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Gerne auch mal ausufernd: Rund 20 Arbeiten hat der Kurator Klaus Pohl für die Ausstellung im Hessischen Landesmuseum aus dem Werk des britischen Künstlers ausgewählt.

Stabile Instabilität

Jede Menge Dynamik im Blick: Unter dem Titel „Unnatural Selection“ zeigt der Bildhauer Tony Cragg in Darmstadt eine Auswahl seiner Plastiken.
von Anna Moldenhauer | 16.02.2017

Im historischen Großen Saal des hessischen Landesmuseums in Darmstadt haben die komplexen Plastiken von Tony Cragg eine ideale Bühne: Einst vom Architekten Alfred Messel entworfen, um eine umfassende Studiensammlung von Gipsabgüssen antiker Skulpturen zu zeigen, fällt von den hohen Fensterfronten viel Tageslicht in den sakral anmutenden Raum. Rund 20 Arbeiten hat der Kurator Klaus Pohl für die Ausstellung aus dem Werk des britischen Künstlers ausgewählt, von den achtziger Jahren bis in die Gegenwart, ergänzt um erstmals gezeigte neue Versionen der Plastiken „Versus“ und „Willow“ in Holz. Hinzu kommen Fossilien, die aufgereiht in Glasvitrinen am Kopf des Saals liegen: Tony Cragg selbst hat sie gesammelt, manche schon als Kind an der Südküste Englands, andere in Südfrankreich oder im niederrheinischen Mettmann. Mineralien wie Kalzite, dazu fossile Schnecken, Muscheln, ein Seeigel. „Eine Gewohnheit“, wie Cragg sagt. Einzigartige Formen, die als Versteinerungen zwar Teil einer vergangenen Epoche der Erdgeschichte sind, für den Bildhauer aber eine zeitlose Ästhetik und ungebrochene Faszination besitzen. 

Auch Tony Craggs Plastiken spielen manchmal auf urtümlich wirkende Formen an. Sie scheinen zudem geradezu in den Raum zu wachsen, oft meterhoch – zeitlose Formen, die organisch und wesenhaft wirken, so dass man beinahe wünschte, sie würden sich für einen Moment aus der Erstarrung lösen und sich zu drehen und zu winden beginnen.

Holz, Gips, Bronze: Tony Cragg beschäftigt sich mit Strukturen des menschlichen Körpers und in der Natur.

Tony Cragg hat für seine Ausstellung „Unnatural Selection“ mit Blick auf die naturkundliche Sammlung des Landesmuseums vor allem Werke mit Naturbezug ausgewählt, um sie in Korrespondenz zu Fossilien und Gesteinen zu stellen. Der Bildhauer bestaunt die Flora und Fauna, ist begeistert von deren Formen und Strukturen, und lässt sich davon inspirieren. Hin und wieder ragt auch einmal ein menschliches Ohr aus einer vielschichtigen Skulptur; oder das Profil eines Gesichts bildet sich an einer Stelle der Plastik aus, als seien Mensch und Natur in und mit der gestalteten Masse verwoben. Es ist die Mischung aus organischen und geometrischen Strukturen des Körpers, die ihn fasziniert.

Auf einfache Weise kategorisieren lassen sich seine Arbeiten trotzdem nicht. Cragg geht es nicht um die Form an sich: „Ich will nichts abbilden, nichts darstellen, nichts kopieren. Es ist ein Materialerlebnis, dem ich nachsehne“, sagt er. Wenn er zeichnet und anschließend ein kleines Modell anfertigt, bevor es an die eigentliche Arbeit an der Plastik geht, hat er kein klares Erscheinungsbild vor Augen: „Ich bin sehr häufig überrascht, wo ich im Prozess gelandet bin“. Und er fügt hinzu: „Im Grunde genommen ist das mein Leben, die Befassung mit der Sache.“ Die Oberflächen der Werkstoffe sind dabei für ihn essenziell. Für Cragg fungieren sie gleichsam als visuelle Wegweiser zu im Material verborgenen Realitäten. Es sei, so Cragg, ein zutiefst menschliches Bedürfnis, unter die Oberfläche von Dingen blicken zu wollen.

Festhalten, was man wahrnimmt

Einen Favoriten unter den Materialien, die er verwendet, hat Tony Cragg nicht. Holz, Metall, Glas, Gips, Marmor – alle haben eine Bedeutung für uns, erklärt er; jedes besitze seine eigene Tonalität, sei ein wenig wie ein Instrument in einem Orchester. Eine gewisse Breite von Ausdrucksmöglichkeiten wäre bei jedem von ihnen vorhanden, aber man könne die Flöte eben nicht durch eine Geige ersetzen – und beide sind ihm wichtig.

Cragg braucht das jeweilige Material mit seinen besonderen Eigenschaften und Widerständen, um in der Fülle von plastischer Möglichkeiten eine Ausdrucksform zu finden und um Wahrnehmungen, die für gewöhnlich flüchtig sind und bleiben, eine Gestalt zu geben. Das geht nicht ohne die innere Struktur des Materials und seine Beschaffenheit zu erforschen und die Plastik gleichsam aus diesem herauswachsen zu lassen. Also bestimmt er im Dialog mit dem Material Konturen, stapelt und verleimt Teile, separiert und fügt zusammen. Dabei gilt es beständig, eine Wahl zu treffen – ob Cragg eine Fossile findet oder sich für einen Werkstoff entscheiden muss. Die individuelle Selektion gehöre zu unserer alltäglichen Wahrnehmung und stehe im Gegensatz zu der Lehre des Darwinismus, der die natürliche Auslese unterstreiche, meint er, sei es in der Kunst, der Politik oder bei zwischenmenschlichen Beziehungen. Und er fügt hinzu: „Wir leben in einer Zeit, die kuratiert wird.“

Schon früh hat sich Tony Cragg mit den Materialen seiner Umgebung beschäftigt, Oberflächen und Formen industriell hergestellter Objekte untersucht. Oft stammten sie aus dem Müll. In Collagen hat er solche schlichten, in Serie produzierten Formen, oft farbige Objekte aus Kunststoff, aus ihrem angestammten Kontext und ihrer Funktion herausgelöst und zu bildhaften Assemblagen zusammengefügt – beeinflusst von Pop Art und Fluxus. „Die Industrie produziert eine langweilige, formverarmte Materialwelt um uns“, findet Cragg. Design, so Cragg, „ist für mich nicht individuell genug und auch inhaltlich zu schwach. Es bedeutet nichts, ist nur gefällig“. In der Bildhauerei aber lasse sich mittels menschlicher Aktivität eine Auswahl treffen, die sich gegen diese Formverarmung richte.

Tony Cragg „Unnatural Selection“
Hessisches Landesmuseum Darmstadt
bis 27. März 2017

Keine Gnade für die Massenproduktion: Die Industrie, findet Tony Cragg, „produziert eine langweilige, formverarmte Materialwelt um uns.“
Tony Cragg, „False Idols“, Gusseisen, 2011
Tony Cragg, „It is, it isn't“, Bronze, 2010
Tony Cragg, „Unnatural Selection“