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Mobile Kirche: Bartnings radikal-innovative "Stahlkirche" 1928 auf der Pressa-Ausstellung in Köln. Der modulare Stahlbau wurde später nach Essen gebracht, im Zweiten Weltkrieg aber zerstört.

Hinter den Kulissen der Moderne

Wer die wichtigsten deutschen Architekten des 20. Jahrhunderts aufzählen soll, dem wird der Name Otto Bartning nicht unbedingt einfallen. Das ist ein Fehler, wie eine große Ausstellung in Berlin zeigt.
von Florian Heilmeyer | 18.05.2017

An Otto Bartning (1883-1959) kommt man sowieso nicht vorbei, wenn man zur Akademie der Künste im Berliner Hansaviertel will. Das merkt allerdings kaum Jemand: die zentrale, geschwungene Straße, die vom Hansaplatz einmal quer durchs Hansaviertel und zum S-Bahnhof Bellevue führt, ist die Bartningallee. Mit dieser Namensgebung wurde Bartnings zentrale Rolle bei den Planungen der Interbau 1957 dauerhaft gewürdigt, denn ein Haus hat er hier nicht gebaut. Das überließ er diplomatisch den ungleich berühmteren Kollegen, denen er allerdings einen klaren, städtebaulichen Rahmen setzte. So ist es von bezeichnender Symbolik, dass "seine" Straße quasi als Grundlage der Erschließung an den Häusern von Oscar Niemeyer, Egon Eiermann oder van den Broek und Bakema vorbei führt. Bartning war der stille Macher im Hintergrund; gleichzeitig war er einer, der die Vorgaben und Grundlagen definierte.

Wie stellt man so einen aus? Die Akademie der Künste versucht sich derzeit an einer großen Ausstellung, kuratiert von Sandra Wagner-Conzelmann, in Werner Düttmans Akademie-Gebäude am Hanseatenweg. Direkt vor dessen prägnanter Waschbetonfassade werben große gelbe Flaggen mit dem verlockenden Titel "Otto Bartning. Architekt einer sozialen Moderne". Dass die Ausstellung deswegen zum Publikumsmagneten wird, darf dennoch bezweifelt werden. Zu schwierig ist all das zu zeigen, was sie sich vorgenommen hat: denn neben Bartnings theoretischem Werk will die Schau auch zeigen, wie sein Wirken entscheidend zum sozialen, menschenwürdigen Bauen der Weimarer Republik beigetragen hat, wie er vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und bis weit in den Wiederaufbau nach dem zweiten Weltkrieg als graue Eminenz im Hintergrund das Netzwerk für die neue deutsche Architektur und Stadtplanung gesponnen hat.

Wer steht denn da zwischen Le Corbusier und Hans Scharoun? Genau: Otto Bartning, 1957 in Berlin.

Der eigentliche Vater des Bauhausgedankens

Bartning engagierte sich in Dutzenden von Verbänden und Künstlergruppen. Schon 1908 trat er dem Deutschen Werkbund bei, wird 1918 Mitbegründer des Arbeitsrates für Kunst und ist ab 1924 mit Walter Gropius, Mies van der Rohe, Hugo Häring oder Hans Scharoun Mitglied im "Zehnerring", später einfach: "Der Ring", der sich für das Neue Bauen in all seinen Varianten einsetzte. Bartning stand kontinuierlich mitten in der Debatte und im Austausch mit fast allen wichtigen Zeitgenossen: Bruno und Max Taut, Hermann Muthesius, Wassili und Hans Luckhardt, Erich Mendelsohn, auch mit Künstlern wie Ludwig Meiner oder Max Pechstein, sowie anfangs auch mit Otto March oder seinem Mentor an der Universität, Paul Schultze-Naumburg; erst dessen spätere faschistische Radikalisierung würde einen Keil zwischen die Beiden treiben. So setzt sich Bartning, der Deutschland Zeit seines Lebens nicht dauerhaft verlassen hat, vom Kaiserreich durch die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik hinein, für ein neues, zeitgemäß modernes und menschenfreundliches Bauen ein. Gleichzeitig zeigt er sich in seiner Meinung relativ gemäßigt und pflegt einen Ruf als pragmatischer, moderater Moderner, der es ihm möglich macht, trotz der enormen politischen Wechsel seiner Zeit kontinuierlich in Deutschland bleiben und auch arbeiten zu können. Bartning konnte gut vermitteln, könnte man sagen. Oder: Er hat sich so durchschlawienert.

