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Regine Leibinger

Blickpunkt Architektinnen – Regine Leibinger

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie das von Regine Leibinger, die mit einem besonderen Interesse für raffinierte Tragwerke, neuartigen Bauweisen und Materialien außergewöhnliche Bauten entwirft.
von Falk Jaeger | 23.01.2023

Weltgewandt und bodenständig, die Berliner Architektin Regine Leibinger ist an den Universitäten in den USA, bei internationalen Symposien und Vorträgen ebenso präsent wir in ihrer schwäbischen Heimat. Sie wurde zwar mit dem goldenen Löffel im Mund geboren, erfuhr aber im pietistisch geprägten Elternhaus der Fabrikantenfamilie Leibinger (Trumpf) eine fördernde wie fordernde Erziehung – mit Fleiß, Bodenständigkeit, Bescheidenheit und Empathie als Werten, aber auch mit dem Blick für die großen Zusammenhänge und für die Welt jenseits der Ländle-Grenzen. Und natürlich erwirbt man bei solcher Herkunft in der Regel auch ein natürliches Selbstbewusstsein und souveränes Auftreten.

Der Einstieg in die elterliche Firma war für sie keine Option. Regine Leibinger wollte zuerst Schauspielerin werden. Doch das kunst- und architekturaffine Elternhaus brachte sie dem Bauen näher. Mehrere Parisaufenthalte haben sie diesbezüglich geprägt, sodass nach dem Abitur der Beginn des Architekturstudiums feststand. Studiert hat sie in Berlin bei Otto Steidle und Benedikt Tonon. 1989 folgte der Master in Harvard. Sie lernte dort den Amerikaner Frank Barkow kennen, der zum Büro- und Lebenspartner wurde. Nach einem Jahr Rom folgte 1993 die Bürogründung in Berlin und der Einstieg in das Wettbewerbswesen. Zunächst gewann das Büro zwei Wettbewerbe für Kitas in Berlin. Das Projekt "Biosphäre" in Potsdam mit seinem radikalen Konzept war dann so etwas wie der Durchbruch. Das zwischen Erdwällen eingebundene Ausstellungsgebäude mit Tropenhalle entstand im Rahmen der Bundesgartenschau 2001 auf einem ehemaligen Militärgelände. Der Vater wollte, dass sie wieder nach Stuttgart kommt. Doch dort wäre der Name Leibinger zu bekannt gewesen, die beiden wollten sich stattdessen eine Existenz in Berlin aufbauen.1998 startete das Büro dann doch die Arbeit für die Firma Trumpf und wurde zu deren "Hausarchitekt". Im Schwäbischen sagt man, die Direktaufträge haben ein gewisses "G´schmäckle", aber Regine Leibinger hat es als ihren Beitrag zum Familienunternehmen gesehen, und im Übrigen unterlagen die Bauvorhaben allesamt dem im Konzern üblichen strengen Rotstiftregime. Vor allem für den Stammsitz Ditzingen bei Stuttgart, aber auch für die Zweigniederlassungen und Vertretungen in Europa und Übersee, in Freiburg, im niederländischen Hengelo und im schweizerischen Grüsch, in Chicago und in Seoul, um nur einige Standorte zu nennen, entstanden Fabrikanlagen, Verwaltungsgebäude, Forschungseinrichtungen und Kindertagesstätte, Parkhaus und Casino.

Barkow Leibinger – Revolutions of Choice, Haus am Waldsee, Berlin, 2020

Modernismus als stilistische Aussage wird man in Barkow Leibingers Portfolie nicht finden. Bautypologische Formen oder baukünstlerische Archetypen als Vorgaben für ihre Architektur interessieren sie nicht. Mit dem Begriff "Stil" kommt man nicht weiter. Die formale Ausprägung ihrer Bauten ergeben sich, wie bei vielen ArchitektInnen der Moderne, aus den funktionalen Zusammenhängen und deren nüchterner räumlicher Konkretisierung, insofern stehen sie in der Nachfolge der "Form follows function"-Moderne. Doch Barkow Leibinger sind, anders als viele KollegInnen des modernen Mainstreams, Sonderformen nicht grundsätzlich abgeneigt. Wenn auch die ausgefallenen Formen in diesem Kontext der Erklärung bedürfen. Denn sie entspringen immer einem besonderen Interesse für raffinierte Tragwerke. Wenn besondere Konstruktionsweisen zu besonderen Formen führen, dann machen sie das. Zum Beispiel den hexagonalen Bau des Trumpf Education Center in Ditzingen. Oder das polygonale, von der wabenförmigen, hölzernen Deckenkonstruktion geprägte Casino ebendort. Im Übrigen finden die Bauten zu ihrer formalen Aussage über das unkaschierte Material und dessen Anwendungsweisen. Letztlich also mehr "Form follows construction".

