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Katalysator für urbane Prozesse: „The Missing Link Jacket“ mit Haltegriffen für wankelmütige Mitfahrer in U- und S-Bahn von Eli Elysée, New York. Foto © Jonathan Riley
Revitalisierung auf Knopfdruck
von Jochen Stöckmann
13.12.2013

„Die Platzwunde“ nannte jüngst ein Lokalreporter den Berliner Alexanderplatz, weil dort Gewalttaten alltäglich geworden sind. Anwohner erhoffen sich Abhilfe durch „Open-Air-Konzerte und Benefizveranstaltungen“, die Politik plädiert für einen „hochwertigeren Weihnachtsmarkt“. Und der Sprecher einer „Clubcommission“ fordert „kreative Hotspots" wie Galerien oder Clubs: „Das hätte positiven Einfluss, es würde das gesamte Areal bereichern.“

Das sind Schönheitspflaster, Ansätze einer allenfalls kosmetischen Stadtreparatur. Ganz sicher aber darf man mehr erwarten, wenn die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt zur „Urban Intervention“ aufruft – und diese hoffentlich radikalen, also das Übel an der Wurzel packenden Eingriffe mit einem Preis auszeichnet. Europaweit wurde der 2010 erstmals vergebene „Urban Intervention Award Berlin“ ausgeschrieben, jetzt hat Senatsbaudirektorin Regula Lüscher als Vorsitzende der Jury die Auswahl unter 240 Wettbewerbsbeiträgen aus insgesamt 20 Ländern vorgestellt.

Ausgesprochen putzige Projekte sind darunter, etwa Eli Elysées „Missing Link Jacket“ mit Haltegriffen für wankelmütige Mitfahrer in U- und S-Bahn oder Maciej Chmaras und Ania Rosinkes charmante Erfindung „Mobile Hospitality“, eine Schiebkarre mit Tisch und Kücheneinrichtung für das Gastmahl mitten in der Stadt. Ebenfalls unabdingbar für eine urbane Eingreiftruppe: das „Steel City Sound System“ von Studenten der Kunstuniversität Linz unter Leitung von Prof. Lukas Feireiss. An zwei Stangen wird der mit barocker Bauernmalerei verzierte Ghettoblaster durch die Innenstadt getragen wie bei einer religiösen Prozession – als Audioaltar soll er „auf Knopfdruck“ mit Live-Show und DJs jeden noch so verödeten Platz revitalisieren. Wer’s glaubt ... Alle anderen aber werden sich nicht weiter daran stören. Es ist ja der Vorzug temporärer Interventionen, dass die urbanen Versatzstücke bei Nichtgefallen schnell wieder verschwinden.

Außerdem geht es beim „Urban Intervention Award“ kaum um gestalterische Qualität oder Ästhetik formvollendeter Architektur. Wichtig sind für Senatsbaudirektorin Lüscher die „soziokulturellen Aspekte“, also gemischte Nutzungskonzepte oder die Kooperation unterschiedlicher Akteure aus Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Als Katalysator für diese urbanen Prozesse können schlichte Holzkisten mit Grünpflanzen und rostige Metallverstrebungen als Rankhilfe dienen – mehr „Architektur“ braucht der „Lucas Community Garden“ von Urbaniahoeve in Amsterdam nicht. Und um Un-Orte wie die Ruine eines Berliner Obdachlosenasyls durch die positive „Vision“ einer Sommerwerkstatt zu revitalisieren, genügt ein Behelfsdach aus alten Regenschirmen und ausgemusterte Autoreifen als Sitzgelegenheit für diesen Ferientreffpunkt für Schulkinder.

Mit sehr viel mehr technischem Aufwand hatte der Pavillon des BMW Guggenheim Lab, entworfen von den Architekturbüros Atelier Bow-Wow (Tokio) und Magma (Berlin), im Sommer 2012 in den Berliner Alltag eingegriffen. Für die Juryvorsitzende Lüscher eine „kleine Kommunikationsmaschine“, die mit transparenten Metallpaneelen überdies „schön gestaltet“ war und mitten im Kreuzberger Gentrifizierungsstreit „vandalensicher“ als temporärer Ort der Begegnung eingesetzt werden konnte.

