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Tofu-Fabrik im Dorf Caizhai

Architektonische Nadelstiche

Seit 2014 hat die chinesische Architektin Xu Tiantian mit ihrem Büro DnA über 20 Projekte im ländlichen Raum Chinas umgesetzt. Wie eine architektonische Akupunktur sollen die kleinen, bescheidenen Projekte helfen, den Dörfern wieder eine Zukunft zu geben. Die "Songyang Story" ist beeindruckend – und voller Hoffnung.
von Florian Heilmeyer | 02.07.2021

Wenn von Architektur und Städtebau in China die Rede ist, dann meist von den gewaltigen Bauprojekten in den Großstädten – oder gleich vom Bau kompletter Neustädte. Jüngst wies der amerikanische Soziologe David Harvey auf eine unglaubliche Zahl hin, wonach in China zwischen 2011 und 2013 etwa 6.500 Millionen Tonnen Zement verbaut wurden. Damit liegt der Verbrauch Chinas in nur drei Jahren etwa 45 Prozent über dem der USA im gesamten 20. Jahrhundert. Mit dem Blick aus Europa erscheint dort ohnehin immer alles dreimal schneller und zehnmal größer zu sein. China – ein Land auf Speed.

Gegen den Hochgeschwindigkeitsurbanismus

Aber es geht auch anders: Zwar lässt sich dem chinesischen Hochgeschwindigkeitsurbanismus keine echte Schwächephase nachweisen, da in den Metropolregionen und entlang der Küste weiter wie wild gebaut wird. Dennoch hat sich auch in China die Diskussion um einen nachhaltigeren und langsameren Städtebau in den letzten Jahrzehnten deutlich bewegt. Die Impulse kommen dabei eher aus dem eigenen Land: Es sind vor allem jüngere chinesische ArchitektInnen, StadtplanerInnen und PolitikerInnen, viele von ihnen inzwischen mit internationalen Lebensläufen, die mit kleineren, bescheidenen, dezentralen Projekten überall im Land neue Wege aufzeigen. Dazu gehören auch die über 21 kleinen Neu- und Umbauten, die das Pekinger Büro DnA mittlerweile in der Region Songyang verwirklicht hat. Eine Ausstellung mit einer Auswahl dieser Projekte war ab 2018 bereits in Europa zu sehen mit Stationen in Berlin, Venedig und Wien. Nun ist ein prachtvolles Buch bei Park Books erschienen, das die kleinmaßstäblichen Bauten hervorragend dokumentiert und in Szene setzt. Das wirkt zunächst so makellos wie eine gut bebilderte Marketing-Kampagne, aber dann stehen auch nachweislich unabhängige Geister wie Kristin Feireiss, Saskia Sassen und Eduard Kögel hinter der Verbreitung dieses Projekts. Und so scheint die Art der Präsentation hier im Gegenteil einen anderen Zweck zu haben: diesen wunderbar kleinen, bescheidenen und eher unauffälligen Projekten endlich einmal die Bedeutung zu vermitteln, die sie im Gegensatz zu so manchem nur oberflächlich glitzernden Flagship-Gebäude der StararchitektInnen auch tatsächlich verdienen.

Zentrum für Wasserschutz

Denn die "Songyang Story", so der Titel des Buchs, ist so beeindruckend wie inspirierend. Sie begann 2013. Damals beschloss die Landkreisverwaltung, etwas gegen die verheerende Landflucht zu unternehmen: In Songyang liegt keine größere Stadt. Über 1.406 Quadratkilometer liegen gut verstreut etwa 400 Dörfer mit zuletzt noch 230.000 Einwohner – insgesamt. Die Provinzhauptstadt Songyang ist mit 50.000 Bewohnern bereits die größte Siedlung. Zum Vergleich: Zwei Autostunden entfernt liegt Jinhua mit über sechs Millionen Einwohnern und nur eine halbe Stunde länger dauert die Fahrt in die Küstenmetropole Wenzhou mit etwa 10 Millionen Menschen. Wie zwei Magnete ziehen diese Städte die jungen Menschen vom Land weg. Auf den Dörfern bleiben die Alten zurück, die sich oft um die Enkelkinder kümmern. In China ist inzwischen vom "village hollowing" die Rede, von der Aushöhlung der Dorfgemeinschaften, die an vielen Orten längst existenzielle Formen angenommen hat. Die Dörfer verfallen und sterben.