Wohnhaus Prenzlauer Berg, Berlin, 2016

Das Interesse an neuartigen Bauweisen und Materialien mag auch aus dem elterlichen Betrieb kommen, einem Weltmarktführer der Lasertechnik und Laser-Materialverarbeitung. Was lag näher, als die Technik auch im Bauwesen einzusetzen? Das Pförtnergebäude in Ditzingen mit seinem verblüffenden, 20 Meter auskragenden und nur 50 Zentimeter starken Kragdach ist mit lasergeschnittenen Stahlblechen gebaut worden. Neue Bauweisen als Beitrag zum nachhaltigeren, da materialsparenden Bauen ist die Blickrichtung. Dass dieses Interesse auch seine künstlerisch-poetischen Aspekte hat, zeigte die Ausstellung "Revolutions of Choice" 2020 im Berliner Haus am Waldsee, bei der Barkow Leibinger Materialproben und Produktionstestergebnisse wie Exponate einer Kunstausstellung präsentierten, einschließlich eines Pavillons aus verschlungenen Edelstahlblechbändern im Garten. Avancierte Baukonstruktionen sind nur in enger Zusammenarbeit mit den TragwerksplanerInnen zu meistern. Es gibt Überschneidungen mit der Arbeit von Achim Menges, und es gibt natürlich die Zusammenarbeit mit den innovativsten und renommiertesten IngenieurInnen, allen voran Werner Sobek und sbp schlaich bergermann partner. Die Intention, Tragwerke und Wandaufbau zur Einsparung von Ressourcen zu optimieren und zu minimieren, steht dabei in der Tradition Richard Buckminster Fullers sowie Frei Ottos, aus dessen Einflusssphäre die IngenieurInnen kommen.

HAWE-Werk Kaufbeuren, 2014

Jüngst sind Barkow Leibinger auch unter die HochhausarchitektInnen gegangen. Der TourTotal neben dem Berliner Hauptbahnhof bringt es auf 70 Meter Bauhöhe. Den Berliner Höhenrekord wird der in Bau befindliche Multifunktionsturm Estrel Tower in einem Gewerbegebiet Neuköllns einnehmen. Der Turm, eine Erweiterung des Kongresszentrums und größten Hotels am Platz mit 525 Hotelzimmern, Spabereich, Büroetagen und Aussichtsrestaurant, wird mit 44 Geschossen eine Höhe von 175 Metern erreichen. Das Prinzip der gefalteten Fassade des Tour Total wird beim Estrel noch weiterentwickelt und die Fassade des Saalvorbaus sowie die Fassaden des Turms beleben. Senkrechte Lamellen prägen auch das Bild des Grünen City Hotels "Stadthaus M1" im Freiburger Öko-Quartier Vauban, das alle nachhaltigen Parameter erfüllt, die in der Modellstadt Vauban geboten sind. Auch Wohnungsbau sieht bei Barkow Leibinger anders aus als gewohnt. Die rigiden Abstandsregelungen in einem Innenhof in Berlin Prenzlauer Berg nahmen sie zum Anlass, einen Baukörper zu entwickeln, der wie eine Kinderzeichnung aussieht: eingeschossig, mit dreigeschossigem, steilem Dachkörper, umhüllt mit einer vielfarbigen Ziegelhaut. Ein Wohnhaus in Karlshorst, in einem Quartier hundert Jahre alter Einfamilienhäuser, hat eine verschobene Grundfläche, ein windschiefes Satteldach über Eck und verstreut verteilte Fensteröffnungen unterschiedlichsten Formats, wodurch sich die Stockwerksteilung nach außen nicht abbildet. Aber natürlich ist die Lage und Form der Fenster funktional, sprich aus den Innenräumen heraus begründbar. Ein zwölfgeschossiges Wohnhaus mit 70 Apartments soll in Zusammenarbeit mit sbp schlaich bergermann partner im Berliner Bezirk Friedrichshain entstehen – wiederum in ungewohnter Bautechnik, nämlich mit 60 Zentimeter starken Außenwänden aus Infraleichtbeton, der einen einschaligen Wandaufbau und somit eine erheblich vereinfachte Bauweise ermöglicht.

Es wird nicht kommuniziert, aber von außen betrachtet haben Barkow und Leibinger gleichen Anteil an den Entwurfsleistungen und Entwicklungen. Beide haben einen hohen Anspruch an ihre Arbeit und an sich selbst, ergänzen und korrigieren sich symbiotisch. Alle Projekte werden gemeinsam bearbeitet. Sie haben oft auch gemeinsam an den Hochschulen unterrichtet. Bei der Führung der 80 MitarbeiterInnen tritt sie etwas entschiedener auf, während er die lockere amerikanische Art pflegt, was die MitarbeiterInnen cool finden. Da das Büro inzwischen eine Dependance in den USA, seinen Hauptsitz aber Deutschland hat und schwerpunktmäßig hier tätig ist, wird es nach außen mehrheitlich von Regine Leibinger vertreten. Auch vom kommunikativen Naturell her ist sie immer mehr präsent, allein wegen ihrer unternehmerischen Veranlagung. Das Stehvermögen als Frau in der Szene aufzubringen, fand sie nicht einfach: "Gerade in Jurys muss man als Frau doppelt gut sei, um sich zu behaupten." Das sei ein gesellschaftlich-kulturelles Problem, das sich nur langsam auflöse. Sie führt ihr Standing auch auf die Erziehung zurück. Die Eltern haben die Töchter und den Sohn gleich gefördert und gefordert. Souveränität haben sie entwickelt, aber "wir wurden nicht mit Lob überschüttet". Es gab keine traditionelle Frauenrolle in der Familie, alle mussten die gleiche Leistung bringen. Stattdessen galt das Credo "ihr seid so privilegiert, ihr müsst etwas aus euch machen und auch einen Beitrag für die Gesellschaft leisten."