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Blicke ins Dickicht der Dinge
von Nancy Jehmlich | 21.12.2010
Alle Fotos: Dimitrios Tsatsas, Stylepark

Das Buch hat mich an eine alte Geschichte aus der Kindheit erinnert, an mein Sammelheft mit Staniolpapier. Ein unbenutztes Notenheft - sehr musikalisch bin ich bis heute nicht - diente mir als Aufbewahrungsort für ein paar empfindliche und mir sehr kostbare Folien, die zuvor hauptsächlich Osterhasen und Weihnachtsmännern aus Schokolade als Kleid gedient hatten. Jede Folie wurde sorgfältig entfaltet, mit dem Fingernagel geglättet und zwischen zwei Seiten aufbewahrt. Das Heft wurde mit jeder neuen Folie dicker, und mein Stolz wie bei jedem passionierten Sammler größer.

Astrid Korntheuer interessiert sich für Dickicht, Verwirrungen und Spiel. Und ihre Bilder erzählen Geschichten, sei es die Geschichte eines Festes oder der Versuch im Kinderzimmer eine Hütte zu bauen, um darin ins Peter-Pan-Land zu fliegen. Die Fotografien der ersten Serie zeigen Schnipsel, Reste und Fetzen von Lichterketten, Alufolien, Wellpappen, Glitzerfolien, also jede Menge chaotischer Materialvielfalt. Alles erscheint durcheinandergewirbelt, der Schwerkraft enthoben. Raumgrenzen verschwimmen, die Raumtiefe lässt sich nicht fassen. So entstehen überquellende Wimmelbilder ohne Zentrum und Orientierungsmöglichkeit.

Fünf fotografische Serien der Künstlerin sind in dem von Antonia Henschel einfühlsam gestalteten und von Trademark Publishing herausgegebenen Bildband versammelt. Großflächig und hauptsächlich auf der rechten Seite sind die Fotografien von Astrid Korntheuer auf zartem, leicht glänzendem Papier angeordnet. Jede Serie ist durch farbiges Papier von der nächsten Serie getrennt. Angefangen mit dem künstlichen Chaos der „Natures Mortes", die von hellgelben Seiten eingeleitet werden, über die Arrangements von „Storytelling" in hellrosa bis hin zu den Dickichtbildern „Paintings" in hellgrün.

Die Serie „Glör" beispielsweise zeigt einen temporären Zustand der Natur. Wildes Gestrüpp, Büsche, Gräser, kleine Bäume. In den Bildern fehlt der Horizont, wir sehen Natur ohne eine sichere Zukunft, abgelichtet in einer Mischung aus Tageslicht und dem Licht der aufkommenden Nacht, aufgenommen 23 Minuten nach Sonnenuntergang. Es sind ruhige und melancholische Bilder, die trotz des augenscheinlichen Durcheinanders, das sie wiedergeben, das Abgebildete nahezu komplett auflösen und zu einer gleichmäßigen strukturierten Masse verschmelzen lassen. Womit sie einen schönen Kontrapunkt zur Serie der „Natures Mortes" bilden, in der künstliches, aus Industrieprodukten erstelltes Gestrüpp den Blick fesselt.

Auch die Gestaltung des Buches schlägt einen Bogen von der äußeren Welt zu den inneren Bildern. Indem der lose Buchumschlag einen vergrößerten Ausschnitt des ersten Fotos aus dem Bildband zeigt, öffnet sich von Außen ein kleines Fenster in die Welt der Astrid Korntheuer. Der komplett bedruckte Einband gleicht Geschenkpapier und verhüllt das Buch wie ein kostbares Geschenk - eines voller Geschichten.

Astrid Korntheuer
Paperback, 160 Seiten, in Deutsch, Englisch und Französisch
Trademark Publishing, Frankfurt am Main, 2010
20 Euro

www.trademarkpublishing.de

Alle Fotos: Dimitrios Tsatsas, Stylepark