top
Eines der beliebtesten Hobbies der Menschen in Harbin ist das Eisfischen. Ob das neue Konzerthaus einmal ähnlich beliebt sein wird?

Winterharte Häuser 4
Oper im Eis

In Chinas kältester Metropole steht ein neues Konzerthaus, die Harbin Opera von MAD Architects. Den eisigen Temperaturen trotzt es mit dynamisch gekurvten Formen.
von Florian Heilmeyer | 06.12.2016

Wem der eigene Winter lang und dunkel vorkommt, der sollte auf jene Gegenden der Welt schauen, wo der Winter noch viel länger und dunkler ist. Da eignet sich zum Beispiel die Millionen-Metropole Harbin im äußersten Nordosten Chinas ganz gut: in nicht wenigen der langen Januarnächte fällt das Thermometer hier auf -40 Grad Celsius. Die eigentlich malerische Lage am Fluss Songhua Jiang verwandelt sich von November bis April in eine Eiswüste, über deren niedrige Büsche nur noch die kalten Winde pfeifen.

Die Harbin Opera liegt in ehemaligen Sumpfgebieten nördlich des Flusses Songhua Jiang.

Kein Wunder, dass dieser Ort erst seit knapp hundert Jahren überhaupt dauerhaft besiedelt ist. Erst 1898 wurde Harbin als Bahnstation der russischen „Transmandschurischen Eisenbahn“ gegründet, bis 1946 blieb sie ein relativ kleiner Außenposten des Russischen Reichs, wenn auch industriell erschlossen und immerhin mit einer guten Bahnverbindung. Dann kam Mao Zedong mit seiner Kommunistischen Partei und übernahm Harbin unter Duldung der russischen Regierung, die der kommunistischen Revolution im Nachbarland sehr wohlwollend zusahen. Nun entwickelte sich Harbin zum ersten großen industriellen Stützpunkt der KP in China. In der neuen Volksrepublik wurde die Stadt zur Provinzhauptstadt und Menschen aus den südlichen Landesteilen zur Stärkung von Industrie und Universität hierher umgesiedelt.

Lageplan: Die drei schneckenartigen Gebäude des Konzerthauses wurden als Teil der Parklandschaft entworfen.

Gerne kamen sie wohl nicht – und nach der Lockerung der Wohnbestimmungen kehrten viele flugs in ihre Heimatregionen zurück. Die Stadt musste also attraktiver gemacht werden. Es brauchte mehr Attraktionen als die Tigerfarm, in der knapp 800 Sibirische Tiger leben und auf ihre (gelegentliche) Auswilderung vorbereitet werden, und das von einer lokalen Brauerei veranstaltete Bierfest. So wurde Harbins eisiger Winter flugs zur Tugend erklärt und 1984 das Eislaternenfestival gegründet, das mittlerweile zum weltgrößten Festival seiner Art gewachsen ist. Nun kommen jeden Januar Teams aus der ganzen Welt, um überall in der Stadt gewaltige Skulpturen aus Eis und Schnee zu errichten. Darunter sind große Nachbauten berühmter Bauwerke, die durch vielfarbige LED-Ketten von innen beleuchtet werden können. Eine fragile, vergängliche Traumwelt, die die langen Nächte mit bunten Lichtern verkürzt.

In der Fassade führt ein öffentlicher Weg hinauf zu einer Terrasse, von der aus man einen schönen Blick auf die Stadt hat.

Eine neue Stadtkrone

Auch das neue Opernhaus der Stadt, von den in Peking ansässigen MAD Architekten entworfen und 2015 eröffnet, könnte aus der Ferne eine solche zerbrechliche Skulptur sein. Die sanften Spiralformen der drei Gebäude sind in der Landschaft weder im kurzen Sommer noch im langen Winter als Gebäude besonders leicht zu identifizieren: Wie eine große Schnecke oder eine silbrige Düne erhebt sich das bis zu 56 Meter hohe Konzerthaus aus dem ehemaligen Sumpf am nördlichen Flussufer mitten in einem ebenfalls von den Architekten gestalteten Park.

Denn in der Stadtentwicklung von Harbin ist das nächste große Ziel die Entwicklung der sumpfigen Inseln am Fluss. Harbin hat längst die Zehn-Millionen-Einwohner-Marke erreicht, und so sollen die durch das breite Flussbett getrennten Stadtteile nun auf künstlichen Inseln zusammenwachsen. Die Oper nimmt mit ihrem Park gleich eine ganze, eigene „Kulturinsel“ ein, deshalb sollte sie ganz explizit als eine Art von „Stadtkrone“ besonders gestaltet werden.

Runde Formen und der warme Lichtschein locken Besucher ins Innere.