Dabei hat Songyang noch einige Vorteile gegenüber anderen, abgelegeneren Regionen. Die Region verfügt einerseits über eine wunderschöne, weitgehend unberührte Natur und viel Platz, ist aber gleichzeitig von den Großstädten noch einigermaßen gut erreichbar. Die Kreisverwaltung wollte jedoch nicht alleine auf Tourismus setzen. Vor allem sollten die lokale Ökonomie und das traditionelle Handwerk gestärkt werden. Man entschied sich explizit gegen ein einzelnes, glitzerndes Gebäude und investierte stattdessen in eine Vielzahl kleiner und kleinster Projekte, die in engem Austausch mit den jeweiligen Dorfgemeinschaften entwickelt werden sollten – eine umfassende Strategie der Nachhaltigkeit. Dafür wurden ein paar erste Architekturbüros ausgesucht. Als besonders fruchtbar erwies sich die Zusammenarbeit mit DnA, dem Büro von Xu Tiantian.

Freizeitzentrum Dushan

Eine schöne Tofu-Fabrik ist nicht genug

Xu ist eine der wichtigsten Protagonistinnen einer jungen und ambitionierten Architektur in China. Sie gilt als erste Frau in China, die ein eigenes Büro ohne männlichen Partner eröffnete, das war 2004. Xu hatte zuvor in Peking und Harvard studiert und anschließend in Boston und bei OMA in Rotterdam gearbeitet. Aufgewachsen ist Xu jedoch in der Provinz Fujian, eine Region mit ähnlichen Strukturen und Problemen wie Songyang. Vielleicht lag ihr deswegen das Arbeiten in Songyang so sehr, dass sich aus jeder Zusammenarbeit immer wieder neue Kontakte ergaben und Projekte folgten. Inzwischen sind es über 20 realisierte Gebäude: renovierte Altbauten, neue Fabriken und Handwerkszentren, Aussichtsplattformen, Treffpunkte, Gemeinschafts- und Kulturzentren. Auch eine Handvoll kleinerer Museen, aber das soll nicht den Schwerpunkt bilden.

Das beste Beispiel, was in Songyang aktuell entsteht, ist die Tofu-Fabrik im kleinen Dorf Caizhai. Die Fabrik verteilt sich auf mehrere kleine Holzhäuser, die sich wie eine Kette entlang einer kleinen Straße den Berghang hinunterziehen. So passt diese zur kleinteiligen Struktur des Dorfs. Drinnen gehen die BewohnerInnen ihrer traditionellen Arbeit nach und von der Straße aus können Passanten oder Touristen den Arbeitsablauf durch großformatige Fenster verfolgen. Am unteren Ende der Fabrik liegt ein Raum, in dem man die Produkte probieren und natürlich auch erwerben kann. Es ist nicht nur die Architektur, die hier etwas bewegt: Seit Jahrhunderten wird in Caizhai von den Familien Tofu hergestellt, allerdings ursprünglich für den Eigenbedarf. Das wurde immer weniger marktfähig und entsprach nicht den Hygienevorschriften der Supermärkte. Die Kinder sahen keine Zukunft im Handwerk der Eltern. Die schöne Fabrik bietet nun nicht nur einen ästhetischen Hingucker und ein kleines Touristenziel, sondern auch ökonomischere und hygienischere Herstellungsmöglichkeiten. Betrieben wird sie von einer eigens gegründeten Dorfkooperative, so dass die Gewinne im Dorf bleiben. Seit die Fabrik 2018 in Betrieb ging, seien schon 30 junge Dörfler zurückgekommen, heißt es, und die Besucherzahlen des Dorfes hätten sich verzwanzigfacht. Für ganz Songyang heißt es, der Tourismus habe sich seit 2013 verfünffacht und 6.000 Menschen seien aus den Städten zurückgekehrt. Nun tut man gut daran, mit diesen Zahlen vorsichtig zu sein. Aber auch falls sie anders ausfallen sollten, sind die Projekte und ihr Ideenreichtum beeindruckend. Denn es geht nicht um die eine Lösung, die "von oben" abgeworfen und rasch multipliziert wird, sondern um eine bedächtige und gründliche Zusammenarbeit mit der jeweiligen Gemeinschaft, um individuelle Projekte zu entwickeln. Übergreifende Themen sind die Bewahrung von alter Bausubstanz, das Nutzen traditioneller Materialien und Bautechniken, sowie die Stärkung der lokalen Ökonomie. Es ist im Grunde eine Anleitung zur Selbsthilfe.

