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Wieso gehen wir nicht im Schlafanzug einkaufen?
von Martina Metzner | 31.07.2013
Was ist schon untragbar? Die Studenten der HFK Bremen, wie hier Julia Preckel, haben Mode bewusst in andere Kontexte gesetzt, um ihre Funktion, ihre Ästhetik zu hinterfragen. Foto © Shushi Li, HFK Bremen

„Wer von Mode erwartet, dass sie einfach nur funktioniert, der hat nichts verstanden. Denn das Ausloten der Grenzen zum Unpassenden bildete schon immer eine wichtige Inspirationsquelle für die Gestaltung unserer Kleider. Und durch nichts lernen wir uns besser kennen als durch das Tabu.“, heißt es im Vorwort zu „Untragbar“, dass nicht nur die extravaganten Resultate des gleichnamigen Projektes der Hochschule für Künste in Bremen zeigt, sondern auch per se schon ein Experiment darstellt. Das Magazin lässt sich nämlich nicht wie gewöhnlich durchblättern, nein, man muss es mit Muße und viel Zeit betrachten und erst einmal die Technik des Entblätterns erkunden, um so die begleitenden Texte und die vorgestellten Projekte, 26 an der Zahl, in Augenschein nehmen zu können. Obwohl die Publikation zunächst im Format DIN A4 vor einem liegt, handelt es sich durch die Bindung an der rechten äußeren Seite doch um ein Heft in DIN A3. Das allein macht schon neugierig und man beginnt, die Sache genauer zu betrachten.

Annette Geiger, ihres Zeichens Professorin für Theorie und Geschichte des Designs an der HFK Bremen, hat dieses Projekt zusammen mit Joachim Baldauf, dem derzeit wohl bekanntesten Modefotografen Deutschlands, durchgeführt. Die gezeigten Arbeiten sind mehr als eine normale Modestrecke, mehr als das, was man selbst von Modehochschulen wie der ESMOD kennt, die sich gern experimentell betätigen. Das liegt auch daran, dass die Entwürfe eben nicht von Modedesignstudenten stammen, die später womöglich für Hugo Boss oder H&M und damit nahe am Kommerziellen arbeiten, sondern von angehenden Künstlern. Und die haben sich ihre eigenen Gedanken zur Mode im Spannungsfeld zwischen dem Praktischen und dem Untragbaren gemacht. Mode, so das Resümee, sei immer verhandelbar, und nur dadurch entstehe Entwicklung.

Die gezeigten Modeprojekte, die jeweils von einem Studierenden entworfen, arrangiert und gestylt wurden, gehen ganz unterschiedlichen Fragestellungen nach: Wieso gehen wir eigentlich nicht im Schlafanzug einkaufen wie in China? Wie kreiert man Mode aus einem Stück Stoff und dringt damit zur existenziellen Bedeutung der Bekleidung vor? Diktiert die Mode Männern und Frauen, was sie zu tragen haben und macht sie diese damit zu ihren Mündeln? Sogar Fragen wie diese werden erörtert: Wie kann Leibesfett zur textilen Hülle transformiert werden?

Die Projekte fallen naturgemäß sehr unterschiedlich aus. Ihnen gemeinsam ist, dass sie sich intensiv mit einer Fragestellung auseinandergesetzt haben, wodurch textile Hüllen entstanden sind, die jeweils für sich stehen, keinem Trend folgen und keinem speziellen Zweck dienen.

In den begleitenden Texten wird sowohl die Bedeutung des Untragbaren historisch hergeleitet als auch die Ästhetik der Modefotografie und der Inszenierung angesprochen, wie sie maßgeblich von Fotografen, Stylisten und Moderedakteure beeinflusst wird. Es sei diese Ästhetik, die der Mode ihre ganz eigene Realität verleihe und die Mode dadurch oft überhöhe. Mode sei also eine Kunstform, aber immer auch Spiegelbild der Gesellschaft, ihrer Kultur und ihrer Ästhetik.

In den 1990er Jahren hat die Modefotografie alles Schöne und Korrekte abgelegt. Der „Heroin Chic“ zeigte erstmals das wahre Gesicht hinter dem Hochglanz. Gezeigt wurden Bilder von zerwühlten Betten und abgemagerten Models, die nicht mehr fröhlich verlockend in die Kamera blinzeln, sondern traurig und verbraucht. Im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends kamen die „Streetlooks“ der Blogger hinzu – und Mode wurde plötzlich auf der Straße inszeniert, von jedermann und jederfrau. Obwohl, wie Joachim Baldauf im Interview in „Untragbar“ sagt, in der Mode viel stilisiert werde, so sei doch auch an dieser Modestrecke zu erkennen, dass eben auch der Alltag, das Ungeschminkte einen wesentlichen Beitrag zur Ästhetik dieses Projektes leiste. Womit das Magazin der HFK gar nicht so weit entfernt ist von derzeit progressiven Modemagazinen wie Love, ID oder Vice.