Der erste Preis in der Kategorie „Temporary“ ging dann aber an ein weniger aufwendiges Projekt, die im Rahmen der Rotterdamer Architekturbiennale „Making City“ errichtete Behelfsbrücke Luchtsingel in der „Test Site Rotterdam“ vom interdisziplinär arbeitenden Büro ZUS (Zones Urbaines Sensibles, Rotterdam). Mit diesem hölzernen Steg wird dem nach der Finanzkrise darniederliegenden Viertel wieder auf die Beine geholfen. Finanziert wurde die Wiederbelebungsmaßnahme nicht etwa von der Kommune, sondern durch „Crowd Funding“.

Was nach Bankrotterklärung der Städtebaupolitik aussieht, gilt der Berliner Senatsbaudirektorin als Beweis dafür, „dass Städte sich mit Eigeninitiative, auch mit privatem Geld entwickeln. Aber die andere Seite der Medaille ist: Für diese „Bottom-up“-Planung müssen sich Menschen engagieren. Und diese Menschen müssen dann irgendwann einmal verstehen, dass jetzt andere kommen und diese Orte übernehmen.“

In diesem Gerangel um die besten Orte der Stadt mischen ganz vorne die Baugruppen mit: Organisiert in der Art kleiner Wohnbaugenossenschaften suchen vor allem Familien der gehobenen Mittelschicht ihre individuellen Vorstellungen einer Integration von Wohnen und Arbeiten zu realisieren. Das wird Schule machen, und dafür hat die „Deutsche Wohnen AG“ erstmals den „Urban Living Award“ vergeben. Darum bewarben sich mit dem „haus h“ von Nägeliarchitekten (Berlin), in dem Privat- und Gemeinschaftsräume ineinander übergehen, und mit der Stahlbetonkonstruktion „R50“ mit offen verlegter Infrastruktur und umlaufenden Laubengängen vom Institut für angewandte Urbanistik (IfaU, Berlin) in Zusammenarbeit mit Designprofessor und Künstler Jesko Fezer von der HFBK Hamburg gleich mehrere Baugruppen aus Berlin.

Städtebaulich bedeutsamer scheint allerdings der Umgang mit den Altlasten des sozialen Wohnungsbaus, etwa in der Kölner Siedlung „Buchheimer Weg“. Dort haben die Architekten von ASTOC (Köln) die monotonen, mehrgeschossigen Wohnmaschinen wie mit einem Skalpell eingeschnitten und ganze Gebäudeteile nach innen geklappt. Entstanden sind durch diese geschickte Operation begrünte Zwischenräume und ansehnliche Fassaden.

Das aber reichte ebenso wenig für den „Urban Living Award“ wie Jean Nouvels ungewöhnliche, einem Industriekomplex ähnelnde, aber mit bedarfsgerecht differenzierten Grundrissen ausgestattete Wohnsiedlung im französischen Lormont. Stattdessen ging der erste Preis an das österreichische Büro Gaupenraub für einen gestalterisch unauffälligen Umbau in Wien, das „VinziRast“: Hier leben Studenten zusammen mit Obdachlosen, im Erdgeschoss gibt es ein Restaurant. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass in Berlin derzeit 10.000 Obdachlose vermutet werden, ließ sich die Jury auch hier von der positiven „soziokulturellen“ Ausstrahlung überzeugen. Damit aber gerieten unkonventionelle Lösungen oder ästhetisch attraktive Architektur-Ansätze ins Hintertreffen.

So hatte in der Kategorie „Built“ eine architektonische, die Gestalt eines ganzen Stadtteils prägende Großform wie „Metropol Parasol“ von Jürgen Mayer H. keine rechte Chance, obgleich die schirmartige, im historischen Zentrum von Sevilla aufragende Holzstruktur im Katalog ausdrücklich als „das neue Wahrzeichen von Sevilla“ annonciert wird.

