top
Fünf Schiffe aus geriffeltem Sichtbeton: das neue Naturmuseum in St.Gallen.

Sensibelchen aus Sichtbeton

Das neue Naturmuseum in St.Gallen wirkt, als hätte man fünf Satteldachhäuser aufgeständert und mit geriffeltem Sichtbeton umhüllt. Präzise fügt sich der Neubau in eine heterogene Umgebung ein.
von Christian Holl | 16.01.2017

Bis Ende 2016 teilten sich in St.Gallen das Kunst- und das Naturmuseum der Stadt ein neoklassizistisches Gebäude aus dem Jahr 1877. Zweifellos kann diese Kombination von Naturwissenschaft und Kunst einige fruchtbare und bereichernde Perspektiven befördern und vor allem davor schützen, der einen Disziplin reflexhaft die Vermittlung objektiver Wahrheit zuzuordnen und die anderen darauf zu reduzieren, expressive Subjektivität auszudrücken. Beide Disziplinen folgen einer jeweils eigenen Logik, und gerade dieser Eigenlogik wegen ist das eine nicht richtiger als das andere, kann keine Disziplin allgemeine Gültigkeit und Verbindlichkeit beanspruchen.

St.Gallen von oben: Links taucht der Straßentunnel ab, rechts unten beginnt der Botanische Garten, in der Bildmitte St. Maria Neudorf.

Damit dieser jeweils relative Anspruch überzeugend formuliert werden kann, sollte er allerdings zeitgemäß vermittelt werden. Und daran haperte es in St.Gallen: Das alte Museumsgebäude war schon länger viel zu klein geworden, um Naturkunde und Kunst noch zeitgemäß gemeinsam präsentieren zu können. Nachdem die Idee einer Erweiterung des historischen Hauses am Veto der Bevölkerung gescheitert war, entwickelte die Stadt die Pläne für einen kompletten Neubau für das Naturmuseum. Insbesondere die finanzielle Unterstützung durch eine private Stiftung half dem Projekt: Von den knapp 40 Millionen Franken Baukosten trug die Stadt die Hälfte, die Stiftung steuerte 13 Millionen Franken bei, und der Kanton übernahm den Rest. Den Wettbewerb entschied Ende 2009 die Arbeitsgemeinschaft zweier Zürcher Büros für sich: Meier Hug Architekten und Armon Semadeni Architekten setzten sich unter 127 Einreichungen durch. Im Februar 2014 wurde mit dem Bau begonnen, und im November 2016 konnte das neue Haus feierlich eröffnet werden.

Mitten in der Zwischenstadt

Das neue Naturmuseum befindet sich auf einem Grundstück im Osten St.Gallens, wo die Stadt bereits einen deutlichen Zwischenstadt-Charakter aufweist. Das Umfeld wird von Sport- und Bildungseinrichtungen geprägt; Wohngebäude aus den 1950er-Jahren wechseln sich mit traditionalistischen Chalets ab. Das ist echte „Zwischenstadt“: Ein großer Supermarkt ist nicht weit und der Autobahntunnel, der einige Teile der Stadt unterquert, kommt hier wieder ans Tageslicht, nur wenige Meter hinter der breiten Ausfallstraße, die auch am Museum vorbeiführt. Der unterirdische Verlauf des Tunnels zeichnet sich im Gelände als Grünstreifen ab, über den hinweg sich nun das Naturmuseum und eine Kirche aus dem frühen 20. Jahrhundert gegenüberstehen. Einerseits bereichert der neue kulturelle Anziehungspunkt den Stadtteil, andererseits liegt auch der Botanische Garten in unmittelbarer Nähe – einer der wichtigsten Gründe für die Standortentscheidung.

Über dem Haupteingang formt der Baukörper ein Vordach.
In der Gebäudeecke liegt der Diensteingang.

Die Architekten haben einen Baukörper aus fünf unterschiedlich langen Schiffen mit Satteldächern vorgeschlagen, auf denen jeweils mittig über die gesamte Länge Oberlichtriegel aufgesetzt wurden. Die kompakte, kräftige Form und das große Volumen des Gebäudes wird durch diese Dachform sowie durch die Vor- und Rücksprünge der fünf Schiffe gegliedert. Auf diese Weise fügt sich der Bau gut in den heterogenen Kontext, der durch kräftige Einzelbauten, allen voran die Kirche, geprägt ist.

