top

Münchner Provisorien

Das neue Volkstheater in München von LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei fügt sich subtil in den Quartiersbestand ein und dient gleichzeitig als kultureller Leuchtturm für ein angrenzendes Stadtentwicklungsprojekt.
von Alexander Russ | 10.02.2022

Volkstheater und München – das klingt wie füreinander geschaffen. Trotzdem musste das Münchner Volkstheater, dessen Geschichte auf das Jahr 1983 zurückgeht, seine Aufführungen über Jahrzehnte in einer umgebauten Sporthalle aus den 1950er-Jahren absolvieren. Mit dem Provisorium ging ein chronischer Platzmangel einher, der dazu führte, dass die Bühnenausstattung für jede Vorstellung aus 42 Containern außerhalb der Stadt angeliefert werden musste. Hinzu kamen Mängel beim Brandschutz, fehlende Barrierefreiheit und zuletzt die marode Gebäudesubstanz, deren Ertüchtigung sich als nicht wirtschaftlich erwies. Der Münchner Stadtrat beschloss deshalb, ein neues Volkstheater auf dem Schlachthofareal im Münchner Süden zu bauen. Dafür wurde 2016 ein Wettbewerb ausgeschrieben, den das Stuttgarter Architekturbüro LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei für sich entscheiden konnte. 2018 war Baubeginn und drei Jahre später konnte das neue Volkstheater termingerecht und unter Einhaltung der geplanten Gesamtkosten von rund 131 Millionen Euro fertiggestellt werden.

Das Gebäude befindet sich auf dem sogenannten Viehhofgelände, das Teil des Münchner Schlachthofs ist. Ziegelbauten prägen hier das Gesamtbild. Hinzu kommt der "Bahnwärter Thiel", ein Containerdorf südlich des neuen Volkstheaters mit Clubs und alternativem Kulturangebot. Der Neubau greift mit seiner Ziegelfassade das Erscheinungsbild der umgebenden Industriearchitektur auf und fügt sich wie selbstverständlich und nahezu unauffällig in den Ort ein. Dem plastischen Baukörper ist eine Höhenstaffelung eingeschrieben, die jeweils rückspringend die gebäudetechnischen Anlagen mit einer gefalteten Gitterkonstruktion als Fassade und den Bühnenturm mit einer semi-transparenten Membranverkleidung enthalten. Der Zugang erfolgt über einen Innenhof, der sich zwischen einem denkmalgeschützten Altbau auf der Straßenseite und dem neuen Theaterfoyer aufspannt. Ein großer Torbogen markiert den Eingang und verbindet den Bestand mit dem Neubau, der sich im Innenhof über ein großes kreisrundes Fenster und ein geschwungenes Fensterband nach Außen öffnet. Der Haupteingang schiebt sich als eingeschossiges Volumen in den Innenhof und bespielt zusammen mit einer gastronomischen Einrichtung im Osten den Außenraum.

Im Innern empfängt ein farbenfrohes Foyer die BesucherInnen, für das sich LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei an den Wandfarben im Goethehaus in Weimar orientierten. Die Stencil-Schrift an den Wänden, die durch das Gebäude leitet, lässt zudem Assoziationen an das Werk Le Corbusiers aufkommen. Das Mobiliar wie die geschwungene Garderobe, die Sitzbänke oder der Bartresen aus Ortbeton bespielen den länglichen Raum und bilden zusammen mit den Farbflächen, den runden Oberlichtern und der Gebäudegeometrie ein plastisches Ganzes. Eine halbovale Treppe führt zum Erschließungsbereich im Geschoss darüber, der als eingehängte Galerie visuell mit dem Foyer verbunden ist. Dort schafft eine große vorgelagerte Dachterrasse einen zusätzlichen Bezug nach Draußen und zum Innenhof. Der große Saal, der etwa 600 ZuschauerInnen Platz bietet, wurde von den ArchitektInnen als Black Box gestaltet, deren Wände ganz spielerisch mit selbstgebauten Leuchten aus Blumentöpfen versehen wurde. Hinzu kommen ein zweiter Saal mit 200 Sitzplätzen und eine Probebühne mit 99 Plätzen. Dahinter verbirgt sich die eigentliche Gebäudemasse mit Bereichen für die Produktion und den Aufführungsbetrieb, die mit ihrer industriellen Betonästhetik den größtmöglichen Kontrast zum farbenfrohen Foyer bilden. Hier sind Anlieferung, Lagerräume und Werkstätten untergebracht. Letztere öffnen sich auf der Westseite über bogenförmige Fenster zur Straße und geben so Einblicke hinter die Kulissen des Theaterbetriebs. Am beeindruckendsten ist der etwa 30 Meter hohe Bühnenturm, der mit seiner monumentalen Stahlkonstruktion eindrücklich das Verhältnis von repräsentativem Zuschauerbereich und Theatermaschinerie dahinter aufzeigt.

Das neue Volkstheater soll dabei auch als kultureller Leuchtturm für ein Stadtentwicklungsprojekt dienen, das auf dem Gelände des Bahnwärter Thiel entstehen soll. Anstatt Technoclubs in Containern sind hier zukünftig unter anderem Wohnbauten vorgesehen, die den eher rohen, subkulturellen Charakter des Quartiers verändern dürften. In diesem Zusammenhang könnte man ganz ketzerisch die Frage stellen, ob der subventionierte Theaterbau oder nicht doch das daran angrenzende Containerdorf mit seinen Clubs das eigentliche Volkstheater ist. Die gediegen-repräsentative Architektur von LRO Lederer Ragnarsdóttir Oei beantwortet diese Frage mit einem eindeutigen Nein und zeigt damit das Spannungsfeld zwischen administrativem Planungswillen und einer partizipativen Aneignung der Stadt auf. Aber wer weiß: nichts hält ja bekanntlich länger als ein Provisorium.