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Damals, als Chandigarh gebaut wurde
von Sandra Hofmeister | 07.10.2010
Alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark

Zwischen Stahlarmierungen, die wie ein Spalier aus Streichhölzern aus dem Untergrund ragen, breitet sich ein Labyrinth aus schmalen Holzbrettern aus. Barfüßige Frauen in langen Saris balancieren darauf. In den flachen Körben auf ihren Köpfen bringen sie Zement auf die Baustelle. Ein monumentales Gebäude zeichnet sich in der kargen Ebene im Hintergrund ab. Am Horizont verschwinden die blassen Berge der ansteigenden Himalaya-Kette im Dunst.

Ernst Scheideggers Fotografien von Baustellen und ersten fertig gestellten Gebäuden von Chandigarh sollten ursprünglich in den fünfziger Jahren in einer kleinen Serie von Monografien veröffentlicht werden. Dass die Aufnahmen mit über fünfzig Jahren Verspätung endlich im Verlag Scheidegger & Spiess als Buch publiziert werden, ist nicht nur dem Schweizer Verleger und Magnum-Fotografen Ernst Scheidegger, sondern auch dem Herausgeber Stanislaus von Moos zu verdanken. Das wunderbare Kompendium dokumentiert eine Stadtutopie, die real wird: mit den Menschen in Chandigarh, mit den Baustellen und mit der klaren tektonischen Sprache jener Baukörper, die dem unabhängigen Indien ein Monument setzen sollten.

Fern von Paris

„Tempel des neuen Indiens" nannte Premierminister Jawaharlal Nehru sein Vorhaben, nach der Unabhängigkeit von der britischen Krone und nach der Spaltung des Subkontinents in Indien und Pakistan, einen Masterplan für die neue Hauptstadt der Provinz Punjab aus dem Nichts zu errichten. Nachdem der ursprünglich beauftragte amerikanische Stadtplaner Albert Mayer aus der Planung ausschied, wurde Le Corbusier beauftragt. Mit 63 Jahren unterzeichnete der Schweizer Architekt 1950 den Vertrag und notierte ein Jahr später in einem Brief: „Wir sind auf dem Gelände unserer Stadt unter einem herrlichen Himmel, mitten in einer zeitlosen Landschaft. ... Ich werde hier zwischen diesen Menschen, diesen außergewöhnlich zivilisierten Indern, endlich das Werk meines Lebens vollbringen." Ernst Scheidegger, der Le Corbusier schon aus Paris kannte, dokumentierte den Aufbau dieses „Lebenswerks" in einer gelungenen Mischung aus Reportage- und Architekturfotografie. Er hielt die monumentale Sprache der Gebäude fest. Gleichzeitig war daran interessiert, die Menschen auf der Baustelle und ihre Vereinnahmung der Gebäude wie ein Anthropologe aufzuzeichnen. Weit über 30.000 Bauleute waren bis 1956 vor Ort involviert. Le Corbusiers Planerteam, zu dem neben seinem Cousin Pierre Jeanneret auch das britische Architektenehepaar Jane Drew und Maxwell Fry zählen, wurde durch auszubildende Juniorarchitekten vor Ort erweitert. Trotz zahlreicher Bitten durfte Le Corbusier keine nichtindischen Mitarbeiter einstellen. Vor diesem Hintergrund war der Aufbau der Provinzhauptstadt für Indien nicht nur von nationalem Interesse, sondern für das Schwellenland auch ein Entwicklungsprojekt.

Spuren des Scheiterns

Auf dem kargen Boden am Fuß entstanden Wohneinheiten, Schulen, Krankenhäuser und Gerichtsgebäude. Die strenge tektonische Sprache der Gebäude, die mit Baumaterialien vor Ort - mit Ziegeln oder mit Sichtbeton errichtet wurden - wirkt neben den einfachen traditionellen Holzhütten und Erdbehausungen der Bauarbeiter monumental und doch archaisch. Le Corbusiers unbeugsamer Wille, die Idee einer Idealstadt wahr werden zu lassen, fügen sich in Scheideggers Aufnahmen zu vielschichtigen Tableaus, in denen sich auch das Scheitern einer Utopie abzeichnet.

So haben sich zwischen den Straßenrastern in der nahezu autofreien Stadt Trampelpfade als Abkürzungen für die Fußgänger gebildet. Auf den vorfabrizierten Betonfensterstürzen wird die Wäsche gewaschen und einfache Babierstände am Straßenrand zeigen die Kluft zwischen dem westlichen Architekturideal und dem indischen Alltag. Mit „Ruins in Reserve" - „Erinnerungsspuren einer aufgegebenen Zukunft" überschreibt Stanislaus von Moos seinen Essay über die Fotografie und das architektonische Non-Finito. Mit Rückgriff auf Robert Smithson erklärt der Titel die eigentümliche Mischung aus Versprechen und Zerfall, die sich im Rückblick auf Chandigarh aufdrängt, die aber ebenso bereits im Aufbau der Idealstadt erkennbar wird. Der Rohbau des monumentalen Kapitols wirkt in Scheideggers Aufnahmen wie die Ruinen einer Grabungsstätte. Die Rhetorik des Forschritts, die sich in der gesamten Planung aller Sektoren abzeichnet, läuft ebenso ins Leere wie der Glaube, mit Hilfe von Architektur die Ideale der modernen bürgerlichen Gesellschaft abzubilden. Die Inszenierung staatlicher Autorität, die sich in den beiden auf dem Reißbrett entworfenen Idealstädten der fünfziger Jahre - in Chandigarh und Brasilia - zeigt, ist heute längst Geschichte. So wird Le Corbusiers Werk in diesem Fotoband, der das Faksimile des ursprünglich geplanten Buches um zahlreiche farbige Aufnahmen ergänzt, zu einem gescheiterten historischen Anliegen, die Zukunft mit einer von A bis Z geplanten Stadt zu gestalten.

Chandigarh 1956. Le Corbusier, Pierre Jeanneret, Jane B. Drew, W. Maxwell Fry
Fotografien von Ernst Scheidegger
Herausgegeben von Stanislaus von Moos
Gebunden, 272 Seiten, Text deutsch und englisch, 55,00 Euro
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich, 2010
www.scheidegger-spiess.ch

Weitere Publikation zu Chandigarh:
Brasilia Chandigarh: Living with Modernity
Von Iwan Baan
Paperback, 240 Seiten, Text englisch, Euro 35,99
Lars Müller Publishers, Baden, 2010
www.lars-mueller-publishers.com
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Alle Fotos © Dimitrios Tsatsas, Stylepark