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Mae-ling Lokko: Treshold of Return

Neue Rituale der Umwandlung

Mae-ling Lokko interessiert sich für die vermeintlichen Nebenschauplätze. Was normalerweise kaum erzählt oder beachtet wird, was an den Seitenrändern herunterfällt, das liest sie auf. Sammelt, sortiert, beobachtet und studiert. Es ist dieser analytisch-präzise wie fantasiebegabte Blick, der Lokkos Arbeit auszeichnet.
von Katharina Juliana Cichosch | 23.03.2023

Mae-ling Lokko nimmt die Dinge und Zusammenhänge, wie sie sind, und sieht zugleich noch ganz andere Potenziale in ihnen: wie sie sein könnten. Ohne Idealisierung, allein mit den Möglichkeiten, die schon in den Dingen selbst angelegt sind. Welch sinnlichen Resultate dabei herauskommen, konnte man zum Beispiel 2019 in Berlin erleben. Mae-ling Lokko war eingeladen, neue Prototypen für eine noch zu entstehende, wünschenswerte Zukunft zu entwickeln – im Sinne einer "praktischen Futurologie", die sich das Netzwerk von Housing The Human zum Leitbild gesetzt hatte. Damit passte die Architekturwissenschaftlerin, Designerin und Dozentin an der Yale University’s School of Architecture hervorragend hierher: Ihre Agrocologies sind ständig im Wandel begriffene Anschauungsobjekte, die während der Projektphase neu geschöpft und direkt verwendet werden. Schalen, Teller, Aufbewahrungsgefäße, abgeformt aus vorhandenen Küchenobjekten, sogar Stühle, eine Spüle und Wandpaneele wurden hier aus Myzelium gefertigt, gefüttert mit Biomasse aus der Landwirtschaft sowie der Schauküche vor Ort. Zur Happy Hour gab es Drinks und Gerichte aus Zutaten, die später auch den pilzbasierten Rohstoff anreichern würden. Als "rituals of waste transformation", Rituale der Umwandlung organischer Abfälle, bezeichnete Lokko, was hier durch zwei PerformerInnen während der Projektlaufzeit zelebriert wurde. Eine Einladung, erklärt sie im zugehörigen Ausstellungsvideo, "um über individuelle Verantwortung nachzudenken, und darüber, den Abfall in unserem eigenen Zuhause umzuwandeln.“

Mae-ling Lokko

Lokkos Praxis agiert an der Schnittstelle aus Gestaltung und Kunst, Recherche und Praxis, Lehre und Forschung, Überlegungen zu Architektur und Landwirtschaft. Entsprechend breit gefächert sind die Formen, in denen ihre Arbeit erscheint: Als universitäres Rechercheprojekt oder Museumsausstellung, als Design-Prototyp, Vortrag oder partizipatives Mitmach-Event. Mit der Frage, was sich aus unseren Haushaltsabfällen noch alles schöpfen ließe, beschäftigt sie sich regelmäßig. Auch landwirtschaftliche Kreisläufe werden von ihr auf solche ungesehenen, unbeschriebenen Potenziale hin durchleuchtet. Zum Beispiel der Kokosnuss-Anbau in Ghana. Mae-ling Lokko, die als Kind einer philippinischen Mutter und eines ghanaischen Vaters in Saudi-Arabien geboren wurde, verbrachte längere Zeit im Land und mit den KleinbauerInnen, die den Hunger der Welt nach dem Lifestyle-Food stillen helfen. Ihre Beobachtungen notierte sie. Nicht nur den landwirtschaftlichen Anbau und seine spezifischen Bedingungen vor Ort, sondern auch die sozialen Bindungen, die er mit sich bringt, und die Auswirkungen kolonialer Ausbeutung nimmt Lokko in ihren "Coconut Diaries" in den Fokus. Und sie findet auch hier wieder einen Nebendarsteller mit viel Potenzial: Kokosfaser.

Kokosfaser fällt bei der Produktion auf den Kleinplantagen permanent als Nebenprodukt an. Mae-ling Lokko überlegte nicht nur, was sich aus dem Rohstoff herstellen ließe, sondern auch, wie seine AnbauerInnen vor Ort direkt und ohne Zwischenhändler von ihm profitieren könnten – in Zusammenarbeit mit landwirtschaftlichen Kooperativen vor Ort sogar problemlos ebenso in einem größeren Maßstab. Auch hier kamen ihr wieder Pilze zur Hilfe, die die Kokosfasern in noch wertvolleres Material regelrecht aufwerten. Das Resultat liegt in Produktform vor: Ausgesprochen stabile Faserplatten von zugleich geringer Dichte, die für unterschiedlichste Formate und Anwendungen angepasst werden können (in Ausstellungen zeigte Lokko bereits, wie formschön sich das Material bearbeiten lässt). Ideal geeignet für das heiß-feuchte Klima vor Ort in Accra. Ein im besten Sinne nachhaltiges Baumaterial, das ohne größeren finanziellen oder energetischen Aufwand herstellbar, in unterschiedlichen Kontexten und Klimazonen leicht zu adaptieren und bei Bedarf schnell kompostierbar ist.

Obwohl Lokkos Arbeiten natürlich in Kontexten wie Upcycling oder der Entwicklung sozial wie ökologisch nachhaltiger Baumaterialien widerhallen, wäre ihre Praxis mit solchen Schlagwörtern allein nur mäßig umschrieben. Die Gestalterin und Architekturwissenschaftlerin will mehr. Was, wenn es nicht mehr allein darum geht, Baumaterialien für die Bauphase allein zu gestalten – sondern wenn schon im Material selbst das ultimative Ziel angelegt ist, das Gebaute irgendwann wieder in Erde zurück zu verwandeln? In der Gestaltung des Wandels, der gerade überall zur gleichen Zeit angerufen wird, kann es offenbar nicht um eine Verschönerung des status quo gehen. Mae-ling Lokkos Vorstellung einer Wende ist grundlegend. Auch, wenn man ihren zugänglichen, simpel scheinenden, den Menschen stets einbeziehenden Arbeiten nicht unbedingt ansieht, wie radikal sie sind.