Wie wichtig dabei die Kontinuität der Arbeit ist, zeigt sich auch an der architektonischen Entwicklung. Die ersten Projekte waren äußerst einfach: Ein offener Pavillon aus Bambus in Damushan als schattiger Treffpunkt für die ArbeiterInnen der umliegenden Teeplantagen. Ein Pavillon aus Kiefernholz in Xiahuangyu, der auf die Möglichkeiten des Holzbaus hinweist in einem Land, in dem sich die meisten Menschen immer noch ein Betonhaus wünschen. Aber auch ein kleines Teehaus aus Beton und Glas in Damushan, in dem nun eine junge Frau aus dem Dorf Teezeremonien für AnwohnerInnen und TouristInnen anbietet und lokalen Tee verkauft. Dann folgten größere Projekte wie die Tofufabrik oder die "Brown Sugar Factory" in Xing, die als minimalistische Stahlstruktur an eine Richard-Serra-Skulptur erinnern kann, und die wie die Tofufabrik sowohl moderne Produktionsstätte wie Verkaufsraum ist. Genauso funktioniert auch die Reiswein-Destilliere in Shantou, die aber eine brutalistische Sichtbetonstruktur mit Ausfachungsfeldern aus rötlichem Backstein zeigt. Und in Dushan windet sich ein Ausstellungs-, Sport- und Veranstaltungszentrum als Holzspirale über einen kleinen See. In der Provinzhauptstadt Songyang wurden einige Straßenräume in einen duftenden Lehrgarten mit traditionellen Heilkräutern der Region verwandelt. Es ist eine Unterschiedlichkeit und ein Ideenreichtum in diesen kleinen Projekten, der von oben eben nicht entstehen kann, sondern alleine auf dem Dialog mit den Bewohnern basiert. Nicht immer ist die Architektur dabei ganz unaufwändig, aber stets klug und individuell auf ihren Zweck zugeschnitten, und oft mit Hilfe lokaler Handwerker in traditionellen Bauweisen umgesetzt.

Ihre Herangehensweise beschreibt Xu als "architektonische Akupunktur": Die Idee, dass man mit einem kleinen Gebäude wie mit einer Nadel am menschlichen Körper vorhandene Kraftfelder aufspürt und ändert, verstärkt und bündelt. Und das ein minimaler Eingriff maximale Wirkung entfalten kann – wenn er gekonnt an der richtigen Stelle angewendet wird. Das Buch ”Songyang Story“ bietet mit der Dokumentation von 16 ausgewählten Projekten einen wunderbaren Einblick in die bisherige Arbeit, die unterdessen fortgeführt wird. In den letzten zwei Jahren sind vier weitere Projekte fertiggestellt worden, darunter eine Seidenfarm, ein maritimes Museum und eines für Poesie. Zehn Projekte sind aktuell in der Planung oder im Bau. Xu arbeitet mit ihrem Büro inzwischen fast ausschließlich an den Projekten in Songyang.

Es ist eine so fruchtbare Arbeit, das bereits kritische Stimmen laut werden und vor einem overtourism warnen, der auch aus anderen Dörfern und Landstrichen schon Karikaturen ihrer selbst hat werden lassen, in denen die Dorfbewohner ihr traditionelles Handwerk nur noch als touristische Events aufführen. Das Buch ist klug genug, auch diese Sorgen im abschließenden Essay des China-Experten Eduard Kögel auftauchen zu lassen. In seinem Text warnt er auch davor das Konzept leichtfertig auf andere Gegenden zu übertragen: Wenn jene weniger gut erreichbar oder landschaftlich weniger reizvoll seien, dann müssten wohl andere Ideen entwickelt werden. Es ist gut, auf diese Punkte hinzuweisen.
Die "Songyang Story" ist keine Blaupause für die Lösung aller Probleme des ländlichen Raums. Sie ist allerdings ein mitreißendes Beispiel dafür, wie es gehen könnte: bedächtig, bescheiden, dezentral und kooperativ. Die Projekte machen Hoffnung, dass auch kleine Nadelstiche große Auswirkungen haben können, wenn sie gekonnt an die richtigen Stellen gesetzt werden. Die größte Hoffnung ist dabei, dass diese Projekte auch in 20 oder 40 Jahren noch Wirkung zeigen – und dass es dann noch so ein schönes Buch geben kann: Die "Songyang Story 2".

The Songyang Story
Architectural Acupuncture as Driver for Rural Revitalisation in China
Projekte von Xu Tiantian, DnA_Beijing
Herausgegeben von Hans-Jürgen Commerell, Kirstin Feireiss
Mit Essays von Eduard Kögel, Saskia Sassen, Remy Sietchiping, Martino Stierli, Wang Jun und Xu Tiantian
ISBN: 3038601861
139 farbige und 72 s/w Abbildungen und Pläne
Sprache: Englisch
Park Books

38 Euro

Landkreis Songyang