Es gab in den letzten Jahren nur wenige Kataloge und Bildbände, die ich aufgeschlagen und atemlos von der ersten bis zur letzten Seite geradezu verschlungen habe. Die Publikation zur derzeit im Londoner Design Museum laufenden Ausstellung „Drawing Fashion" ist ein solcher Fall. Jede einzelne Seite dieses opulenten Bildbandes ist von so außergewöhnlicher Schönheit, dass ich kurz davor bin, all mein Hab und Gut zu versteigern und das so gewonnene Geld in ein Ticket nach London und erste Ankäufe für eine eigene Sammlung historischer Modezeichnungen zu investieren. Denn darum geht es sowohl in der Ausstellung als auch im begleitenden Katalog: Gezeichnete Haute Couture. „Drawing Fashion" versammelt Werke von achtzehn der bekanntesten Modeillustratoren von 1910 bis heute. Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf den ersten fünfzig Jahren des letzten Jahrhunderts und jede einzelne Illustration dieser Zeit übersteigt bei weitem die damals an sie gestellte Anforderung als Gebrauchsgrafik. Die lange schon geführte Diskussion über die Grenzen von High- und Low-Art erübrigt sich schlagartig beim Betrachten der Zeichnungen, Aquarelle und Gouachen, die Illustratoren wie Georges Lepape, André Edourd Marty oder René Bouché für Magazine wie die „Vogue", „La Gazette du Bon Ton" oder „Harpers Bazaar" schufen. Wenn das keine Kunst ist, heiße ich Anna Wintour! Lepapes grafisch reduzierten Arbeiten der zehner und zwanziger Jahre beispielsweise atmen in ihrer Reduktion auf mit einfachem sicheren Strich gezeichneter Figürlichkeit und grafischen Flächen, die, mal als Mantel, mal als Palmblätter die Zeichnungen plakativ strukturieren so eine klare und eigensinnige Schönheit, dass sie eher eine Stimmung als eine detailgetreue Abbildung eines Kleidungsstücks wiedergeben. Und dieses freie Umschwirren von Stimmungen, magischen Momenten und idealisierten Schönheitsvorstellungen findet sich in nahezu jeder Zeichnung dieses Buchs. Jedes Bild ein grandioser Auftritt! Mal verinnerlicht, mal beschwingt, mal eitel, mal bescheiden, aber immer weit mehr als die Summe seiner Teile. Selbst die sich unmittelbar am Kleidungsstück orientierenden Zeichnungen eines Bernard Blossac aus den fünfziger Jahren sind losgelöst von ihrer Funktion als Gebrauchsillustration - wundervolle Liebeserklärungen an Faltenwürfe, knisternde Stoffe und die Idee eines verfliegenden Parfums auf blasser Haut. Antonios Illustrationen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre atmen deutlich den Geist des jeweiligen Jahrzehnts und sind dabei wundervolle und vielfältige Zeitdokumente eines Glaubens an Inszenierung, Zwanglosigkeit und Populärkultur, durchzogen mit Verweisen auf Künstler wie Roy Lichtenstein, Andy Warhol, Fernand Léger und Salvador Dalí. Hummer werden an der Leine geführt, Raketen starten ins Weltall und schwanenhälsige Schönheiten posieren wie exotische Aliens vor funkelnden Galaxien, in der Gewissheit, mitten in der wundervollsten Zukunft zu leben. Eine Zukunft, die heute so ganz anders und so viel weniger optimistisch daherkommt, und die wohl irgendwann Mitte der achtziger Jahre endgültig zu Ende ging. Was jedoch nicht bedeutet, dass mit dem Glauben an eine verheißungsvolle Zukunft auch die Schönheit der Modeillustration verglüht wäre. Illustratoren wie Mats Gustafson und François Berthoud bilden seit den neunziger Jahren in gedeckten Farbpaletten die Entwicklung der zeitgenössischen Mode in Aquarelle, Monotypien und Emaillearbeiten ab. Bei der Auswahl der Illustrationen fällt auf, dass die oft beschwingt-eleganten Blätter der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts nach einer Phase der großen Geste und Theatralität nun, im beginnenden neuen Jahrtausend, von dunklen, fast durchgehend monochromatisch grau-schwarzen Bildwelten abgelöst werden. Formen werden zusehends verwischt, werden zu Silhouetten oder lösen sich gänzlich auf. Kaum noch findet sich ein Gesicht in den zeitgenössischen Illustrationen. Mats Gustafsons auf wenige klare Striche reduziertes Porträt von Linda Evangelista aus dem Jahr 1999 fällt schon fast angenehm heraus aus einer langen Reihe anonymer Formen, die den Menschen aus der von ihm gemachten Welt der Inszenierung und Überhöhung herausnimmt. Der Zauber, den diese zeitgenössischen Blätter durchaus auch besitzen, ist ein schwermütiger Moment, eine fast wehmütige Erinnerung an immer flüchtiger werdende Identitäten und ein Erkennen von zunehmender Bruchstückhaftigkeit. Und wer weiß schon, was die Zukunft bringen wird? Jetzt jedenfalls ist die Zeit und den nächsten guten Buchladen zu laufen und sich dieses großartige Stück Zeitgeschichte zu kaufen. Es erzählt so viel über die letzten hundert Jahre wie ein gutes Geschichtsbuch, und wenn man will, noch viel viel mehr. Zum Beispiel imaginäre Geschichten über große Feste in lauen Sommernächten, Spaziergänge an kalten Wintermorgen, duftige Picknicks an Frühlingsnachmittagen und Ausflüge an goldenen Herbstabenden - und was man dazu tragen könnte, damit das alles noch viel schöner wird, als es jemals in Wirklichkeit sein kann. Und das auf 240 Seiten, die man daheim im kuscheligsten Winterpulli an der bollernden Heizung durchblättern darf. Der Winter wird wundervoll, und „Drawing Fashion" hilft dabei! Go, get it! Drawing Fashion
Herausgegeben von Joelle Chariau, Colin McDowell und Holly Brubach
Hardcover, 240 Seiten, englische Sprache
Prestel, München, 2010
59 Euro
Palmblätter, Aliens und Hummer an der Leine
von Richter Claus | 09.12.2010
Alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark