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Celine und Taran zogen 2011 mit in eines der Häuser in Segal Close.
Schon die Zugänge der Segal-Häuser entsprechen nicht dem typischen englischen Haus.

Leben mit Walter

Der Architekt Walter Segal entwickelte ein System, das es ermöglichte, das eigene Heim zu entwerfen und auch selbst zu bauen. So entstanden im Londoner Süden zwei Nachbarschaften, die es sich gerade in Zeiten angespannter Wohnungsmärkte lohnt, genauer anzusehen.
18.07.2017

"Walters Way" und "Segal Close" sind zwei ungewöhnliche Siedlungen im Südosten Londons: Hinter dichtem Grün blitzen statt des britischen Backsteins farbige Holzfassaden hervor. Kein Haus gleicht dem anderen – auch das darf man als London-untypisch bezeichnen. Allein die dunklen Holzrahmen sind allen zu eigen. Wer in Schubladen denkt, wird diese Bauten nicht so recht einsortieren können. Eine modernistische Gartensiedlung? Einst als temporär geplante Architektur, die sich verstetigt hat? Aussteiger-Wohnen im pragmatischen Holzbau? Oder doch ein wenig Kalifornien in England?

Es ist alles ein bisschen und noch viel mehr. Entwickelt wurden die Bauten von dem Architekten Walter Segal, entworfen und gebaut aber von ihren Bewohnern. Die Geschichte erzählt sich wie folgt: Zu Beginn der 1970er Jahre beschloss die lokale Wohnungsbaubehörde neue Wege in Sachen Wohnraum zu gehen. Zudem besaß sie Grundstücke, die aufgrund ihrer Beschaffenheit – zu hügelig, zu klein, mitunter zu viele Bäume – nicht für den konventionellen Wohnungsbau geeignet waren. Schon gar nicht, wenn dieser preiswert sein sollte. Und hier kam Segal ins Spiel: der Architekt entwickelte ein Systemhaus in Holzrahmenbauweise, das aufgrund seiner simplen Konstruktionsdetails und unkomplizierten Fertigungsmöglichkeiten dazu geeignet war, von Laien – zunächst unter Anleitung und begleitet von kurzen Lehrveranstaltungen – erbaut zu werden. Im Dezember 1976 wurden die Grundstücke der Siedlung "Segal Close" verlost, drei Jahre später begannen die ersten "Selbstbauer", ihre Häuser zu errichten. Der Erfolg bestätigte die Baubehörde. Und so kam später das Baugebiet "Walters Way" hinzu, das aufgrund seiner Topographie mit zweigeschossigen Bauten beplant wurde. Mit dem Bau des ersten Hauses in "Walters Way" wurde 1985 begonnen, 18 Monate später wurde es fertig gestellt.
 
Nun haben die Journalistin Alice Grahame und der Fotograf Taran Wilkhu – beide leben sie auch selbst in den Siedlungen – das 30-Jährige Bestehen der Siedlungen zum Anlass genommen, sowohl die Geschichte und wie auch die Bewohnerschaft der zwei tatsächlich besonderen Nachbarschaften in einem Buch zu dokumentieren. Adeline Seidel haben mit den beiden über das Leben mit Walter Segal gesprochen. 

In der Nachbarschaft "Walters Way" wurden nach Segals Methode zweigeschossige Häuser errichtet.
Die Konstruktionsdetails sind so simpel gehalten, dass man für den Bau noch nicht einmal Maschinen brauchte.

Adeline Seidel: Lebt es sich in einem Segal-Haus anders als in herkömmlichen Häusern? 

Taran Wilkhu: Meine Frau und ich haben die Selbstbauhäuser von Segal 2009 entdeckt, als wir an einem Tag der offenen Tür „Walters Way“ besuchten. Die moderne, geradlinige Ästhetik der Holrahmenbauweise, die Ausblicke, das Gemeinschaftsgefühl, die Grundrisse und die Nähe zur Stadt haben uns sofort begeistert. Und als wir dann 2011 die Gelegenheit hatten, unser eigenes Segal-Haus zu kaufen, war die Freude groß. Celine kommt aus der Schweiz, daher sind ihr Chalets und Holzhäuser ohnehin vertraut und ich habe in Japan gelebt, deswegen haben mir die kompakte Wohnform und die Nähe zur Natur sofort gefallen – und das unterscheidet sich stark von herkömmlichen englischen Reihenhäusern. Unser Haus in „Segal Close“ ist größtenteils auf einer Ebene angelegt, so etwas nennt man in England Bungalow, allerdings passt diese Kategorie so gar nicht zu unserem freistehenden Haus, das über die gesamte Grundfläche unterkellert ist und einen eigenen Garten besitzt. Die Segal-Methode ist ungeheuer zweckmäßig und durch den modularen Aufbau eröffnet sie eine erfrischende Flexibilität. Wenn ich eine bestimmte Eigenschaft unseres Hauses auswählen müsste, die ich besonders liebe, dann wären es sicherlich das Licht und die Ausblicke aus unserem Wohnzimmer. Erst nachdem wir in unser Segal-Haus eingezogen waren, ist mir klar geworden wie wichtig Licht für das persönliche Wohlbefinden ist. 

Alice Grahame: Segal-Häuser unterscheiden sich von den meisten britischen Häusern. Es gibt viel natürliches Licht. Sie sind flexibel und leicht den jeweiligen Bedürfnissen anzupassen. Innenwände können beispielsweise einfach entfernt werden, wenn eine offene Raumaufteilung gewünscht wird, da es sich nicht um tragende Wände handelt. Unser Haus in "Walters Way" hat einen offenen Grundriss. Andere haben mehrere kleine Räume. Alle Häuser besitzen zwar die gleiche Grundkonstruktion, unterscheiden sich aber voneinander, da Segal sich mit jeder Familie zusammengesetzt hat, um gemeinsam ein individuelles Haus zu entwickeln. Jedes der Häuser hat einen nach Süden ausgerichteten, eigenen Garten. Darüber hinaus gibt es gemeinschaftlich genutzte Flächen auf denen die Kinder spielen oder die Erwachsenen sich treffen können. Es ist eine sehr soziale Umgebung und die Nachbarn kennen einander. 

Ob Treppe, Tür oder Fenster, die Holzrahmenbauweise erlaubt enorme Freiheiten bei der Gestaltung der Wohnräume.

Was haben Sie an Ihrem Haus verändert, nachdem Sie eingezogen sind? 

Taran Wilkhu: Die Badezimmer – außerdem haben wir die freiliegenden Holzrahmen im Inneren des Hauses weiß gestrichen, um einen modern wirkenden, offenen Raum zu schaffen, der gut mit unseren Mid-Century-Möbeln harmonieren würde. Die größte Veränderung bestand in der Entfernung von Innenwänden, um die Toilette und das Badezimmer zu vergrößern. Außerdem haben wir an unserem Balkon Doppelfalttüren angebracht, so dass wir im Sommer an der frischen Luft essen können. 

Alice Grahame: Wir haben unser Haus mit Holzabfällen isoliert und die Fenster durch eine Dreifachverglasung ersetzt. Auf dem Dach gibt es eine PV- und eine Solaranlage. Außerdem wurde eine Fußbodenheizung installiert und das Haus insgesamt energieeffizienter gestaltet. 

Warum sollten wir Walter Segals architektonische Verdienste erneut würdigen, einmal abgesehen vom 30-jährigen Jubiläum dieser ungewöhnlichen Siedlungen? 

Taran Wilkhu: Als Architekt der Moderne hat Walter Segal für die Entwicklung der „Segal-Methode“ Respekt und Anerkennung verdient. Gemeinsam mit der Wohnungsbaubehörde konnten Laien ihr eigenes Haus bauen, ohne zuvor die so genannten "Nassarbeiten" wie „Mauerarbeiten, Verputzen und das Gießen von Zement“ erlernen zu müssen, die Segal für den Hausbau ohnehin als überflüssig betrachtete.  

Alice Grahame: Ich finde, Segal muss gewürdigt werden, weil er es ganz normalen Leuten ermöglicht hat, ihre eigenen Häuser zu bauen. Seine Häuser in Leichtbauweise sind anpassungsfähig und es ist eine Freude in ihnen zu leben. 