Gefragt waren dagegen „Best Practice“-Lösungen ohne allzu spezifischen Bezug zur jeweiligen Stadt, also möglichst auf andere Orte übertragbar. Beispielsweise Jakub Szczesnys „Keret House“ in Warschau, komplett mit Schlaf- und Waschgelegenheit und Arbeitsplatz, mit dem auf einer Breite von kaum einem Meter jede noch so kleinste Baulücke gefüllt werden kann.

Prämiiert wurde schließlich Daniel Dethiers Umbau eines leerstehenden Multiplexx-Kinos in Lüttich. Zur Umrüstung des tristen Betonklotz in Hörsäle der Universität trug auch ein Künstler bei: Jean Gilbert malte das Gebäude im Innern rot aus. Außen bleibt von dieser Signalwirkung nicht viel, im Erdgeschoss ist die Allerwelts-Brasserie „Le Britannique“ eingezogen – neben einer McDonalds-Filiale. Business as usual also, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht.

Ausstellung zum „Urban Intervention Award“
Noch bis 29. Januar
Flughafengebäude Tempelhof / Alte Zollgarage,
Platz der Luftbrücke,
12101 Berlin
täglich von 13 bis 19 Uhr
www.tempelhoferfreiheit.de

Platz 1 in der Kategorie “Temporary”: Test Site Rotterdam, Architekten: Zones Urbaines Sensibles (ZUS). Foto © Ossipvan Duivenbode
Platz 1 in der Kategorie „Built“: Umnutzung eines Kinos in einen Universitäts-Hörsaal in Lüttich (Belgien), Architekt: Daniel Dethier (Dethier Architecture) in Zusammenarbeit mit Künstler Jean Gilbert. Foto © Serge Brison
Premiere des „Urban Living Award“: Platz 1 für „VinziRast“, Wien (Österreich), Architekten: Gaupenraub, Wien. Foto © Sebastian Schubert
Nominiert bei „Temporary”: „Steel City Sound System Movement“, Linz (Österreich), von Studenten der Studienrichtung „Raum & Designstrategien“ an der Kunstuniversität Linz, Leitung Professor Lukas Feireiss. Foto © Ulrike Asamer
Nominiert bei „Temporary”: „Sommerwerkstatt Wiesenburg“, Berlin, von Studenten der TU Berlin, Prof. Donatella Fioretti. Auftraggeber: Quartierfond „Soziale Stadt“. Foto © Marc Benjamin Drewes
Nominiert bei „Temporary”: BMW Guggenheim Lab, Berlin, Architekten: Atelier Bow-Wow, Tokio und Magma Architecture, Berlin. Foto © The Solomon R. Guggenheim Foundation
Nominiert bei „Urban Living Award“: „haus H“, Berlin, von Nägeliarchitekten, Berlin. Foto © Jan Bitter
Nominiert bei „Urban Living Award“: „R50“, Berlin, Architekten: ifau und Jesko Fezer, Berlin. Foto © Andrew Alberts
Nominiert bei „Urban Living Award“: Wohnsiedlung in Lormont, Lormont (Frankreich), Architekten: Habiter Autrement, Paris/ Ateliers Jean Nouvel, Paris. Foto © Philippe Ruault
Nominiert bei „Urban Living Award“: Siedlung Buchheimer Weg, Köln, Architekten: ASTOC Architects and Planners, Köln. Foto © Frank Warda
Nominiert bei „Built“: „Keret House“, Warschau (Polen), Architekt: Jakub Szczesny, Warschau. Foto © Bartek Warzecha
Nominiert bei „Built“: „Metropol Parasol“, Sevilla (Spanien), Architekten: J. Mayer H. Architekten, Berlin. Foto © Fernando Alda
1 Meter breit komplett mit Schlaf- und Waschgelegenheit und Arbeitsplatz: „Keret House“, Warschau (Polen). Foto © Bartek Warzecha
Und zum Schluss nochmal der 1. Preis in der Kategorie „Built“: der Hörsaal der Université de Liège“, Lüttich (Belgien). Foto © Serge Brison