Sensibler eingefügt

Formale Bezüge werden zu den Wohnhäusern aufgenommen, wer möchte, kann auch die Form der Gewächshäuser des Botanischen Gartens wiederentdecken. Das mittlere der fünf Schiffe nimmt über den Grünstreifen hinweg die Zentralachse der Kirche auf – spürbar, aber dezent, denn im Gegensatz zur Kirche ist der Grundriss des Museums nicht axialsymmetrisch aufgebaut. Unter dem zur Straße hin auskragenden Obergeschoss findet sich eine Sitzbank, für die Bushaltestelle erübrigte sich so das Haltestellenhäuschen.

Wurde der Stadt im Jahr 1623 geschenkt: Ein vier Meter langes Krokodil legte den Grundstein für die naturhistorische Sammlung.

Zum zurückhaltenden Auftritt tragen die nicht nach einem strengen Raster angeordneten Fenster unterschiedlicher Größe mit Rahmen aus eloxiertem Aluminium ebenso bei wie die vorgehängte, nicht hinterlüftete Fassade aus Sichtbeton, in die mittels einer Matrize aus silikonähnlichem Kunststoff Kanneluren eingeprägt sind. Deren Vertiefungen sorgen für eine lebendige und insbesondere bei Sonnenlicht abwechslungsreiche Oberfläche. Wie die Form des Hauses selbst eröffnen auch sie diverse Assoziationen: Es reicht von den Pilastern des Gebäudes, das das Naturmuseum gerade noch beherbergt hatte, über andere klassizistische Gebäude bis zu den Säulen alter Tempel, die ja selbst auf Baumstämme verwiesen hatten.

Beton mit Produktionsspuren

Wichtig ist, dass dieser Beton nicht in einer Perfektion hergestellt wurde, die ihm seine Produktionsspuren nimmt, sondern dass Unregelmäßigkeiten an der Oberfläche in Kauf genommen wurden. So wird der Beton als Kunststein sichtbar und verweist damit auch auf die Ambivalenz dessen, was man im Museum als „Natur“ präsentiert bekommen wird.

Da ist es nur konsequent, dass sich die innere Organisation des Museums außen kaum ablesen lässt. Stattdessen entwickeln die Architekten jedes Element mit einer eigenen Logik. So bleiben die fünf Schiffe, die für die Außenwirkung so entscheidend sind, im Innern wenig prägend. Meist bewegen sich die Besucher quer zu ihnen durch das Gebäude, die funktionale Organisation ist ausgezeichnet gelöst, weil sie sich nicht dem äußeren Bild unterordnen muss. Der Eingangsbereich erschließt auf beiden Seiten Seminar- und Vortragsräume, die also auch vom Museumsbetrieb vollständig separat genutzt werden können.

Etwas bemüht wirkt nur die Rauminstallation, die dem Ökosystem Wald und dessen Bewohnern gewidmet ist.

Halbe Treppen nehmen die Geländeneigung auf und führen zu dem halbgeschossig erhöhten, großen Foyer mit Café, das bald um einen Außenbereich erweitert werden wird. Hier werden auf einer großen Wand Meilensteine der Museumsgeschichte präsentiert, darunter auch das vier Meter große Krokodil, das 1623 der Stadt geschenkt wurde und die Sammlung begründete, aus der das Naturmuseum hervorging. Nagelfluh, so etwas wie natürlicher Beton, wurde in Foyer und Eingangsbereich vor die Wände montiert, höher als ein Sockel, aber niedriger als der Raum und die Durchgänge, sodass er zwischen Wandbekleidung und Exponat changiert. Als Baumaterial der Region findet er sich in der Stadt an mancher Stelle wieder.

Szenografie und Ökologie

Erneut ein halbes Stockwerk höher beginnt das Museum, das auf drei offen miteinander verbundenen Ebenen angelegt ist und einen abwechslungsreichen Parcours aus kleineren und größeren, niedrigen und hohen Räumen und Nischen bietet. Ein Saal für Wechselausstellungen liegt auf der untersten Ebene, in der mittleren – wieder ein halbes Geschoss höher – findet sich in einem zweigeschossigen Bereich ein großes topographisches Modell des gesamten Kantons und auf der obersten Ebene erwartet die Besucher das Skelett eines Entenschnabelsauriers, das mit der Steinformation, die es teilweise noch umschließt, zehn Tonnen wiegt. Wie die meisten Exponate wird auch dieses Skelett ohne Schutzglas präsentiert, das verstärkt die direkte Wirkung und macht den Besuch gerade für Kinder und Jugendliche attraktiver.