Besonders bemerkenswert ist dabei die Episode um das Bauhaus in Weimar. An dessen Gründung war Bartning indirekt beteiligt, denn er hatte schon 1918 im Unterrichtsausschuss des Arbeitsrates für Kunst eine grundlegende Reform der Architekturausbildung skizziert. Diese diskutierte er mit Kollegen, auch mit Walter Gropius ist ein Briefwechsel belegt, und so tauchen 1919 wesentliche Überlegungen von Bartning in Gropius’ Gründungsmanifest für das Bauhaus in Weimar auf – allerdings ohne jeden Verweis auf Bartning. Dass er nicht an der Gründung des Bauhauses beteiligt gewesen sei, wäre für ihn ein "tiefer Schmerz" gewesen, schrieb Bartning viele Jahre später. Zum Bruch führt dies allerdings nicht, weder mit dem Bauhaus noch mit Gropius, mit dem er weiter in regelmäßigem Austausch blieb. Entweder war Bartnings Schmerz doch nicht so groß – oder der Diplomat in ihm gewann auch hier die Oberhand.

Otto Bartning, um 1930.
Die Seilbahn auf der Interbau 1957 in Berlin.

Bartning profilierte sich – absichtlich oder nicht – als einer, auf den sich viele einigen konnten. So wurde ihm 1926 von jener nationalkonservativen Landesregierung Thüringens, die gerade erst Gropius mit seinem Bauhaus aus Weimar vertrieben hatte, die Leitung der folgenden "Staatlichen Bauhochschule" übertragen. Ohne sich mit den politischen Werten dieser Regierung gemein zu machen, konnte sich Bartning inhaltlich auf zentrale Ideen des Bauhauses berufen, die ja auch seine gewesen waren. Gleichzeitig behielt er die Anerkennung der Kollegen: So schrieb Oskar Schlemmer in einem Brief an Otto Meyer, dass in Weimar nun der "eigentliche Vater des Bauhausgedankens" berufen worden sei. Bartning gelang es mit einer bestimmten, unauffälligen Integrität, sowohl bei den Protagonisten der progressiven Avantgarde Achtung zu genießen, wie er gleichzeitig bei den an die Macht drängenden Faschisten keine allzu großen Widerstände auslöste. Seinen Direktorenstuhl in Weimar musste er allerdings vier Jahre später für Paul Schultze-Naumburg räumen, der als überzeugter Faschist sogleich die Innenraumgestaltung von Oskar Schlemmer abschlagen und vernichten ließ.          

Der Kirchenbauer

Ein Grund für Bartnings schwer zu durchleuchtende Sonderrolle war vielleicht sein Engagement für die Kirche, dass, wenn auch eher zufällig, schon früh begann. Noch während des Studiums hatte er über einen alten Schulfreund, der Vikar geworden war, den Auftrag für ein Kirchengebäude erhalten. Die Gemeinde gehörte zur "Los-von-Rom"-Bewegung, die sich gerade im Protest von der katholischen Kirche löste und entsprechend auch in ihren Neubauten das reformatorische Denken ausdrücken wollte. Mit diesen Auftrag begann für Bartning eine Beschäftigung mit dem neuen Kirchenbau, der veränderte Ansprüche der Liturgie und des Gemeindelebens in programmatischen, neuen Typologien ausdrücken wollte – eine Beschäftigung, die für Jahrzehnte anhalten sollte. Denn schnell folgten weitere Aufträge für Kirchen und Gemeindehäuser in Österreich und Böhmen sowie für Landhäuser und Villen. Die Universität verließ Bartning ohne Abschluss, stattdessen baute er noch vor dem Ersten Weltkrieg – als noch nicht 30-jähriger – 14 Kirchen.

Die "Sternkirche" war einer von mehreren prototypischen Kirchenbauten, die Otto Bartning in den 1920er-Jahren veröffentlichte.