Die vielfach gekrümmte Haut aus großen Fensterflächen und silbrigen Aluminiumpaneelen erinnert nicht nur an ein Gürteltier, sondern auch an Zaha Hadids Oper im gut 3.000 Kilometer entfernten Guangzhou. Sie entwickelt sich aber vor allem sanft ansteigend und scheinbar organisch aus den vom Wind zerzausten und von Eis und Wasser gebogenen Landschaften hier am Songhua Jiang: Die Kurven und dreieckigen Spitzen ihrer Oberfläche dienen nicht nur der spektakulären Form, sondern verhindern auch, dass sich hier allzu viel Schnee und Eis niederlassen können. „Die meiste Zeit des Jahres ist es in Harbin extrem kalt“, sagt Ma Yansong, Gründer und Chef von MAD Architekten. Der hatte zuvor – wen wunderts? – bei Zaha Hadid in London und bei Peter Eisenman in New York gearbeitet. „Also haben wir ein Gebäude entwickelt, dass im Winter ganz mit dieser Landschaft verschmilzt, wie eine aus dem Sumpf aufragende, weiße Schneedüne.“ Das Gebäude sei vor allem eine Antwort auf die „ungezähmte Wildnis und das frostige Klima“ in Harbin.

Auf dem Haupthaus bietet die Schnecke aus Glas und Stahl noch eine Dachterrasse mit Blick in den Sternenhimmel.
Im Längsschnitt ist gut zu sehen, wie sich das Gebäude auch unter der Parklandschaft weiter ausdehnt.

Mit oder ohne Schnee

Besucher erreichen das Gebäude entweder mit dem Auto oder zu Fuß, aber in jedem Fall über lange Stege, die das Gebäude wie Tentakel in seine Umgebung ausstreckt. Der gesamte Autoverkehr – Anlieferung und Besucherströme – erfolgt durch Tunnel, die von unten ins Gebäude führen. So bleibt die Wirkung der Parklandschaft auf die Fußgänger, die sich nähern, ebenso unverstellt wie der seltsam unwirkliche Eindruck der großen Schneckenhäuser, die sich aus dieser Landschaft emporstrecken.

Neben dem Hauptgebäude der Oper mit seinen beiden Konzertsälen mit insgesamt 2000 Sitzplätzen steht noch ein kleines Bürogebäude sowie – etwas beiseite gerückt – ein weiteres Haus mit Hotel, Restaurant und einer kleinen Ausstellungsfläche. Alle drei Gebäudeteile sind um einen künstlichen See herum angeordnet, Architektur und Landschaft bilden eine Einheit: Wo die sanfte Schräge des Hauptgebäudes den Boden berührt, beginnt ein öffentlicher Platz, der wiederum in einer Brücke mündet, die über den künstlichen See führt. Am anderen Ufer scheint aus dem Schwung des Hauptgebäudes das Hotel zu wachsen. Mit oder ohne Schnee sind die Gebäude kaum vom Park zu unterscheiden.

Im Inneren des Opernhauses dominieren amorphe Formen, viel Licht und warme Farbtöne.
1.600 Zuschauer finden im großen Saal Platz, dessen Zuschauerraum wie das Foyer aus organischen Formen entwickelt ist.

Warme Räume

In den Innenräumen überwiegen hingegen warme Lichter und die milden Brauntöne der Holzverkleidungen, die allerdings genauso spektakulär und „flüssig“ geformt wurden wie das äußere Schneckenhaus. Vom großen, mit einer großen Fensterfront weit nach außen geöffneten Foyer geht es in einen der beiden Konzertsäle. Nach neuesten Standards entstanden ein kleiner, rechteckiger Kammerkonzertsaal sowie ein großer Saal mit 1.600 Sitzplätzen. Die Sitze verteilen sich auf Parkett und Rang sowie auf einige Logen, die wie Baumhöhlen in der gebogenen Holzverkleidung sitzen. Der große Saal ist das Prunkstück des Gebäudes, akustisch auf dem neuesten Stand und für alle Spielarten des Musiktheaters ausgelegt, von westlichen Opern bis zu traditionellem chinesischem Theater. Der gesamte Raum ist weitgehend flexibel gestaltet und durch ein kleines Fenster an der Rückseite kann sogar Tageslicht eingelassen werden.  

Der aber vielleicht wichtigste Bestandteil des Entwurfs sind die öffentlichen Bereiche rings herum, in und auf dem Gebäude. MAD haben das Häuserensemble explizit als Herzstück des öffentlichen Parks entworfen. So ist nicht nur der große, zentrale Platz, der von zweien der drei Gebäuden umarmt wird, ein öffentlicher Ort, sondern esschlängelt sich auch in der Fassade eine kostenfreie, öffentliche Promenade fast bis zur Dachspitze hinauf. Aus 35 Metern Höhe können Besucher hier einen Blick über den Fluss auf die Lichter der Großstadt werfen. Jedenfalls wenn das Wetter es gerade zulässt.