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Attraktion und Diskussionsstoff: Mit dem von Vitra kuratierten Projekt „Work“ hat die Orgatec neue Präsentationsformen erprobt.

Orgatec 2016
Collagiert arbeiten

von Thomas Edelmann | 02.11.2016

Seitdem die Industrialisierung im 19. Jahrhundert Tritt gefasst hatte, war das Büro ein Ort der Ordnung und der stabilen Verhältnisse. Wie an den Fließbändern sollten Wiederholung und Gleichförmigkeit der Abläufe die Garanten von Berechenbarkeit und Fortschritt sein. Auf Außenstehende wirkten das Büro und seine Bewohner, die Bürokraten, zugleich Respekt einflößend und stets ein wenig realitätsfern. Als Max Weber zu Beginn des frühen 20. Jahrhunderts Merkmale der Bürokratie analysierte, beobachtete er dort die „rationale Pflege von Interessen“, innerhalb „der Schranken von Rechtsregeln“ und „nach allgemein angebbaren Prinzipien“. 

Arbeiten und Entspannen überall: Gepolsterte Sitz- und Lehngelegenheiten im „Garden“ des Projekt „Work“.

Den Paradigmenwechsel, der seitdem stattgefunden hat, beschreibt der Soziologe Zygmunt Bauman im Jahr 2000: „Arbeit hat ihren Ort gewechselt, vom Universum der Ordnung und Zukunftskontrolle ins Reich des Spiels. (…) Arbeit hat – ähnlich wie andere Tätigkeiten im Leben – inzwischen in erster Linie ästhetische Bedeutung. Man erwartet, dass Arbeit an und für sich befriedigend ist, man erwartet individuelle Belohnung, niemand fragt mehr nach den realen oder möglichen Wirkungen, die eigene Arbeit für die Brüder und Schwestern im Geiste der Menschheit haben könnte.“ Nach Bauman folgt dem Übergang vom „soliden“ zum „leichten Kapitalismus“ eine „Verflüssigung“ aller Lebensumstände. Bestehende Strukturen und Regelwerke werden liquidiert, abgeschrieben, mindestens aber bearbeitet und neu zusammengesetzt. Ob die legitimierende Kraft des Büros dabei eine Zukunft haben wird, ist derzeit ebenso offen, wie die Frage, worin diese Zukunft wohl bestehen mag. Heute sind aus den professionellen, hauptberuflichen Angestellten der Zeit Max Webers kundige Kreative geworden, die sich auf Zeit im Büro versammeln, um gemeinsam Projekte anzustoßen, selbst wenn ihr organisatorischer Zusammenhalt zeitlich begrenzt ist.

Offen, intim und flexibel: Die gemischte Zone der „Homebase“ mit wohnlichem Möbelmix gibt unterschiedlichen Arbeitsanforderungen Raum.

Von der Orgatec in Köln, der bedeutendsten Büromöbelmesse, wird erwartet, nicht nur Produkte von heute für morgen zu präsentieren, sondern auch realistische Szenarien, wie sich Arbeit künftig verändert und mit ihr der Ort, an dem sie verrichtet wird. Ein Messeveranstalter stellt für solche Zwecke meist besondere Foren bereit. Eines dieser Foren war dieses Jahr „Work“, ein Projekt des Möbelherstellers Vitra. In Kooperation mit Design-, Architektur- und Technologieunternehmen bespielte Vitra diesmal die gesamte Messehalle 5.2. Bereits seit Jahrzehnten liefert das Unternehmen einen ästhetisch-kulturellen Überbau, der auch anderen Mitspielern in der Branche zu Gute kommt. So stellte Vitra 1994 nicht nur das „New office“ von Antonio Citterio als eine offene, farbige, organische Büro-Stadtlandschaft aus Schreibtisch-Inseln mit laternenartigen Leuchten vor, sondern zeigte zugleich mit eindrücklichen Bildern in seiner Broschüre „Workspirit“, damals von Tibor Kalman gestaltet, was Sitzen in aller Welt bedeutet und wo und wie Menschen ihr Büro aufschlagen.

Die Ideengeber und Raumerfinder von „Work“: Designer Jonathan Olivares, Vitra-CEO Nora Fehlbaum und Architektin Pernilla Ohrstedt (v.l.n.r.).

Vitra hat die Debatte mit Begriffen wie dem „Collage Office“ geprägt, das wohnliche Aspekte in die Arbeitswelt einsickern lässt, oder mit der Idee von „Net’n’Nest“: das Großraumbüro brauche nicht nur die Vernetzung, sondern auch das individuelle „Nesting“, sprich Rückzugsorte. Produkte plausibel zu machen und ihr kulturelles Umfeld schlaglichtartig zu erhellen, gehört zu den besonderen Fähigkeiten von Rolf Fehlbaum, dem langjährigen Firmenchef und heutigen Verwaltungsrat von Vitra. Seine Nachfolgerin an der Spitze ist seine Nichte Nora Fehlbaum. Sie leitet das Familienunternehmen in dritter Generation. Sie baut auf der Grundlagenarbeit der vergangenen Jahrzehnte auf und setzt eigene Akzente: Regelmäßig werde das Ende des Büros angekündigt, sagt sie, da es neue Technologien erleichterten, überall und jederzeit zu arbeiten. „Das Büro ist aber nicht verschwunden. Weshalb? Weil das Bedürfnis nach realem, direktem Austausch ungebrochen“ sei und mit zunehmender Virtualisierung sogar steige. 

Übersicht des Projekts „Work“ in 3D: Das Architekten-Start-up Archilogic verwandelt für Planer wie Laien Grundrisse in virtuelle Räume.