Vom Wehrdienst befreit schrieb er während des Krieges sein Grundsatzwerk "Vom neuen Kirchenbau", dessen theoretische Überlegungen er nach Kriegsende in seinen berühmtesten Gebäuden umsetzte. 1922 entwarf er, auch vom Expressionismus der "Gläsernen Kette" angeregt, seine spektakuläre "Sternkirche", dann folgten zwischen 1928 und 1934 drei prototypische Kirchengebäude: die "Stahlkirche" für die Pressa-Ausstellung in Köln, eine Rundkirche (die Auferstehungskirche in Essen) und eine Fächerkirche (die Gustav-Adolf-Kirche in Berlin), die mit der unrealisierten "Sternkirche" zusammen seine programmatischen Überlegungen zur Verwendung neuer Materialien und zur Entwicklung neuer Grundrisse im Kirchenbau abrundeten und viele kommende evangelische und reformatorische Sakralbauten enorm beeinflussten. Aber auch neben diesen wegweisenden Entwürfen baute er für die evangelische Kirche. Insbesondere nach dem Ende seiner Direktorenschaft in Weimar konnte er sich ganz auf diese Tätigkeit konzentrieren und so realisierte er bis 1945 Kirchenbauten und Gemeindehäuser in Karlsruhe und Görlitz, in Lissabon, Heerlen, Barcelona und Beirut. Mit seinem Ruf als moderater Moderner und als Kirchenbauer kann er sein Büro bis 1942 in der "Reichshauptstadt Germania" halten. Erst 1942, als sein Berliner Büro ausgebombt wurde und sein Sohn Peter an der Front fiel, zog die Familie nach Nackarsteinach bei Heidelberg, wo Bartning sich für die letzten Kriegsjahre auf die Instandsetzung und Umgestaltung der Heiliggeistkirche konzentrierte.

Bartnings Stahlkirche, davor das Ausstellungsgebäude auf der Pressa-Ausstellung in Köln, 1928.
Die Gustav-Adolf-Kirche in Berlin, 1934, ist mit ihrem fächerförmigen Grundriss konstruktiv und architektonisch ein Höhepunkt des deutschen Sakralbaus im 20. Jahrhundert.

Warum er in Deutschland blieb und wie er und seine Familie sich mit dem Nationalsozialismus arrangierten, bleibt unklar. Mitglied der NSDAP war er wohl nie, aus einigen Verbänden trat er nach der Gleichschaltung aus, in anderen blieb er. Von einem Engagement für verfolgte oder ins Exil gegangene Kollegen ist nichts bekannt. Eine Einladung nach Argentinien vor Kriegsbeginn lehnte er ab, in dürren Worten beschrieb er nach Kriegsende, er habe "die Dinge hier im Lande mit stillem Widerstand durchstehen" wollen. Seine gute Vernetzung konnte er jedenfalls über das Kriegsende hinweg retten, er wurde bald Präsident des Bundes Deutscher Architekten, zweiter Vorsitzender des Werkbundes, Gründungsmitglied der Sektion Baukunst in der Akademie der Künste sowie 1954 städtebaulicher Berater West-Berlins und schließlich Leiter der Interbau 1957. Es ist erstaunlich, wie sich Otto Bartning über alle Umbrüche um ihn herum stets sein außergewöhnliches Renommee bewahren konnte und seinen Ruf als moderat progressiver und gleichzeitig ja offenbar äußerst diplomatischer Stratege, der sich jedenfalls für seine Überzeugungen nicht allzu weit aus dem Fenster lehnte. Nach dem Krieg folgte auch seine letzte Etappe als Kirchenbauer: für das Notkirchenprogramm des evangelischen Hilfswerks entwickelte er vier Typen von einfach zu bauenden Kirchengebäuden, die weitgehend von den Gemeinden im Eigenbau hergestellt werden konnten. Auch die meisten Teile der Ausstattung wie Empore, Gestühl, Fenster und Türen konnten so in einem Modulraster vorproduziert werden. Bis 1953 entstanden nach Bartnings Plänen über einhundert Kirchen in allen vier Zonen Nachkriegsdeutschlands.

Innenansicht einer schnell und modular zu errichtenden Notkirche nach Otto Bartnings Entwürfen 1949 bei Wuppertal.

Im Katalog zur Ausstellung lässt sich dieser enorm vielfältige Lebensweg schlüssig erzählen, im Obergeschoss der Akademie hingegen werden die Probleme bei der Vermittlung als Ausstellung schnell deutlich. Zu Beginn wird viel Flachware auf breiten Tischen und an dicken Stellwänden ausgebreitet: Zeichnungen, Tagebücher, Schriften, Fotos und Briefwechsel bündeln Bartnings theoretische Überlegungen und Vernetzungen aus den Anfangsjahren. Und während dann im hinteren, letzten Teil schon ein großes Modell und eine Diaschau der Interbau lockt, erliegt der zentrale Ausstellungsteil eben doch der Verlockung, sich ganz auf die Kirchenbauten zu konzentrieren, die mit großen, von Studenten der TU Darmstadt neu gebauten Modellen auch als Ausstellungs-Objekte der Blickfang im Saal sind und zusätzlich mit einigen wunderschönen, expressionistischen Zeichnungen von Hans Scharoun oder Wassili Luckhardt gerahmt werden.

