Um es vorweg zu schicken: „Die Stadt im 20. Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes" von Vittorio Magnano Lampugnani ist ein beeindruckendes Buch. Die zwei Bände im Schuber wiegen gut viereinhalb Kilogramm und sind auch inhaltlich kein Leichtgewicht. Auf über neunhundert Seiten unternimmt der in Mailand lebende und an der ETH Zürich lehrende Architekt und Städtebauer einen erhellenden Streifzug durch die europäische Städtebaugeschichte des 20. Jahrhunderts. In 28 Kapiteln erfahren wir viel Wissenswertes über gebaute oder Papier gebliebene Stadtvorstellungen von Städtebauern und Architekten. Dabei macht der Autor gleich zu Beginn klar, dass ihn am Städtebau nicht Statistiken, soziologische Analysen oder sonstige empirische Daten interessieren. Städtebau ist für ihn ganz wesentlich Stadtbaukunst, die intellektuelle, künstlerische und physische Tätigkeit, den erlebbaren Raum der Stadt im plastischen Wechselspiel von „Solid and Void", positiven und negativen Formen herauszuschälen. In der Beschäftigung mit seinem Gegenstand oszilliert Lampugnani systematisch zwischen vier Ebenen: Erstens arbeitet er sich topographisch durch die Stadtbaukulturen verschiedener Städte, Länder oder Regionen. Zweitens beschäftigt er sich monographisch mit einzelnen prägenden Figuren des modernen Städtebaus, zum Beispiel Tony Garnier, Le Corbusier und Frank Lloyd Wright. Drittens resümiert er historiografisch wesentliche Marksteine der Städtebaugeschichte, beispielsweise den Congrès Internationaux d'Architecture Moderne (CIAM), das Bauhaus und die Postmoderne. Und viertens analysiert er typologisch konkrete Erfindungen zur Organisation und Bestellung des urbanen Raums im 20. Jahrhunderts, wie etwa Wolkenkratzer, Highways, Shopping Malls und Großsiedlungen. Am interessantesten erscheinen die Textpassagen, in denen sich der Autor aus der Vogelperspektive einer Vorlesung über den Städtebau ausklinkt und enger umrissene Territorien genauer unter die Lupe nimmt - so zum Beispiel in seinen Ausführungen über Camillo Sitte, Team X oder Rem Koolhaas. Lampugnani bemüht sich, seine persönlichen Präferenzen und Abneigungen gegenüber bestimmten Architekturen durch seinen Intellekt zu kontrollieren, ohne sie dabei zu vertuschen. Gerade da, wo man in seinen Worten Skepsis durchschimmern sieht, bleiben seine Ausführungen lesenswert, weil sie das analytische Bemühen des Forschers zeigen, etwas zu verstehen, das ihm nicht unmittelbar einleuchtet. Umgekehrt gibt der Autor auch zu erkennen, welche Positionen ihm als praktizierenden Städtebauer - er ist unter anderem der Planer des Novartis-Campus in Basel - näherliegen als andere. Diese intellektuelle Redlichkeit erleichtert die Lektüre, weil sie den Verständnisfilter zwischen Autor und Gegenstand des Buches immer sichtbar bleiben lässt. Sie ermöglicht es Lampugnani darüber hinaus, auf urbane Protagonisten und Erscheinungen des modernen Städtebaus einzugehen, die man in den Standardwerken zum Thema vergeblich sucht. Dazu gehört der längere Abschnitt über den französischen Architekten, Städtebauer und Projektentwickler Fernand Pouillon, der außerhalb der frankophonen Welt bisher kaum wahrgenommen wurde. Als Nachfolger Auguste Perrets hatte Pouillon in der Nachkriegszeit eine große Zahl beeindruckender städtebaulicher Ensembles geschaffen, die sich dem Dogma Le Corbusiers