Wir arbeiten an unserem Weltbild
VON Thomas Wagner | 18.10.2012
Es war in den 1980er Jahren. Die elektronische Revolution steckte noch in den Kinderschuhen. Da schaltete eine noch junge Firma – sie erkor einen angebissenen Apfel zu ihrem Logo, weil ihr Gründer auf einer Apfelplantage gearbeitet und sich hauptsächlich von Obst ernährt hatte – in deutschen Tages- und Wochenzeitungen ganzseitige Anzeigen. 1984 hatte man eine kompakte Business-Maschine mit integriertem Monitor auf den Markt gebracht, die sich „MacIntosh“ nannte. In dem Werbefilm, den kein geringerer als Ridley Scott zu deren Weltpremiere gedreht hatte, war die schneeweiße Kiste, die ihren Benutzer mit einem magischen „Bling!“ und dem Wort „Willkommen“ begrüßte, als das ultimative Gegenmittel gegen den „Big Brother“ inszeniert worden. Die Anzeigen kamen – von Vierfarbdruck auf Rollenrotationsmaschinen war noch nicht die Rede – Schwarzweiß und rein typografisch daher. Auf einer stand zu lesen: „Arbeiten Sie doch, wo Sie wollen.“ Ein guter Freund von mir, der Bildhauer Rolf Schneider, hat, als während eines Aufenthaltes in Paris sein Atelier aufgrund eines Brandes komplett verrußt worden war, die Anzeige mit Lippenstift bearbeitet und den Leerraum mit einer dynamischen Form ausgefüllt. Heute wissen wir: Die Revolution des Arbeitens hatte begonnen. „Unter medientechnischen Aspekten gesehen, ist die Ablösung der klassischen Buchseite durch das Monitorfeld der interessanteste Vorgang seit Erfindung der beweglichen Lettern.“ Peter Sloterdijk, 2001 Seitdem ist viel geschehen. Nicht nur in den Büros und auf Schreibtischen. Zwar stehen dort in vielen Fällen noch immer hässliche Kisten auf oder unter dem Tisch, ergänzt von einem fest montierten Monitor. Doch all das könnte schon bald der Vergangenheit angehören. Was in den Achtzigerjahren als Werbeslogan daherkam und als Versprechen auftrat, ist längst Wirklichkeit geworden: Wir arbeiten tatsächlich, wo wir wollen. Zumindest überall da, wo wir „online“ sind. Gewonnen haben wir dadurch an Flexibilität und Freiheit. Doch nichts ist umsonst. Der Preis, den wir dafür zahlen, besteht darin, überall erreichbar zu sein und auch überall arbeiten zu müssen. Fakt aber ist: Dank elektronischer Netzwerke können wir an vielen Orten arbeiten, wobei man manchmal den Eindruck hat, unser Arbeitsraum sei der eigene Kopf. „Gesellschaften sind immer stärker von der Beschaffenheit der Medien, über die die Menschen miteinander kommunizieren, geformt worden als vom Inhalt der Kommunikation.“ Marshall McLuhan, 1969 Die Entwicklung von der Industriegesellschaft zur Netzwerk-Ökonomie und die Verlagerung von Aktivitäten ins Virtuelle scheinen unaufhaltsam. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass neue Schnittstellen und Darstellungstechniken – etwa mittels OLED-Technologie – nicht nur den einzelnen Arbeitsplatz, sondern auch Ausstattung und Atmosphäre eines Büros in den kommenden Jahren abermals von Grund auf verändern werden. Dafür sorgen sowohl die Entwicklung der Technik als auch die veränderten Wertvorstellungen einer Generation von „digital natives“, für die globale Mobilität, soziale Netzwerke und eine veränderte „work-life-balance“ Selbstverständlichkeiten sind. In Bürolandschaften, die mit dem Fortschritt gehen, gibt es schon heute keine fixen Raumhierarchien und keine individualisierten Einzelzellen mehr; „Workbenches“, an denen man sich mit seinem Laptop ins Netzwerk einwählt, Kommunikationsbereiche, Ruhezonen und Konzentrationsnester bilden Inseln in einem angenehm gestalteten Großraum. Man könnte es auch so ausdrücken: Wo Arbeit hauptsächlich auf Kommunikation beruht und die Trennung von Arbeit und Freizeit mehr und mehr verschwimmt, setzen sich auf breiter Front all jene hybriden Organisationsformen durch, die genau das zu fördern suchen. Ob aus „smart working“, „liquid feedback“, dem schier unbegrenzten Vertrauen auf Teamwork und den entsprechenden Bürokonzepten eine Kultur des Vertrauens und der Exzellenz erwächst, muss sich freilich erst erweisen. Gänzlich neuartige Typologien indes sind Mangelware. Auf einen Nenner gebracht bedeutet das: Das zeitgenössische Büro muss erstens groß, zweitens an sämtliche direkte oder elektronisch vermittelte Kommunikationskanäle angeschlossen sein, und drittens jedem bei Bedarf einen Kokon zu konzentriertem Arbeiten oder zum intensiven Gespräch in kleiner Runde bieten. Woraus folgt: Das Bestehende „System Büro“ wird verfeinert, das etablierte Paradigma ausdifferenziert. Stellt sich die Frage, die schon der Frosch Kermit in der Sesamstraße gestellt hat: „What’s next?