In der rechteckigen Hallenfläche haben die von Vitra beauftragten Ausstellungsgestalter, die in London tätige schwedische Architektin Pernilla Ohrstedt und der in Los Angeles arbeitende amerikanische Designer Jonathan Olivares, eine große Ellipse, begrenzt mit Stoffbahnen, errichtet. Damit daraus eine „Inspirationsumgebung für Architekten, Designer und Entscheidungsträger“ wird, hat Vitra erstmals andere Unternehmen hinzugeladen. Zum Teil entstammen sie wie die Tocherfirma Artek oder der Kooperationspartner Wästberg dem unmittelbaren Netzwerk der Firma. Doch mit Bulthaup, Dinesen, Laufen, Mercedes-Benz, Ruckstuhl und Samsung waren auch bekannte Big Player mit am Start. Auch das dänische Textilunternehmen Kvadrat, von dem die gesamte Branche Möbel- und Vorhangstoffe bezieht, stellte mit in Halle 5.2 aus, ebenso wie die Akustikpanel-Tochter Kvadrat Soft Cells. Hinzu kamen Startups wie Archilogic, eine Firma, die Grundrisse digitalisiert und in virtuell begehbare Planräume samt Inventar verwandelt, sowie die Spezialanbieter Art Aqua (Grün und Wasser im Büro), Gantner (Zutrittskontroll- und Schrankschließsysteme) und Ideapaint. Die Swisscom führte vor, wie man die Verfügbarkeit freier Schreibtischplätze digital überwachen kann. 

Vielfalt als ästhetisches Präsentationsmuster: Kvadrat formt aus Stoffen seinen Messeraum.

Vitra selbst teilte seine Fläche in vier größere „Collage Offices“, eine rückwärtige Lounge und einen langgezogenen Bereich, auf dem Farb- und Materialkollektionen zu sehen waren, ausgewählte Klassiker sowie einige Neuheiten. Neu an alledem ist das kuratierte Zusammenspiel der Aussteller, zudem wohl weitere Mitspieler eingeladen waren. Dass Vitra präsentiert und kuratiert, für den formalen Rahmen und die Abstimmung sorgt, gefiel nicht allen Ausstellern außerhalb der Halle. Während viele Besucher dieses Konzept als innovativ erlebten, fürchten manche, dass die Besucherströme sich auf die neue Messe in der Messe konzentrieren. Dabei ist es diversen Teilnehmern der Orgatec auch an anderen Standorten gelungen, ihr Publikum zu finden, falls Konzepte, Ideen und Produkte stark genug waren. Anstelle von undifferenzierter Kritik wäre zu überlegen, wie sich ein solch kuratiertes Projekt verbessern ließe. Haben etwa die Mitaussteller eigene Beiträge für die große Collage zu bieten? Oder warum bleibt jeder in seinem abgezirkelten Quartier? 

Noch der Innenraum eines Automobils oder schon Büroumgebung? – Das autonome Forschungsfahrzeug „F 015 Luxury in Motion“ von Mercedes-Benz kombiniert technoide und wohnliche Ästhetik.

Vitra präsentiert sich als Superbrand, doch sind manche Neuheiten eher Updates, wie der „ID Chair“ von Antonio Citterio. Noch im Projektstadium befinden sich die raumgreifenden Holzmöbel „Cyl“ von Ronan & Erwan Bouroullec. Verglichen mit ihren Maßstäbe setzenden Anfängen bei Vitra („Joyn“, „Alcove“) wirkt das Programm ein wenig altbacken, wie aus der guten alten Zeit des statischen Kontors. Ein Bürostuhl wie „Pacific“ von Edward Barber & Jay Osgerby, der dank großer Polsterflächen nicht nur visuell für Ruhe im Büro sorgen soll und seine Mechanik versteckt, bedeutet einen eher evolutionären Schritt. Grcics Studien „Stool-Tool“ und „Chair-Table“ wünscht man baldige Realisierung.

Eleganz und Technik: Mit dem „AM Chair“ setzt Alberto Meda seine Reihe präzis gestalteter Sitzmaschinen fort.

Als kulturelles Moment bleibt eine besondere Form der Kooperation in Erinnerung, aber kein inhaltlicher Impuls. Wenige Co-Aussteller gehen so weit wie Bulthaup, die – inspiriert vom „Campus“-Konzept vieler Tech-Firmen – eine Wasserstelle als beiläufiges Büromonument vorstellten. Trägt der Begriff der „Social Collage“, den die Macher (etwa in der Vitra-Publikation „Workspirit“) einführen, tatsächlich? Gemeint ist damit, die Art wie wir „unser Arbeitsumfeld organisieren, Beziehungen, die wir zu Kollegen aufbauen, was wir essen, die Musik, die wir vielleicht während der Arbeit hören“. Ihm gegenübergestellt wird das Wo, die Unternehmenskultur mit ihren gestalterischen Aspekten von Architektur und Innengestaltung einschließlich Möbeln, Materialien und Farben – kurz das „Collage Office“. Was aber bleibt von der Collage, die Vitra in seiner Halle auf der Orgatec zusammengestellt hat. Womöglich ist es wie im zeitgenössischen Büro: Man kommt zusammen, arbeitet und feiert und geht wieder auseinander. Auf zum nächsten Projekt. Wir sehen uns in zwei Jahren. Bis dahin wird die Collage rückabgewickelt. Den Messebauern sei Dank.

Brunnen als Treffpunkt: Die Wasserstelle, hier mit Aroma-Bar, sieht Bulthaup als Ort des Austauschs inmitten eines Unternehmens-Campus.
Analoger Grundriss: Laufen präsentiert seine Produktauswahl in kompakten Kabinen und mittels Spiegeln.