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IAA 2017
Per Anhalter in die mobile Zukunft

"Volk ohne Wagen" lautet der provokante Titel einer Streitschrift des Mobilitätsforschers Stephan Rammler. Welche Rezepte für die Mobilität der Zukunft hat er anzubieten?
von Thomas Wagner | 14.09.2017

Dieselskandal, Stickoxide und drohende Fahrverbote in deutschen Innenstädten – das Thema Mobilität treibt im aktuellen Bundestagswahlkampf so manche giftige Blüte. Stephan Rammler, der Transportation Design & Social Sciences an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig lehrt, beschäftigt sich seit langem mit Fragen und Modellen einer neu zu justierenden Mobilität. „Volk ohne Wagen“ nennt er sein eben erschienenes Buch. Dass in dem provokanten Titel das Schlagwort der Nationalsozialisten vom „Volk ohne Raum“ anklingt, mit dem der deutsche Eroberungskrieg im Osten begründet wurde, findet Rammler vermutlich originell und witzig. Es verrät aber im besten Fall ­– das im Prolog ausgebreitete „Märchen vom Volkswagen“ bestätigt es – einen wenig sensiblen Umgang mit der Geschichte. 

Zentral bleibt gleichwohl, ob die „Streitschrift für eine neue Mobilität“ tatsächlich neue, womöglich wegweisende Erkenntnisse enthält. Wer sie liest, wird denn auch ausführlich in die Problematik der Transformation gegenwärtiger Automobil- und Mobilitätspolitik eingeführt. Die Argumentationskette ist dabei aufgebaut wie das Stopp-and-Go in einem stockenden gesellschaftlichen Prozess: Erst lässt Rammler das Thema ­– diesel-technisch überholt –„vorglühen“, geht dann zum „Anfahren“ über, um hernach über zwei Zwischenstopps zu alternativen Szenarien einer künftigen Mobilität weiterzufahren.

Eines erscheint Rammler unumstößlich zu sein: Wir erleben „gerade den Anfang vom Ende der Automobilität wie wir sie bislang kennen“. Deshalb befänden wir uns in einem entscheidenden Moment: „Nach einer langen evolutionären und kontinuierlichen Entwicklung erleben wir heute einen Kairos-Moment in der Automobilgeschichte, eine Situation der krisenhaften Zuspitzung unter Anwendung neuer, in ihren Wirkungen uns noch weitgehend unbekannter Technologien, aus der sich Chancen ergeben könnten. Kairos-Momente sind günstige Zeitpunkte, um etwas grundsätzlich anderes zu machen, womöglich zum Besseren zu wenden.“ Gefragt seien deshalb Neugierde, Aufbruchsbereitschaft und innovative Ideen.

Rammler will ausloten, was es technisch, aber auch politisch und moralisch bedeuten würde, würde Deutschland das Auto abschaffen, ausgerechnet das Land, welches das Automobil „erfunden, perfektioniert und sich ökonomisch wie emotional davon abhängig gemacht hat“. Ganz so dramatisch wie das klingt, nimmt es der Autor dann aber doch nicht, auch wenn er nicht müde wird, „die Notwendigkeit einer beschleunigten automobilen Transformationen“ zu betonen. Also wird die politische Ökonomie des Automobils diskutiert, über den Dieselskandal und zentrale Aspekte des Ressourcenverbrauchs ebenso referiert wie spekulativ an die unterbrochene Geschichte der Elektromobilität erinnert, das Ende der fossilen Epoche beschworen, der enorme Raumverbrauch der Automobilität beklagt und ein fataler Zusammenhang von Erdölwirtschaft und Geopolitik konstatiert.

Für eine Streitschrift aber bleiben Rammlers Darstellungen zu abstrakt und zu sehr verhaftet in der Sprache der verwalteten Welt. Pauschale Behauptungen werden ohne differenzierende Belege ebenso wiederholt wie Stereotype, wie sie tagtäglich in politischen Statements kursieren. Ein ums andere Mal wird die gute Absicht in einem abstrakten, über den Problemen schwebenden soziologischen Jargon begraben, ob vom „Ressourcenkuchen, der gleich bleibt“, von einer Politik „für die Politikbetroffenen“ oder einem „Minimalanforderungsprofil“ die Rede ist. 

