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Die Schaffung neuer Bauplätze durch die Reduzierung von Parkraum wäre ein Weg, mit dem immer weiter steigenden Wohnungsbedarf in den Städten umzugehen. Entwurf: Studio Schwitalla

IAA 2017
Welche Siedlungsform hat welchen Mobilitätsbedarf?

Hat das Auto ausgedient? Werden es neue Antriebsformen retten? Oder muss das Zusammenspiel von Bauen und Mobilität tiefgreifender verändert werden? Thomas Wagner hat mit Christian Gärtner von Urban Standards über notwendige Schritte zu einer neuen Mobilitätspolitik gesprochen.
11.09.2017

Thomas Wagner: Dieselskandal, Stickoxidwerte, Feinstaub, Ende des Verbrennungsmotors – fahren wir morgen alle elektrisch und ansonsten bleibt in Sachen Mobilität alles wie es ist? Wird der Automobil-Cowboy sein eigenes Pferd also auch in Zukunft vor dem Haus stehen haben?

Christian Gärtner: Die Antriebsfrage ist, wenn es um die individuelle Mobilität geht, eine sekundäre Frage. Die primäre Frage ist die nach der Organisationsform der Mobilität, danach, in welcher Form wir Mobilität zukünftig „besitzen“ wollen. Es wird Mobilitätsversprechen geben, die von irgendjemand eingelöst werden müssen. Ich brauche also kein Pferd mehr vor der Tür stehen zu haben, das Pferd wird sozusagen anders dargereicht.

Christian Gärtner, CEO Urban Standards

Das Pferd kommt, wenn ich es brauche?

Christian Gärtner: Ja, das Pferd kommt in der Zeitspanne, für die man vorher angegeben hat, dass man es brauchst. Das heißt, das Fahrzeug wird sich schlichtweg daran orientieren, welchen "Level of Service" der Einzelne von der Mobilität erwartet. Zudem wird es nicht das eine Pferd sein, es werden unterschiedliche Pferdesorten sein, und es kann auch mal eine Kutsche sein, die bei Bedarf vorfährt. Es wird eben nicht mehr das Single-Occupancy-Vehicle sein, mit dem wir uns bewegen. Deshalb ­müsste man, um in der Diskussion voranzukommen, die ganze Mobilitätskette auflösen: Vor welchem Haus steht welches Pferd und warum? Und das bedeutet: In der aktuellen Diskussion ist vor allem der Zusammenhang von Immobilität und Mobilität unterbewertet. 

Heißt das, eine neue Form der Mobilität beginnt beim Bauen?

Christian Gärtner: Man muss sich die Viertel doch nur anschauen, die derzeit entstehen. Da werden für Parkplätze Monstrositäten in den Boden gerammt mit acht Stockwerken, sechs Stockwerken, vier Stockwerken. Das extremste Beispiel ist ein Hochhaus in Mexiko-City mit 17 Geschossen unter und mit 19 Geschossen über der Erde. Erst fährt man 15 Minuten im Kreis nach unten, um danach mit dem Aufzug wieder 26 oder 36 Stockwerke nach oben zu fahren. Das Kernproblem besteht also darin, dass wir in dem Moment, wo in Deutschland viele Kommunen in dem kommenden 10 bis 15 Jahren um 20 bis 30 Prozent wachsen werden, überhaupt keine öffentliche Diskussion darüber haben, wie die Verbindung von Immobilien und Mobilität in neu entstehenden Quartieren gestaltet werden soll. 

Liegt das daran, dass in der Öffentlichkeit nur über E-Mobility als einzige Alternative geredet wird, aber nicht darüber, dass und wie sich unsere Lebensgewohnheiten ändern werden oder müssen?

