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Tatiana Bilbao

Blickpunkt: Architektinnen – Tatiana Bilbao

In unserer Serie "Blickpunkt: Architektinnen" stellen wir Ihnen in regelmäßiger Folge das Werk von Architektinnen vor – wie von Tatiana Bilbao, deren Credo "Gemeinsam planen, gemeinsam bauen, gemeinsam wohnen" ist.
von Falk Jaeger | 10.06.2022

"Der Preis geht an uns alle". Die fast abwehrend, entschuldigend wirkende Aussage in ihrer Dankesrede bei der Verleihung der Auszeichnung "Architekt des Jahres 2022" einer Wohn- und Lifestylezeitschrift ist keine Koketterie. Tatiana Bilbao, die Architektin aus Mexico City, ist bekannt dafür, im Kollektiv zu arbeiten, mit fünf BüropartnerInnen, mit 60 MitarbeiterInnen, mit ihren BauherrInnen, mit den künftigen NutzerInnen ihrer Bauten. Sie wurde 1972 in Mexico City in eine Architektenfamilie geboren - ihr Großvater war Architekt im baskischen Bilbao, dann spanischer Bauminister und siedelte nach der Machtübernahme durch Franco mit seiner Familie nach Mexiko um – und studierte an der Universidad Iberoamericana in Mexico City Design und Architektur. Die Stadtplanerin, Architektin, Hochschullehrerin, Hobbyköchin und Mutter von fünf Kindern ist ein Energiebündel, ein Kommunikationsgenie und eine charmante, allzeit gut gelaunte Motivationskünstlerin. Die Arbeit anfangs in einem Stadtplanungsamt war ihr zu bürokratisch. So gründete sie 1999 kurzerhand mit PartnerInnen einen architektonischen Thinktank Laboratorio de la Ciudad de México und schließlich 2004 ihr eigenes Architekturbüro. Dort geht es anders zu als es in einem international agierenden Büro zu erwarten wäre. In Workshop-Atmosphäre entstehen neue Projekte, vorzugweise durch Arbeit am Modell, mittels künstlerischer Collagen und haptischer Materialproben, weniger am Bildschirm, und schon gar nicht durch Animationen und Renderings.

Bei Wohnprojekten werden die BewohnerInnen, auch die Kinder, eingebunden. Es entstehen in experimentellen kollektiven Prozessen bunte Papiermodelle, die deren vielfältiges Leben und Fantasie abbilden. "Gemeinsam planen, gemeinsam bauen, gemeinsam wohnen", ist das Credo von Tatiana Bilbao. Sie tritt nicht wir der Architekt auf, der als Demiurg die Welt erschaffen will und zu wissen glaubt, was das Beste für die Menschen ist. Der weniger pragmatisch planerische, mehr gesellschaftlich politische Ansatz ihrer Arbeit zeigt sich im ganzen Spektrum des Bauens, vom Masterplan über Landschaftsgestaltung, Quartier- und Objektplanung bis zur sozialen Organisation von Lebenswelten und Nachbarschaften. Dabei bleiben Umwelt und nachhaltige Bauweisen sowie historische Strukturen als wertvolle Identifikationsmerkmale immer im Blick. Gleichzeitig versucht Bilbao mit ihrem Team, trotz knapper Budgets Qualität und Ästhetik nicht zu kurz kommen zu lassen. Sie nutzt die Projekte teurer Villen und Wohnressorts, die sie mit ihrem Studio für privilegierte Bauherren plant, um daraus für die Behausung ärmerer Schichten zu lernen.

Ein von der mexikanischen Regierung beauftragtes Pilotprojekt kostengünstigen Wohnungsbaus präsentierte Bilbao auf der Architekturbiennale 2015 in Chicago. Ein "flexibles Gebäude" mit modularen Komponenten, das wachsen und sich anpassen kann, je nach den sich wandelnden Bedürfnissen der BewohnerInnen. Es gibt auch kommerziellere Projekte aus ihrem Atelier, Villen wie das Ajijic House, aus Stampflehm gebaut, oder die benachbarte Casa Ventura, beide in Monterrey prominent am Hang gelegen. Das Institut Bioinnova auf dem Campus des Monterrey Institute of Technolog, wie eine Skulptur aus gläsernen Kuben gestapelt, könnte auch von Rem Koolhaas stammen und ist mit seiner plastischen Ausdruckskraft auf dem von simplen, gläsernen Boxen dominierten Campus ein Hingucker. Das Aquarium des Meeresforschungszentrums in Mazatlán wiederum ist eine komplexe, im Grundriss an eine De Style-Grafik erinnernde rostrote Betonstruktur aus grün überwucherten Wänden, Schotten und Rotunden, deren Zwischenräume wie zufällig mal offen, mal gedeckt sind. Das Gebäude steht für die Verbindung von Menschenwerk und Natur, für den Kreislauf, in den wir eingebunden sind und für unsere Verpflichtung, als Teil dieser Natur zu agieren, anstatt die Natur zu zerstören. Ein Workshop mit Kindern gab Anregungen für die Inhalte des Museums und seiner Räume.

Wenn bei der Eröffnung ihrer Ausstellung im Berliner Architekturforum Aedes dann plötzlich Zisterziensermönche im Habit erscheinen, hat das einen konkreten Hintergrund. Tatiana Bilbao plant für die Mönche im brandenburgischen Neuzelle einen Klosterneubau. Die heute seltene Bauaufgabe wird sich wohl, sich je nach Spendenaufkommen, über Jahre hinziehen. Die bei Aedes ausgestellten Exponate - raumgreifende Modelle aus Beton, Lehm, Ziegel oder Holz, dazu Handzeichnungen und Collagen von acht aktuellen Projekten, verdeutlichen den ganzheitlichen Ansatz ihrer Arbeitsweise "En Commún", gemeinsam, interdisziplinär, abseits eingefahrener administrieller und kommerzieller Strukturen, ohne Starkult, im Dienst der NutzerInnen und BewohnerInnen. Große Ausstellungen ihres Oeuvres gab es auch in Dänemark und in Wien, mit ihrer Arbeit ist Tatiana Bilbao international präsent wie wenige Kolleginnen. Baukünstlerin in einer scheinbaren "Männerwelt" zu sein, ist für sie kein Stigma. Akzeptanzprobleme habe sie nicht. Im Gegenteil, als einzige namhafte Architektin in ihrem Land sei sie in allen großen Jurys dabei, zu Wettbewerbe eingeladen, in Symposien vertreten. Sie nutzt ihre Sonderstellung offensiv, um ihre Mission zu propagieren. Das gelingt ihr mit einer charmanten Mischung aus Energie, Beharrlichkeit und Überzeugungskraft.

Tatiana Bilbao Estudio, Mexiko-Stadt
En Común

Aedes Architekturforum
Christinenstr. 18–19
10119 Berlin

Öffnungszeiten:

Bis 29. Juni 2022

Di bis Fr 11 – 18:30 Uhr
So und Mo 13 – 17 Uhr

The University of Monterrey (UDEM), Mexiko