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Bait Ur Rouf Mosque, Dhaka, Bangladesch

Blickpunkt: Architektinnen – Marina Tabassum

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das von Marina Tabassum aus Bangladesch, die in ihrer Arbeit die traditionelle Baukultur ihres Landes in Einklang mit internationalen Einflüssen bringt.
von Alexander Russ | 31.07.2023

Bangladesch ist die Heimat hunderter Flüsse, die sich als Wasseradern durch das 160 Millionen EinwohnerInnen zählende Land ziehen. Zwischen Himalaya-Massiv und der Bucht von Bengalen eingebettet, liegt es im größten Deltagebiet der Erde – halb so groß wie Deutschland, aber doppelt so dicht besiedelt. Hinzu kommt die Hauptstadt Dhaka am Ufer des Buriganga-Flusses mit 21 Millionen EinwohnerInnen. Sie ist der Regierungssitz des Landes und zählt zu den größten, dichtesten und am schnellsten wachsenden Megastädten der Welt. Bangladesch ist zudem die Heimat einer spannenden Architekturszene. Zu den bekanntesten VertreterInnen zählt Marina Tabassum, deren Projekte von prestigeträchtigen Kulturbauten über sakrale Architektur bis zu mobilen Flüchtlingsunterkünften reichen. Ein Beispiel ist die Bait-Ur-Rouf-Moschee in Dhaka, bei der die Architektin auf die Anfänge des Moscheenbaus zurückgriff und eine fein komponierte Struktur aus Licht und Raum schuf. Der Bau, für den sie 2016 den Aga Khan Award für Architektur erhielt, dient nicht nur als Gebetstätte, sondern zusätzlich als Gemeinschaftszentrum für die BewohnerInnen des Quartiers.

Kürzlich zeigte die Ausstellung "Marina Tabassum Architects: In Bangladesh" im Architekturmuseum der Pinakothek der Moderne in München erstmals eine Werkschau der Architektin. Dort konnten unter anderem ihre Projekte in Form von Plänen, Modellen, Filmen, großformatigen Fotos und sogar ganzen Gebäuden besichtigt werden. So wurde etwa ein traditionelles Haus aus Bangladesch im Eingangsbereich der Pinakothek aufgebaut, das Marina Tabassum als Inspiration für ihre Bauten im ländlichen Raum diente. Begleitend dazu gibt es die Monografie "Marina Tabassum Architecture: My Journey", die im ArchiTangle Verlag erschienen ist und Einblicke in eine Architekturszene bietet, die vor wenigen Jahren im Westen noch gänzlich unbekannt war. Den Anfang machte 2017 eine Ausstellung im S AM, dem Schweizerischen Architekturmuseum in Basel, die Eindrücke über das aktuelle Baugeschehen in Bangladesch vermittelte. Unter dem Titel "Bengal Stream. Die vibrierende Architekturszene von Bangladesch" wurden über 60 Projekte von ArchitektInnen gezeigt, die zuvor vom Architekturfotografen Iwan Baan dokumentiert worden waren. Hinzu kam eine gleichnamige, im Christoph Merian Verlag erschienene Publikation.

Die jeweiligen Ausstellungen und Bücher lenken den Blick auf ein Land mit einer vielschichtigen Baukultur, die fremd und gleichzeitig vertraut wirkt. Wie die auf Bambus und luftgetrocknetem Lehm basierende Bauform der bengalischen Hütte, die von den englischen Kolonialherren in Anlehnung an die "bengal hut" als "Bungalow" sprachlich exportiert wurde. Daneben existiert eine Backstein- und Terrakottatradition, die den Ziegel zu einem der typischen Baumaterialien von Bangladesch macht. Zum Einsatz kam er etwa bei Moscheebauten oder den buddhistischen und hinduistischen Klöstern. Auch heute noch findet er sich in modernen Bauten wie etwa dem von Louis Kahn entworfenen Parlamentsgebäude in Dhaka, eines der großen architektonischen Meisterwerke des 20. Jahrhunderts. Dessen Erbe wirkt in die Architektur von Bangladesch hinein, ebenso wie die Arbeiten von Muzharul Islam, der Kahn nach Bangladesch holte und zu einer der prägendsten Figuren der hiesigen Architekturmoderne wurde. Aus dessen Umfeld entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten eine eigenständige Szene, die in ihrer Tätigkeit zwischen lokaler Tradition und internationalen Einflüssen changiert.