Christian Gärtner: Ja, die Debatte wird zu oft auf dramatische Weise verkürzt. Über Elektroantrieb muss man nicht mehr reden, das ist bereits auf dem Weg. Und da vollzieht die Automobilindustrie gerade eine Wende, wie man bei der IAA sehen wird. Auch die Reichweite ist nicht das zentrale Problem, an dem der Wandel scheitern wird. Der notwendige Wandel in der Mobilität wird, wenn nichts geschieht, aber vor allem daran scheitern, dass wir städtebaulich schlichtweg nicht darauf vorbereitet sind. Wie viele Initiativen für eine e-Lade-Infrastruktur will man denn noch starten, ohne den Kern des Problems zu berühren? Die Kernfrage lautet doch: Wie wollen wir wohnen und wie uns organisieren? Dabei haben wir es letzten Endes mit einigen wenigen Kerntreibern der Veränderung zu tun, die bisher nicht zusammengedacht werden.

Die Digitalisierung vereinfacht die Auswahl der jeweils besten Mobilitätsform erheblich.

Wer oder was treibt die Veränderung denn voran?

Christian Gärtner: Zunächst lässt sich in der Bevölkerung ein Verhaltenswandel beobachten: Innerstädtisch verzichten immer mehr Menschen auf das Auto. Das hört sich immer gleich nach Sharing-Economy an, hat aber oft rein praktische und ökonomische Gründe. Der zweite Treiber ist die urbane Verdichtung – in manchen Städten spricht man in der Verwaltung schon vom Urban-Fracking. Bildhaft ausgedrückt wäre das so, als ob Augsburg noch mal auf München draufgesetzt würde. Das heißt, die Stadt wird komprimiert – und mit der Verdichtung der Stadt stellt sich natürlich die Verteilungsfrage hinsichtlich der Nutzung von Fläche. Wenn wir uns anschauen, wie viel Prozent der Fläche heute durch Verkehre okkupiert sind, dann sind das zwischen 30 und 50 Prozent, je nachdem in welchem Land man unterwegs ist und was man einrechnet. Deshalb muss die Frage lauten: Wie kriegen wir den urbanen Fußabdruck des Autos minimiert, nicht nur den der Emissionen? Und das schaffe ich nicht, indem ich einen E-Antrieb ins Auto baue.

Sondern?

Christian Gärtner: Indem ich verstehen lerne, wie und weshalb Verkehre entstehen: Warum entsteht überhaupt Mobilität? Welche Siedlungsform hat welchen Mobilitätsbedarf? Das Zweite ist: Welche Entwicklungsform führt zu welcher Mobilitätsform? Und das Dritte sind die Angebote, die durch Digitalisierung entstehen. Ich muss schlichtweg keine Entscheidung – Auto haben, Auto nicht haben – mehr treffen, weil ich mir für meine Fortbewegung verschiedene Mobilitätsformen bis auf die Minute gestückelt zusammenstellen kann. Die nächste Entwicklung – vierter Treiber – ist der technologische Fortschritt: Wir sprechen alle über autonome Fahrzeuge, das ist irgendwann das Ziel. Eine Folge ist: Wir brauchen keine Parkplätze mehr, weil die Dinger die ganze Zeit herumfahren. Soll heißen: Autonome Fahrzeuge werden die Typologie des Parkens komplett restrukturieren, weil dadurch voneinander entkoppelt wird, wo ich lebe und wo ich parke. Somit beginnt eine strategische Umgestaltung der Stadt.

Häuser statt Parkplätze: Autonomes Parken erlaubt eine signifikante Reduzierung des Parkraums.

Klingt super. Und wo liegen die Hindernisse?

Christian Gärtner: Ganz einfach: in den Risiken. Man muss sich vorstellen: Es handelt sich um ein Problem, in dem keiner sein Risiko bestimmen kann. Wir befinden uns im Grunde in einem riesigen Gefangenen-Dilemma: Die Immobilienwirtschaft weiß nicht, welche Konzepte die Autoindustrie entwickelt. Also sagen sie: Bevor wir Immobilie bauen, die wir aufgrund fehlender Parkplätze nicht vermarkten können, bauen wir lieber Tiefgaragen.

Was man verstehen kann.