entzogen, ohne sich in Revisionismus zu flüchten. Indem Lampugnani die Qualitäten dieser unprätentiösen und alltagstauglichen Modernität referiert - etwa ihre Fähigkeit, gut zu altern - vermittelt er indirekt auch etwas über seine eigenen städtebauerischen Ambitionen. Fragen tauchen auf, wenn man die Bücher nach getaner Lektüre zuklappt und den Titel des Werks wieder in Augenschein nimmt. „Die Stadt im 20. Jahrhundert". Der Klappentext gibt sogar vor, das Buch liefere eine Geschichte der Architektur der Stadt des 20. Jahrhunderts „erstmals in weltumspannender Perspektive". Sollte der Verlag dies wirklich so meinen, hätte man es bei diesem Buch mit einem bemerkenswert anachronistischen Beispiel eurozentristischen Denkens zu tun. Denn während wir darin zwar jede Menge über städtebauliche Projekte aus Europa und den USA lernen, erfahren wir so gut wie nichts über die Entwicklung der Stadt im Rest der Welt. Und auch da, wo Lampugnani sich geographische Exkurse erlaubt, geht es im Wesentlichen um Projekte westlicher Architekten. So erscheint Indien mit Chandigarh von Le Corbusier, Pakistan mit Dhaka von Louis Kahn, Algier sieht man durch die Brille von Fernand Pouillon, Israel figuriert mit der weißen Stadt Tel Aviv der jüdischen Bauhausemigranten und Brasilien brilliert mit Brasilia als subtropischer Abglanz der strahlenden Stadt. In seinem Vorwort bekennt sich Lampugnani zu der geographischen Beschränkung des Buches; und natürlich ist es wissenschaftlich legitim und notwendig, die eigene Untersuchung einzugrenzen. Aber warum dann der deplaziert universalistische Titel des Buches? Warum fehlt der wichtige Hinweis, dass es hier um die „europäische" Stadt im 20. Jahrhundert geht? Wenn es sich nicht einfach um die durchsichtige verkaufsfördernde Maßnahme des Verlages handelt - was bedenklich genug wäre -, ließe es eine durchaus problematische Schlussfolgerung zu: Dass nämlich für den Autor die Stadt im 20. Jahrhundert nichts anderes ist als die europäische Stadt im 20. Jahrhunderts. Falls dies zuträfe, hätte Lampugnani unabsichtlich eine tief blickende Antwort auf die Frage nach dem Verschwinden des Städtebaus gegeben, die Rem Koolhaas 1994 in seinem Aufsatz „Whatever happened to Urbanism" stellte: „Wie erklärt sich das Paradox, dass Städteplanung als Berufszweig genau dann verschwindet, wenn Urbanisierung überall - nach einer kontinuierlichen Zunahme über Jahrzehnte - im Begriff ist, im urbanen Rahmen einen maßgeblichen globalen Sieg zu feiern?" Jene Explosion der Stadt, auf die Koolhaas sich hier bezog, das exponentielle und durch scheinbar nichts zu zähmende Wachstum von Städten in Afrika, Asien und Lateinamerika, die Megalopolisierung des Urbanen, kommt in Lampugnanis Buch nicht vor - auch nicht im Epilog. Dort geht es stattdessen um den Tod Aldo Rossis. Insofern gilt für Lampugnanis Werk - bei all seiner beeindruckenden Materialfülle und großen Ernsthaftigkeit - dieselbe poetische Metapher, mit der der Autor sein Kapitel über 1968 überschreibt: es ist „Das Ende von Etwas". Die Stadt im 20. Jahrhundert: Visionen, Entwürfe, Gebautes
Von Vittorio Magnago Lampugnani
Zwei Bände mit Schuber, 960 Seiten, Deutsch
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2010
98 Euro
Das Ende von Etwas
von Andreas Ruby | 14.12.2010
Alle Fotos: Dimitrios Tsatsas, Stylepark
Alle Fotos: Dimitrios Tsatsas, Stylepark