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Lesen bildet 03
Der Geistesmensch und sein Weltblatt

von Thomas Wagner | 11.10.2016

Für Michael Angele ist die Sache klar: Für ihn ist Thomas Bernhard der ideale Zeitungsleser. Ausgerechnet der, werden die einen sagen, wie wunderbar andere. Angele meint mit „idealer Zeitungsleser“ aber keineswegs nur, „dass sich einer in ein Café setzt, nur um eine Zeitung zu lesen, egal, ob dieses Café nun in Wien oder in Gmunden steht“. Wenn er vom idealen Zeitungsleser spricht, meint er auch, „dass er dieses Café gleich wieder verlässt, wenn er darin nicht die Zeitung finden kann, die er lesen will“. Wobei wir wieder bei Thomas Bernhard wären, der für den Autor, wie könnte es anders sein, so etwas ist wie ein Kronzeuge in Sachen Zeitungsleser-Extremismus, auch wenn, wie Angele anmerkt, das Zeitungslesen in Bernhards Leben und Werk „leider schlecht erforscht“ sei.

Die berühmteste, ebenso leidenschaftliche wie komische Geschichte der Bernhardschen Zeitungslektüre-Leidenschaft oder Zeitungslektüre-Wut findet sich in „Wittgensteins Neffe“ und geht so: Als Bernhard während der Salzburger Festspiele unbedingt einen Artikel in der NZZ lesen wollte, die Zeitung aber in seinem Wohnort Ohlsdorf nicht zu haben war, machte er sich auf, zuerst nach Salzburg, dann, weil es das gewünschte Blatt auch dort nicht gab, weiter nach Bad Reichenhall, wo sie ebenfalls nicht zu finden war, dann nach Bad Hall und von dort nach Steyer. Am Ende war Bernhard durch ganz Oberösterreich gefahren. Wobei beim Leser von Bernhards autobiografischem Bericht, so Angele, weniger die Fahrt als der Satz hängen geblieben sein könnte, dass „ein Geistesmensch nicht an ein einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt“.

Womit, von welchen Situationen und Erfahrungen der zeitunglesende Flaneur Angele in der Folge auch berichtet und welche Geschichten von Zeitungslesern und Zeitungsleserrinnen er auch erzählt, fortan die bohrende Frage im Raum steht, ob es, wenn die NZZ immer und überall verfügbar ist, keine Geistesmenschen mehr gibt, „weil sich Geist nur dort bilden kann, wo Mangel, Abwesenheit und Aufschub ist“. Heute, im digitalen Zeitalter, ist das –naturgemäß – anders. Zudem gilt Angele Thomas Bernhard auch deshalb als der ideale Zeitungsleser, weil er eine Zeitung nicht einfach gelesen habe, um sich zu informieren, „sondern weil er sie auch las, um sich zu wundern, sich anzuregen, sich aufzuregen (das vor allem)“. Und genau darum geht es beim Zeitunglesen – sich zu wundern, zu ärgern oder anzuregen.

Angele argumentiert keineswegs kulturpessimistisch oder verfällt in Melancholie. Er erzählt, weshalb Zeitungslesen eine Sucht und eine Erregungskunst ist, weshalb es wichtig ist, dass eine Zeitung nicht einfach da ist, sondern man sie sich erst besorgen muss; dass wir, wenn wir eine Zeitung lesen, selten alles lesen, uns Artikel aufsparen und weshalb der Aufschub der Lektüre und das Sammeln von Zeitungen zu einer besonderen, vom Online-Lesen so verschiedenen Kultur führen. Oder er beschreibt, weshalb jemand im Urlaub alte Zeitungen oder Magazine liest, wie eine Zeitung den Blick weitet und weshalb Zeitungslektüre entschleunigend wirken kann.

Eine gewisse melancholische Tönung erfährt die Reise durchs Zeitungsuniversum dann aber doch. Denn längst scheint ausgemacht, dass über kurz oder lang von der Vielfalt der deutschsprachigen Zeitungslandschaft nicht viel zu retten sein wird. Angele macht keinen Hehl daraus, was er von dem überall zu beobachtenden „Trend zur totalen Verständlichkeit“ hält, weshalb Verstehenshilfen der Tod des leidenschaftlichen Zeitungslesens sind und weder Stilseiten noch eine Umbenennung eines Gesellschaftsteils in „Leben“ daran etwas werden ändern können. Weshalb, fragt Angele, heißt es „in der Werbung der „Zeit“ nicht ,lesen Sie die ,Zeit’’, sondern ,erleben Sie die Zeit’ als genüge das Lesen selbst nicht, sondern nur ein hochsinnliches, ganzheitliches Erlebnis, im Grunde genommen ein Wellnesswochenende.“

Wer nach wie vor mehrere Tages- und Wochenzeitungen liest, bemerkt heute schon, wie alle Blätter ständig mehr oder weniger dieselben Themen bewirtschaften wie Online-Medien. Also lässt Angele Revue passieren, was mit der Lebensform des Zeitungslesers verloren geht – von der Kaffeehausatmosphäre und der hervorragenden Tarnung, die eine Zeitung für den Menschenbeobachter darstellt, von der Tageszeitung als Gesprächsauslöser am Frühstückstisch bis hin zum Gefühl kosmopolitischer Weltläufigkeit: „Die Globalisierung zerstört die Milieus, das Kosmopolitische transzendiert sie“.

Als vorteilhaft erweist sich bei alledem, dass sich Michael Angele in beiden Welten auskennt, in Print- und Online-Medien gleichermaßen Erfahrungen gesammelt hat. Er hat bei den Berliner Seiten der F.A.Z. gearbeitet, war Teil der Chefredaktions-Doppelspitze der „Netzzeitung“ und ist heute stellvertretender Chefredakteur der Wochenzeitung „Der Freitag“. Sein Buch ist bewusst keine weitere Verteidigung der gedruckten Zeitung aus der Sicht eines professionellen Machers, sondern eine subtile Hommage an den Zeitungsleser und das geistige, manchmal durchaus skurrile Milieu, in dem vieles mehr als nur der Wunsch entsteht, schnell irgendwelche Informationen einzusammeln. 

Michael Angele
Der letzte Zeitungsleser

160 S., geb.
Galiani Verlag Berlin
ISBN 978-3-86971-128-7
16,00 Euro