Haben wir nicht schon alles gesehen? Wo gibt es überhaupt noch Grenzen, wenn, wie heutzutage, alles erlaubt ist? Was vermag uns überhaupt noch zu provozieren? Vielleicht das Bild einer Dame in einer textilen Vagina-Hülle? Oder ein T-Shirt, aus dem ein Peace-Zeichen herausgeschnitten wurde, so dass die Trägerin fast vollkommen nackt dasteht, in ihrer Nacktheit geschützt allein durch ein Strickteil vor ihrer Scham? Zur Schau gestellte Nacktheit löst – obwohl in unserer Zeit allgegenwärtig – anscheinend immer noch Erstaunen aus. Oder, wenn wir zur Welt der Mode zurückkehren, Phänomene wie „Dandy Diary“, eine Modeltruppe aus Berlin, die Mode gerne mal im Schlachthaus inszeniert, Modepornos dreht oder Modells, wie jüngst, nackt über den Mailänder Catwalk von Dolce & Gabbana flitzen lässt.

Was das Gestalterische angeht, so wirken Projekte mit Namen wie „Vom Schnitt des Unschnitts“, „Wer frisst wen?“ oder „Walrossmaenner“ fast schon „tragbar“ und durchaus tolerabel, wenn man bedenkt, in welche Outfits sich Lady Gaga hüllt oder welche Kunstgebilde die jüngste Haute Couture-Entdeckung Iris van Herpen entwirft. Vor allem im Bereich der modischen Inszenierung, so scheint es, sind die Grenzen heutzutage durchlässiger geworden, aufgeweicht. Das „Untragbare“ schockt uns nicht mehr auf die selbe Weise wie früher. Dagegen erleben wir im Alltag oft das Gegenteil, nämlich immer noch starre Standes- und Anlassetiketten, die längst überholt sein müssten. Wie modisch befreit sind wir also wirklich? Wie immer man solche Fragen auch beantwortet, Annette Geiger und ihre Studenten haben mit „Untragbar“ einen anspruchs- und eindrucksvollen Beitrag zu diesem Diskurs geleistet. Wie heißt es doch in „Untragbar“: „Was immer wir tun. Die Grenzen zum Intolerablen werden immer überschritten, wir hören nicht auf, unsere Inszenierung zum Ort des Unmöglichen zu machen. Aus diesem Wechselspiel von Normalisierung und Angleichung einerseits und dem Aufbegehren gegen das allzu Praktische und Gleichmacherische andererseits, schöpft die Mode ihre Kreativität.“

Wie man „Untragbar“ entblättert, zeigen die Studenten in einem Video:
www.youtube.com

„Untragbar“
Herausgegeben von Joachim Baldauf, Annette Geiger, Ursula Zillig
245 x 340 mm, 154 Seiten, 12 Euro, Doppelcover-Magazin mit Blockheftung
Erhältlich im Fachbuchhandel und unter versand@textem.de
Textem Verlag, Hamburg
www.hfk-bremen.de

„Bittersweet Teen“ von Jessica Mester, Irene Joa, Isa Griese und Eva Baramsky greift das Thema der „Unperfektion“ auf, wir fragen: „Kann denn Mode Sünde sein?“ Foto © Tatjana Prenzel, Stylepark, Foto © Eva Baramsky, HFK Bremen
Aufgeschlagen, aufgetragen – die Gestaltung des Heftes ist ungewöhnlich, gut. Foto © Tatjana Prenzel, Stylepark
enya Corda, HFK Bremen, Foto © Cordula Heins, HFK Bremen
Auf der Suche nach ökologisch korrekter Mode schickt Macherin Julia Preckel ihre Models an den “See” (linkes Bild). Foto © Tatjana Prenzel, Stylepark, Foto © Shushi Li, HFK Bremen
Modetrends kommen und gehen und kommen wieder, wie das Peace-Zeichen. Nur sehen sie dann eben anders aus. Foto © Tatjana Prenzel, Stylepark, Foto © Eva Baramsky, HFK Bremen
Wenn aus Fett Textiles wird, und Schweine zu Statisten: „Wer frisst wen“ von Christina Wangler. Foto © Caroline Speisser, HFK Bremen
Genitales Versteckspiel, so beschreibt Marieke-Sophie Schmidt Mode, und dreht deshalb das Innere ins Äußere (Bild links). „Bittersweet Teen“ (Bild rechts). Foto © Caroline Speisser, HFK Bremen
So einfach, so wirkungsvoll: Das Magazin ist am äußeren rechten Rand geheftet und lässt sich auf verschiedene Arten entblättern. Foto © Tatjana Prenzel, Stylepark
“Mode kann ihre Unabhängigkeit nur bewahren, wenn sie an Orten des Experiments stattfindet“, heißt es im Vorwort von „Untragbar“. Foto © Tatjana Prenzel, Stylepark