Christian Gärtner: Konkret heißt das: Die Immobilienbranche sagt: Wir können ein verändertes Mobilitätskonzept schlichtweg nicht in unsere Kalkulation einbeziehen. Die Autoindustrie sagt: Na schön, Konzepte wie Car-Sharing rechnen sich in einem bestimmten Geschäftsgebiet, nämlich da, wo es dicht ist und der Umschlag natürlich gegeben ist. Wenn es aber um Randlagen in Städten geht, haben die Autohersteller von den Immobilienentwicklern keine Grundlagen, um abzuschätzen, ob Sharing-Modelle sich über andere Organisationsformen rechnen würden. Und der Nutzer sagt: Ich gebe doch mein Auto nicht ab. Ich weiß ja gar nicht, welchen Service, ich bekomme. Und der Gesetzgeber sagt: Halt mal, es gibt eine Parkraumverordnung. Du musst Parkraum schaffen! Und wenn Du das nicht tust, dann wollen wir garantiert haben, dass die Leute ihren Mobilitätsbedarf anders regeln können.

Autonomes und Fahren und Parken wird zwangsläufig eine andere Architektur und ein anderes Benutzerverhalten hervorbringen.

Es fehlt also ein Anstoß von der Politik? Würde diese klare Vorgaben machen, könnten sich Autoindustrie und Immobilienbranche daran orientieren und auf andere Mobilitätsangebote einstellen?

Christian Gärtner: Völlig richtig. Die Autoindustrie formuliert das auch so. Und die Städte auch. Aber da muss sich in unserem föderalen System auf allen Ebenen was tun. Der Dieselgipfel Anfang August war da ein wichtiger Anstoß.

Das Problem hat sich die Politik also selbst eingehandelt?

Christian Gärtner: Nicht nur die Politik. Schlafwandlerisch sind wir auf dieses Problem zugesteuert, anstatt, eingebettet in eine gesellschaftliche Diskussion, positive Signale einer Verkehrstransformation und einer Mobilitätstransformation zu senden. Man muss sich nur anschauen, wie amerikanische Medien und wie deutsche Medien über die Mobilität der Zukunft berichten. Wer berichtet hierzulande über die Chancen? Man liest etwas über verkehrspolitische Fehlentwicklungen, und das mündet dann oft in der Forderung nach mehr Radwegen. Das ist aber nicht die einzige Lösung. Besser wäre es, sämtliche Faktoren in die Rechnung einzubeziehen. Klar, die Maximilianstraße ohne Autos sieht in der Süddeutschen Zeitung gut aus, aber Bilder ohne Autoverkehr zu publizieren reicht eben nicht. Was fehlt ist die diskursive Ebene, ein politischer und intellektueller Diskurs darüber, welche Zukunft wir eigentlich haben wollen und wie wir diese gestalten können.

Woran liegt das? Vor wenigen Jahren hatte es noch den Anschein, als redeten alle permanent über Zukunft. Es gab Pilgerströme ins Silicon Valley und jede Menge Gerede über virtuelle Welten und eine neue Ökonomie. 

Christian Gärtner: Jede Firma hat jetzt einen Chief Digital Officer und jede Stadtverwaltung versucht sich einen CDO anzuschaffen. Die Kernfrage, die sich mir dabei stellt: Sind wir uns eigentlich einig, worin der gesellschaftliche Use Case der Digitalisierung in der Mobilität besteht? Welche Art der Organisation wollen wir denn digitalisieren? Geht es darum, den öffentlichen Nahverkehr isoliert attraktiver zu machen, indem ich E-Ticketing einführe? Fair enough, kann und muss man machen. Das ist aber nicht wirklich der gesellschaftliche Auftrag. Die Digitalisierung muss die Mauern zwischen den Mobilitätsformen einreißen, sie muss ein wirklich attraktives, intermodales Konzept befördern und den Stadtraum organisieren können.

Dient die Digitalisierung auch dazu, ungelöste Probleme zu verschleiern? Glauben wir zu sehr daran, eine Flut von Daten könnte alles regeln, statt herauszufinden, welche Art von Vernetzung wir wollen?

