. Seit die neuen Konzepte das alte Büro und dessen standardisierte Abläufe zu Gunsten eines erweiterten Ortes sozialen Lebens verabschiedet haben, an dem zwar noch immer für Lohn gearbeitet wird, der aber auch Gelegenheit bietet zum Essen, Plaudern und Chillen, Hopsen und Tanzen, drängen immer mehr Möbelhersteller in der Markt. Nimmt man hinzu, dass individueller Wohnraum in den Metropolen immer teurer wird, avancieren wahlweise das entsprechend „gepimpte“ Büro in der Firma, der Co-Working-Space in der Stadt oder das auf eigene Kosten beheizte und mit Strom und Möbeln versorgte Home Office zum universellen Lebensmittelpunkt. Ob sich die gesunden, fröhlichen, kreativen und mit Tablet und Laptop effizient und prekär in Projekten organisierten Arbeitssklaven des 21. Jahrhunderts auf Dauer mit Schließfach, Trolley und Workbench zufrieden geben werden? Bad und Schlafzimmer sind noch frei – einstweilen.

Auch so kann man einen Arbeitsraum präsentieren: René Magritte hätte sich am Stand von Pedrali sicher wohlgefühlt.