Der szenografische Ansatz verknüpft narrativ Themen und Exponate, lediglich bei der ersten Station, die den Bären und dem Wald gewidmet ist, wirkt der Wechsel aus dem Einbau einer Höhle und abstrahierten Bäumen zu bemüht; dafür entschädigt allerdings das offene Nest mit lebenden Ameisen wieder. Insgesamt gelingt der Spagat zwischen der Unmittelbarkeit der Rauminstallationen und Distanz erzeugender Abstraktion.

Im obersten Geschoss werden Dinosaurierskelette gezeigt, die in der Region gefunden wurden.

Das oberste Stockwerk nimmt als einzige Museumsebene die gesamte Grundfläche ein und öffnet sich mit einer Galerie zum topographischen Modell; Große Fenster geben unverstellte Blicke auf die Umgebung frei. Das Dach tritt raumprägend in Erscheinung. Es ist aufwendig aus großen Stahlfachwerkträgern konstruiert und überspannt an seiner längsten Stelle 45 Meter stützenfrei. Für den Neubau wurde von Anfang an der in Schweiz gebräuchliche Minergie-P-Eco-Standard angestrebt, der nicht nur ein dem Passivhaus-Standard vergleichbaren Energieverbrauch voraussetzt, sondern auch den Einsatz gesundheitsverträglicher und ökologischer Materialien verlangt. Auf metallgedeckten Flächen wurden Photovoltaik-Elemente auf das Haus montiert, das von 17 Erdsonden mit Warmwasser versorgt wird. Dank des vielen Tageslichts kann der Gebrauch von Kunstlicht reduziert werden. Was pragmatisch erscheint, verknüpft sich aber auch mit den Inhalten des Museums und macht den Museumsbau sozusagen zum Teil der Ausstellung.

Wechselbeziehungen

Mit dem Neubau stehen nun 2.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche zur Verfügung. In einem Labor können Jugendliche experimentieren; rückseitig liegen Archiv, Werkstätten und Büros. Eine Ausstellungsstation geht speziell darauf ein, wie viel Energie die Herstellung der Dinge des täglichen Bedarfs kostet und wie man sich umweltverträglicher verhalten kann. Wie sich die Umwelt wandelt und welchen Einfluss der Mensch dabei hat, dass er immer gestaltend eingreift und nicht einer unveränderlichen Welt der Natur gegenübersteht, ist ein durchgehendes Thema im gesamten Haus. Der Freiraum zwischen Kirche und Museum zeigt sich derzeit noch als einfache Wiese, soll aber bald zu einem Park werden, der dann das Museum erweitern und mit dem botanischen Garten verbinden wird.

Während für das Naturmuseum der Neubau mit den nun sprunghaft gestiegenen Möglichkeiten, seine zahlreichen Exponate zu präsentieren, einem Befreiungsschlag gleichkommt, hat das Kunstmuseum mit der Sonderausstellung „The wondrous Museum of Nature“ auf den Auszug des Naturmuseums reagiert. Darin verknüpft der amerikanische Künstler Mark Dion Sammelleidenschaft, Naturbeobachtung und philosophischen Diskurs und öffnet dabei ein Feld möglicher Naturinterpretationen, die über die Wissenschaft hinausgreifen und Geschichte, Ironie, Humor und Gesellschaftskritik einbeziehen. Im Kunstmuseum zeigt er sein eigenes, ein zweites Naturmuseum. Vorerst bleiben Kunst- und Naturmuseum also auch an getrennten Orten miteinander verbunden. Hoffentlich erhalten sich die beiden Institutionen diese bereichernde Sicht aufeinander.

Naturmuseum St.Gallen
Rorschacher Strasse 263
CH-9016 St.Gallen
Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr, Mittwoch bis 20 Uhr

Ausstellung:
Mark Dion: The wondrous Museum of Nature 
Kunstmuseum St.Gallen
Museumstrasse 32 
CH-9000 St.Gallen
Bis 17. September 2017 Dienstag bis Sonntag 10 bis 17 Uhr, Mittwoch bis 20 Uhr

In der großen Ausstellungshalle im zweiten Geschoss steht ein topographisches Modell des gesamten Kantons.
Schnittmodell des Museums mit dem Geländeversprung und den fünf Dachfirsten, die den Gebäudekörper optisch aufbrechen.
Blickfang auf der Baustelle: Die prägnante Satteldachkonstruktion mit ihren Stahlträgern, die in Richtung der Kirche zeigen.