Khudi Bari, Bangladesch

Das gilt auch für Marina Tabassum. Nach ihrem Architekturstudium an der Bangladesh University of Engineering and Technology BUET war sie zunächst zehn Jahre lang Partnerin beim Architekturbüro Urbana, das sie 1995 zusammen mit Kashef Mahboob Chowdhury gegründet hatte. In dieser Zeit gewannen die beiden den Wettbewerb für das Independence Monument and Museum of Independence in Dhaka, das sich mit der Geschichte des Landes und seinem Kampf um Unabhängigkeit auseinandersetzt. Dafür platzierten sie ein Unabhängigkeitsdenkmal auf einem neu gestalteten Platz in Form eines schlanken, mit Glas verkleideten Turms. Das eigentliche Museum wurde unterirdisch angeordnet, ebenso wie eine Wassersäule, die an die Opfer des Bangladesch-Kriegs 1971 erinnern soll. "Die Unabhängigkeit Bangladeschs ist eine Geschichte der Dualität: Sie wurde durch die selbstlose Aufopferung eines brutalen Krieges erlangt. Zwei Lichtsäulen definieren die beiden Ereignisse. Die eine steht auf dem Platz als Leuchtfeuer der Hoffnung, die andere ist eine Wassersäule, die den Schmerz des Verlustes einfängt. Die eine ist ohne die andere nicht vollständig", erläutert die Architektin das Konzept.

2005 gründete Tabassum ihr eigenes Büro und verwirklichte unter anderem die bereits erwähnte Bait-Ur-Rouf-Moschee in Dhaka, die ihr bislang bekanntestes Werk sein dürfte. Wie andere Projekte der hiesigen Architekturszene fasziniert auch dieser Bau durch seinen Fokus auf Raum, Material und Licht. "Die Moschee ist ein Zufluchtsort in einem dichten Viertel. Die Klarheit des Raums ohne Hierarchie ist von entscheidender Bedeutung. Anstatt symbolische Elemente wie Kuppeln und Minarette zu verherrlichen, schien es richtig, sich auf die Spiritualität des Raums zu konzentrieren. Das Licht wurde zu einem wichtigen Gestaltungselement", sagt die Architektin dazu. Von außen präsentiert sich das Gebäude als geschlossener Kubus, der sich beim Betreten in einzelnen Raumschichten auflöst. So ist dem Volumen eine kreisförmige Hülle aus Backstein eingeschrieben, in die wiederum ein gedrehter Betonkubus als Gebetsraum eingefügt ist. Die BesucherInnen gelangen von der Straße nach und nach an einen Ort der Stille, der von der in Zenitallicht getauchten kreisförmigen Backsteinhülle umfasst wird. Über dem Gebetsraum ordnete die Architektin punktförmige Öffnungen an, die an einen Sternenhimmel erinnern. Es ist der wohl poetischste Moment des Gebäudes, wenn die dadurch erzeugten Lichtpunkte sich frei im ganzen Raum verteilen.

Neben dem Zusammenspiel aus Licht und Raum achtete Marina Tabassum auch auf ein angenehmes Raumklima in der Bait-Ur-Rouf-Moschee. So sorgen die Raumschichten im Zusammenspiel mit der perforierten Ziegelfassade und den nach oben offenen Lichtschächten für eine natürliche Durchlüftung. Dabei verzichtet sie bewusst auf technische Lösungen: "Ein Gebäude muss ohne künstliche Hilfsmittel atmen können. Die Durchlässigkeit der Gebäudehülle, offene Höfe und lange Veranden sind brillante Traditionen aus der Zeit vor der Klimaanlage, die heute noch ihre Gültigkeit haben", erklärt sie. Das Thema eines an das regionale Klima angepassten Bauens findet sich auch in anderen Projekten der Architektin, wie dem AR Tower, einem achtgeschossigen Bürobau im Westen Dhakas, der 2022 fertig gestellt wurde. Der expressive Baukörper, der als eine Art Landmarke in das heterogene Stadtviertel hineinwirkt, weist eine Fassade aus Backstein auf, die durch vertikale Fensteröffnungen gegliedert ist. Ein horizontaler Sonnenschutz und diagonale Lamellen ermöglichen Licht und Schattenspiele im Verlauf des Tages. Gleichzeitig reduzieren sie zusammen mit den beweglichen Glasöffnungen die Wärmeentwicklung im Innern. Ein ähnliches Konzept verfolgt das Projekt Comfort Reverie, ein zwölfstöckiger Wohnturm, der sich ebenfalls in Dhaka befindet. Die rhythmisch aufgefächerte Backsteinfassade ist so konzipiert, dass die Fensteröffnungen vor der tiefstehenden Westsonne geschützt sind und die Luft im Gebäude zirkulieren kann.