Die Segal-Häuser stechen nicht nur farblich aus ihrer Umgebung hervor.
Kein Haus gleicht dem anderen: Jeder Bewohner kann nach Bedarf die Architektur permanent verändern und seinen Bedürfnissen anpassen.

Sie haben Porträts der Bewohner, meistens vor ihrem Haus, aufgenommen. Außerdem haben Sie ihre Lebensweise und die Inneneinrichtung dokumentiert. Wie kamen Sie auf die Idee, diese Perspektive einzunehmen? 

Taran Wilkhu: Ich habe die Häuser von Walter Segal erstmals an jenem Tag der offenen Tür gesehen und ich dachte, es sei eine schöne Idee, das Buch auf eine ähnliche Weise zu gestalten. Die Bewohner der Häuser öffnen also ihre Türen und heißen den Besucher willkommen. Sie erzählen von ihrem Leben in einem Segal-Haus und anhand der Bilder lässt sich nachvollziehen wie jede Familie ihr Haus auf ganz individuelle Weise gestaltet hat. 

Haben Sie Personen angetroffen, die ihre Häuser tatsächlich noch selbst gebaut haben? 

Taran Wilkhu: Von den 7 Häusern in "Segal Close" sind die Kennedys in der Nummer vier die Letzten, die ihr Haus noch selbst gebaut haben. Sie erzählen oft,  dass sie keinerlei Erfahrung mitbrachten und lediglich einen siebenwöchigen Kurs an der technischen Fachschule vor Ort besucht hätten, um die Grundlagen von Elektrik, Klempnerei und Schreinerei zu erlernen. Das hatte sich Walter genauso vorgestellt: er wünschte sich Bewohner, die wenig Erfahrung hatten und motivierte sie offenbar auf großartige Weise. 

Alice Grahame: In drei von den 13 Häusern in Walters Way leben noch die Erbauer selbst. Sie haben wunderbare Geschichten über den Bau der Häuser zu erzählen, die auch in unser Buch aufgenommen wurden. Sie beschreiben wie sie bei jedem Wetter, den Winter hindurch, jeden Abend und jedes Wochenende an ihren Häusern gearbeitet haben. Dabei haben sie lediglich Handwerkzeuge benutzt. Es gab lediglich eine elektrische Säge für die gesamte Gruppe und keine Gerüste oder Leitern. Niemand Schutzkleidung und die Kinder liefen auf der Baustelle herum. 

Würde die Segal-Methode unter heutigen Bedingungen funktionieren?   

Alice Grahame: Ja. Ich glaube, diese Art von Häusern würde auch heute noch funktionieren, den viele möchten gerne ihr eigenes Haus bauen. Und die Segal-Methode erleichtert das. Die Häuser beruhen auf einem soliden  architektonischen Entwurf und es lebt sich gut darin. Die Bauvorschriften sind heute anders, insofern würden sich die Häuser auch unterscheiden. Wir haben zum Beispiel eine sehr schmale Wendeltreppe die jetzt in dieser Form nicht mehr genehmigt würde. Aber ich bin überzeugt, dass die Idee des Segal-Hauses sehr populär wäre, wenn mehr Leute sie kennen würden. 


Alice Grahame, Taran Wilkhu
Walters Way & Segal Close

232 S., geb., zahlr. Abb.
Park Books, Zürich 2017
ISBN 978-3-03860-049-7
38,00 Euro

Wilkhu blickt für das Buch in die privaten Räume der Bewohner. Das zeigt vor allem, die Wandelbarkeit des Segal-Systems.
Die Holzrahmen ermöglichen interessante wie kluge Lösungen in Sachen Stauraum – wie hier die Bücherbords unterhalb der Decke.
Und wer keine Holzrahmen sehen möchte, kann diese einfach verblenden.
Auch wie die Häuser beheizt werden ist allein eine Entscheidung der Eigentümer - und kann nach Bedarf auch wieder verändert werden.
Mitten in London: Günstiger Wohnraum mit reichlich Luft, Licht und Freiheit.