Christian Gärtner: In die Richtung geht es. Das Effizienzversprechen, das in der Digitalisierung liegt, hilft nicht, wenn ich nicht weiß, in welchen Dienst ich es stellen will. Es gibt aber auch viele positive Beispiele. Stuttgart z.B.hat eine Querschnittsfunktion auf Referatsleiterebene geschaffen, die sämtliche an den Verkehren beteiligten Akteure zusammenführt und eine Strategie der Lenkung, Vermeidung, Steuerung usw. von Verkehr interdisziplinär koordiniert. Dabei ist Digitalisierung sicher ein mögliches Tool. Die politische Aufgabe ist aber eine andere. Wenn ich ein Bike-Sharing oder ein E-Bike-Sharing für den Großraum Stuttgart oder die Metropolregion Stuttgart einführen möchte, muss ich Dutzende Landräte überzeugen und koordinieren. Dazu brauche ich keine Digitalisierung, dazu brauche ich einen langen Atem, Überzeugungskraft und ein klares Mandat. Ein anderes Beispiel ist die Deutsche Post mit ihren E-Transportern. Dort hat man auch nicht gewartet, bis das gute Beispiel kommen soll, sondern es selbst geschaffen – weil sie in erster Linie Netzbetreiber sind und sehen, wie die bestehenden Netze an ihre Grenzen stoßen, wenn die Gesellschaft neue Rahmenbedingungen setzt.

Kein Stein bleibt auf dem anderen: Der Architekt Jürgen Meyer H. illustriert die umwälzenden Veränderungen der Digitalisierung sehr plastisch.

Erfahrung mit bestehenden Netzen ist wieder gefragt?

Christian Gärtner: Durchaus. Glückwunsch auch an all jene Logistik-Dienstleister, die erkannt haben, dass das Last-Mile-Thema keine Bedrohung, sondern eine Herausforderung für ihr Geschäft ist, die sie bewältigen müssen. Also sagen sie: Wir müssen die gesamte Mobilitätskette halbwegs nachhaltig abbilden, sonst wird uns die Gesellschaft irgendwann einen Stuhl vor die Tür stellen. Wir haben einfach zu wenige positive Bilder.

Wo können die herkommen? Wie können konkrete Optionen entstehen?

Christian Gärtner: Sie können jedenfalls nicht von einem Akteur allein kommen, sondern müssen koordiniert sein, weil eine Umgestaltung der Stadt, soll sie realistisch betrieben werden, nur mit den relevanten Akteuren gemeinsam entwickelt werden kann. Und da scheitern die guten Konzepte meistens. Risiken müssen gemeinsam gemeistert werden.

Fragen der Mobilität müssen also zusammen mit Fragen der Immobilität, der Stadtplanung, der Verordnungen und der Renditeerwartungen gedacht werden?

Christian Gärtner: So ist es. Das ist die Diskussion über die Zukunft, die wir führen müssen. Am deutlichsten sehen die Notwendigkeit derzeit die kommunalen Verwaltungen. Und auch wenn man das jetzt im Moment nicht glaubt, auch bei der Autoindustrie ist der Veränderungswille vorhanden.

Was bedeutet all das für die nächsten Jahre?

Christian Gärtner: Meine Hoffnung ist, dass durch das Droh-Szenario innerstädtischer Fahrverbote ein politisches Momentum entsteht, der deutsche Michel seine Schlafmütze absetzt und erkennt: Ich muss jetzt was tun. Die Chance ist in der nächsten Legislaturperiode da, über die Parteien hinweg eine Debatte jenseits ideologischer Beschränkungen zu führen. In den Stadtverwaltungen ist genug Druck im Kessel um zu sagen, wir wollen die Probleme auch in der Öffentlichkeit in Angriff nehmen. Wir können nicht länger davor zurückschrecken, Parkraum zurückzubauen oder die Kosten für Parkraum-Bewirtschaftung hochzusetzen. Es ist an der Zeit die Angst davor zu verlieren, man würde die industriepolitische Basis Deutschlands aus der Hand geben, wenn man über neue Organisationsformen von Mobilität spricht. Dazu bedarf es einer breit angelegten Kommunikationskampagne, die koordiniert ist zwischen verschiedenen Akteuren – Politik, Stadtverwaltung, Autoindustrie und Immobilienwirtschaft.

Autonomes Parken (Video)