“ „In diesem Sinn wird das Büro zu einem theoretischen Modell gesellschaftlicher und großstädtischer Organisation.“ Andrea Branzi, 1991 Als Vitra 1991 das Projekt „Citizen Office“ angestoßen hat, in dessen Rahmen Ettore Sottsass, Andrea Branzi und Michele De Lucchi über das Arbeiten und Leben im Büro nachdachten, stellte Rolf Fehlbaum lapidar fest: „Der herrschende Bürostil ist eine Konvention, die sich aus tayloristischen Vorstellungen entwickelt hat, aber als Organisations- und Disziplinierungsausdruck in einer elektronisch vernetzten Welt hoffnungslos veraltet erscheint. Der Versuchung, dem alten Bürostil eine neue Eindeutigkeit gegenüberzustellen, haben die Designer widerstanden. Nur so viel war klar: Das wirkliche Leben beginnt nicht außerhalb der Bürowände, deshalb muss sich das Leben auch im Büro ausdrücken können.“ Fast alles von dem, über das damals nachgedacht wurde, ist heute realisiert, wenn auch noch längst nicht überall installiert. Und heute? Wie sieht die Konvention heute aus? Sind an die Stelle disziplinierender Ordnungen andere Kontrollmechanismen getreten? Oder sind wir tatsächlich zu mündigen „Büro-Citizens“ geworden? Wird das flexible Büro in den kommenden Jahren noch flexibler werden? Wenn ja, wodurch? Zu Recht stellte Fehlbaum schon damals fest, dass „wir (die Hersteller und Anwender) meist geradezu vergessen, dass jeder Produktentwurf auch ein Weltbildentwurf ist“. „Lasst uns keinen Stift benutzen. Wir benutzen alle das beste Zeigegerät auf der Welt – unsere Finger. Wir haben eine neue Technologie erfunden, die sich ›Multi-Touch‹ nennt. Sie ist geradezu magisch, man braucht keinen Stift.“ Steve Jobs, 2007 Wie aber sieht der Entwurf eines künftigen Weltbildes aus? Dass unser künftiges Bild der Welt noch stärker von Fragen der Umwelt, der Energie und der Kommunikation geprägt sein wird, scheint festzustehen. Aber entspricht es demjenigen, dessen Umsetzung wir derzeit erleben? Oder wird, was heute Konvention ist, schon bald von einem anderen Entwurf abgelöst werden? Fest steht: Wir haben uns daran gewöhnt, dass Informationen – Texte, Bilder und Töne –, zumindest selektiv, überall und jederzeit verfügbar sind. Wir bewegen uns nicht, um zu ihnen zu gelangen, sie stehen bereit und können permanent und überall abgerufen werden. Das vermittelt eine vage Vorstellung von einer Gesellschaft mobil vernetzter Kommunikation, die auf einem Begriff der dynamischen Speicherung basiert, also auf der Vorstellung eines Archivs. Dadurch rückt die Schnittstelle, an der sich Mensch und Archiv berühren, weiter ins Zentrum. „Design“, so notiert Peter Sloterdijk im Jahr 2010, „kommt unweigerlich überall ins Spiel, wo der schwarze Kasten dem Benutzer eine Kontaktseite zuwenden muss, um sich ihm trotz seiner internen Hermetik nützlich zu machen: Design schafft den dunklen Rätselkästen ein aufgeschlossenes Äußeres.“ Es wird erwartet, dass in den kommenden Jahren immer mehr Menschen Smartphones und zunehmend mobile Netze nutzen werden. Welche Auswirkungen wird das auf Struktur und Gestalt der Arbeitswelt haben? Wird es schon bald überhaupt keine festen Arbeitsplätze mehr geben? Werden Daten gemeinsam aus der „Cloud“ bezogen und auf großflächigen Wänden aus OLEDs präsentiert? Was bedeutet es für das Design, was für die soziale Struktur eines Büros, wenn Informationen umfassend aufbereitet und dargestellt werden können und über schnelle Datennetzte in Echtzeit interkontinental konferiert werden kann? Gründe genug, gespannt darauf zu sein, welche Weltbilder auf der Orgatec propagiert werden. |