Bleibt das „Szenario-Mosaik“ aus drei, nach der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens gestaffelten Visionen, in denen Rammler am Ende des Buches „Schlaglichter auf idealtypisch zugespitzte Entwicklungsvarianten“ zu werfen versucht. Szenario Nummer eins ­– „Weiterfahren und Gas geben“ – entpuppt sich als die weitgehend bekannte „forcierte Hightech-Variante des vernetzten und automatisierten Fahrens“ mittels Elektromobilität, digitaler Vernetzung, autonomem Fahren und einer Sharing-Ökonomie. Im zweiten, gleichfalls politisch gemäßigten Szenario ­– „Weiterfahren und den Motor wechseln“ – schildert Rammler sodann eine intermodal vernetzte, auf Elektroautos basierende Mobilität, die von anderen, etwa von China, leicht überboten und im Gang der Entwicklung schlicht übersprungen werden könnte. 

Das dritte Szenario – „Anhalten und Umsteigen“ – fällt immerhin spekulativer aus. Aus dem Blickwinkel eines Augenzeugen der Zukunft und einer fiktiven „Mobility GmbH“ als „Mobilitätsmakler“ wird eine Gesellschaft geschildert, in der die Herausforderungen einer nachhaltigen und ressourcenschonenden Mobilität erfolgreich bewältigt wurden. Hier kommt zwar endlich auch die Stadt ins Spiel. Doch gipfelt Rammlers Vision einer „vernetzten postfossilen Mobilität“ in einem „Copenhagenized Berlin“ voller Rad-Highways, in der intelligentes Parkraummanagement herrscht und der innerstädtische Güterverkehr zu 50 Prozent von Zwei- oder Dreirädern abgewickelt wird. Gelebt wird nach der Maxime „Nutzen statt Besitzen“, wodurch das Entstehen von Verkehr wann immer es geht vermieden wird. 

Wirklich überraschen kann auch das nicht. Wer ist dieses „Wir“, von dem in dem fiktiven Rückblick immer wieder die Rede ist? Wer sind die Agenten des Wandels? Noch in seiner weitreichendsten Vision setzt Rammler auf eine technokratisch durchorganisierte Zukunft, in welcher der radelnde Einzelne auf ein Teilchen im Datenstrom, der Mensch auf einen ökonomischen Faktor reduziert wird. „Die digital neuverfasste Demokratie“, liest man, „bringt 2040 einen im Vergleich ... nur noch sehr eingeschränkten Raumüberwindungsbedarf mit sich“. Dass Mobilität vieles mehr ist als die effiziente Überwindung einer Strecke von A nach B, und auch anders empfunden wird, bleibt ausgeblendet. Nichts als eine effiziente Raumnutzung hat Rammler auch im Sinn, wenn er „autonome Logistikdrohnen“ prognostiziert und von einem „Telependeln“ träumt, für das er sich „Beamer-Bälle“ ausdenkt, in denen zuhause zwei, drei Tage die Woche gearbeitet wird – mit angeblich segensreichen Folgen wie der Umwidmung von Gewerbe- in Wohnräume und größeren Wohnungen für alle. Freude am Reisen? Profitinteressen? Soziale Kontakte? Überraschende Erfahrungen? All das existiert in dieser schönen neuen Welt nicht. Am Ende gipfeln fast alle Überlegungen und Szenarien also wieder einmal gut technokratisch in einer „enormen Steigerung der Nutzungseffizienz“. 

Sicher, der Weg zu einem emissionsfreien und alltagstauglichen Mobilitätsmix wird steinig sein. Wie rasch und erfolgreich sich sinnvolle Veränderungen anstoßen lassen, erweist sich aber weniger als eine Frage des Ob. Entscheidend ist das Wie, gilt es doch nicht nur bestehende technische, ökonomische und politische Strukturen umzukrempeln: Verändern muss sich eine über rund ein Jahrhundert eingeübte Mobilitätskultur mitsamt all ihren Reizen, Versprechen, Sensationen und Geschäftsmodellen. Rein funktionale und idealtypisch daherkommende Szenarien, wie sie Rammler entwirft, helfen bei der Suche nach konsistenten und attraktiven Zukunftsbildern nur bedingt weiter. Eine künftige Mobilität wahlweise digital oder grün-alternativ anzustreichen, ohne die mentalen und habituellen Grundlagen anzutasten, löst das Problem sicher nicht. Zumal Rammlers Szenarien in dem gesellschaftlich-ökonomischen System verhaftet bleiben, dessen Beharrungskräfte er kritisiert. Wohin führt eine derart losgelöste Leistungssteigerung tatsächlich? Wem nutzt sie und wem schadet sie? Wer profitiert von ihr? Das anonyme und konturlose „Wir“, dem sich das Individuum in derartigen Visionen unterzuordnen hat, wird es mittels Effizienzsteigerung und einem verantwortungsethisch begründeten moralischen Appell schwerlich richten können. 

Stephan Rammler
Volk ohne Wagen
Streitschrift für eine neue Mobilität

Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2017
191 S., br.,
ISBN 978-3-596-29862-4
10,00 Euro