Die Ausstellung in Berlin versucht erstmals, Bartning als Kirchenbauer und als Macher hinter den Kulissen zu zeigen.

Das Titelversprechen übrigens, Bartning als "Architekt einer sozialen Moderne" zu zeigen, versucht die Ausstellung vor allem in einer Ecke einzulösen, in der seine Entwürfe für moderne Gebäude für das Gesundheitswesen in der Weimarer Republik zu sehen sind: zwei Krankenhäuser in Berlin, ein Musikheim in Frankfurt/Oder und die lange, geschwungene Wohnzeile in der Siemensstadt, die der Siedlung wie ein Rückgrat Struktur verliehen hat, sind hier in wenigen Zeichnungen zu sehen. Doch diese Exponate scheint man fast eher vor den Blicken der Besucher verbergen zu wollen, zumal die Entwürfe nicht mit der Qualität und dem Einfallsreichtum seiner Kirchenbauten vergleichbar sind. Nein, beim Bauen für die soziale Moderne war Bartning eher einer unter vielen, auch wenn er zusätzlich in der "Reichsforschungsanstalt für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen" wohl einiges zur wirtschaftliche Typisierung, Normierung und Rationalisierung des Neuen Bauens beigetragen hat.

Figur eines zerrissenen Jahrhunderts

Ihrem Titel wird die Ausstellung also nur bedingt gerecht. Was zum Glück allerdings nicht weiter ins Gewicht fällt. Otto Bartnings vielfältiges Leben und Werk zu erkunden bleibt auch ohne diese vielleicht doch eher dem aktuellen Zeitgeist geschuldete Konnotation spannend und aufschlussreich. Und für ein lohnenswertes, genaueres Studium versorgen uns die Ausstellung und der Katalog mit so viel neu aufgespürtem und erstmals zusammengetragenen Materialien, dass Besuch und Lektüre zu empfehlen sind – nicht nur angesichts der großen Jubiläen diesen Jahres, zu denen sich Bartnings Werk als Beitrag lesen ließe. Denn mit einem stärkeren Fokus auf seine fortschrittlichen Kirchenbauten würde die Ausstellung einen gelungenen Beitrag zum 500. Reformationsjubiläum bieten können, andersherum könnte sie mit stärkerer Konzentration auf Bartnings Rolle bei der Interbau auch eine zentrale Schau zum 60. Jubiläum des Hansaviertels im Sommer sein. So ist sie eben von beidem ein wenig, flimmert ein wenig zwischen den Kategorien und ähnelt darin vielleicht ganz unabsichtlich ihrem eigenen Protagonisten, der sich vor allem nie so recht in eine Schublade stecken ließ.

Ausstellung:
Otto Bartning. Architekt einer sozialen Moderne
Akademie der Künste
Hanseatenweg 10
10557 Berlin
Bis 18. Juni 2017


Katalog
Otto Bartning. Architekt einer sozialen Moderne
Hrsg. v. Akademie der Künste mit der Wüstenrot-Stiftung
128 S., 280 Abb., geb., deutsch
Justus von Liebig Verlag, Darmstadt 2017
ISBN 978-3883312200
19,90 Euro

Symposium
Zum 60. Jahrestag der Eröffnung der Interbau 1957: Vorträge und Gespräche über Otto Bartning und die Interbau mit Sandra Wagner-Conzelmann, Werner Durth, Wolfgang Pehnt u.a.
Akademie der Künste Berlin, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin
9.-10. Juni 2017

Wie kommt das Neue in die Welt? Besucher bestaunen die Übersichtskarte der Interbau 1957 in West-Berlin.
Menschen in moderner Architektur: die Haupthalle von Bartnings Musikheim in Frankfurt/Oder, 1929. Foto © Atelier Leopold Haase & Co.
Die Modellfotos von Otto Bartnings ungebauter Sternkirche wirkten 1922 so realistisch, dass Viele dachten, die Kirche sei längst gebaut.