Die Bauten von Marina Tabassum finden sich aber nicht nur in Dhaka, sondern auch in ländlichen Gegenden. Ein Beispiel ist das Panigram Resort, ein umwelt- und sozialverträgliches Tourismusprojekt in Jessore, das 2018 fertig gestellt wurde. Der Entwurf beruht auf einer Auseinandersetzung mit der traditionellen Architektur des Ortes. Zudem wurden die BewohnerInnen der Nachbardörfer in den Planungs- und Bauprozess miteinbezogen. "Das ländliche Bangladesch ist einmalig schön – die Seele des Deltalandes. Es kam mir wie ein Verbrechen vor, in diese Stille mit dem dröhnenden Lärm der Architektur einzudringen. Panigram bot die Gelegenheit, den verlorenen Stolz und den Glauben an die Weisheit des Landes wiederzuerwecken, die in Hunderten von Jahren der Besiedlung des Deltas entstanden sind," sagt Marina Tabassum über das Projekt. Die Häuser und deren Anordnung greifen die traditionellen strohgedeckten Bambus- und Lehmhütten der Umgebung auf und bilden Innenhöfe aus. Ein Blickfang ist das traditionelle Strohdach, für das die Architektin eine Holzkonstruktion entwickelte, die ihm eine organische Form verleiht. Hinzu kommt ein gemauerter Sockel, der den Häusern Schutz vor Überschwemmungen bietet.

Die Auseinandersetzung mit der Kultur und Gesellschaft von Bangladesch zeigt sich nicht zuletzt an den sozialen Projekten der Architektin, mit denen sie die Umwelt- und Lebensbedingungen ärmerer Menschen verbessern will. Dazu zählt etwa das Projekt Khudi Bari, was so viel wie "kleines Haus" bedeutet. Es soll als Schutz für die in den Sandbetten des Flusses Meghna lebende marginalisierte landlose Bevölkerung dienen – eine kostengünstige modulare Hauseinheit, die einfach zu bauen ist und in kurzer Zeit errichtet werden kann. Wie beim Panigram Resort ist das Projekt von der traditionellen Architektur des bengalischen Deltas inspiriert und basiert auf der Verwendung lokaler Materialien wie Bambus. Die nutzbare Fläche von 128 Quadratmetern ist auf zwei Ebenen verteilt, wobei sich die BewohnerInnen bei Hochwasser auf die obere Ebene zurückziehen können. Die dem Projekt zugrundeliegende Struktur ist skalierbar und kann so auch für den Bau größerer Gebäude verwendet werden.

Die Arbeiten von Marina Tabassum, die vom Bauen in großer urbaner Dichte, über das Aufgreifen der traditionellen Baukultur im ländlichen Raum bis zu sozialen Projekten und einer Auseinandersetzung mit der Geschichte von Bangladesch reichen, zeigt den vielschichtigen Ansatz der Architektin. Hinzu kommt ein oftmals prozesshafter Charakter, wie etwa beim Panigram Resort, wo die lokale Bevölkerung in die Planung miteinbezogen wurde. Nicht zuletzt reagiert sie in ihren Gebäuden auf das tropische Klima ihres Landes und dessen spezifische Wechselwirkung von Wasser und Land. Die häufigen Überschwemmungen, die gerade im ländlichen Raum das Leben der Menschen prägen, berücksichtigt sie in ihren Projekten. Dafür entwickelt sie Lösungen, die sowohl von der heimischen Baukultur als auch von internationalen Einflüssen inspiriert sind und entwirft Gebäude, die im Einklang mit dem Wasser stehen. 2022 wurde die Architektin mit dem bcp Lifetime Achievement Award der Lissabonner Triennale für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

Buchtipps:

Marina Tabassum Architecture: My Journey
Edited by Cristina Steingräber
Hardcover, 288 Seiten, Sprache: Englisch
ArchiTangle, 2023
ISBN 978-3-96680-012-9
68 Euro

Bengal Stream – The Vibrant Architecture Scene of Bangladesh
S AM Schweizerisches Architekturmuseum
Niklaus Graber, Andreas Ruby, Viviane Ehrensberger (Hg.)
Hardcover, 448 Seiten, Sprache: Englisch
Christoph Merian Verlag, 2017
ISBN 978-3-85616-843-8
68 Euro

Marina Tabassum Architects - Ausstellungsfilm - Exhibition Tour Film
This Being Human Episode 21: Marina Tabassum