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Lucy McRae: „Body Talk".

Lesen bildet 05
Frankensteins Mode-Monster

von Annette Tietenberg | 11.10.2016

"Otherworldly", das klingt entweder nach himmlischen Zuständen oder nach einem grauenhaften Ort der Verdammnis. An Dantes Paradies oder Inferno dürften die Herausgeber Theo-Mass Lexileictous, Robert Klanten und Sven Ehmann allerdings weniger gedacht haben, als sie die Auswahl für den Bildband getroffen haben, der soeben im Gestalten Verlag erschienen ist. Das Jenseitige kommt ziemlich diesseitig daher: Es handelt sich um Kreationen von renommierten Couturiers wie Thierry Mugler, Alexander McQueen, Jean Paul Gaultier, Hussein Chalayan und Martin Margiella, gepaart mit klug ausgewählten Szenarien, erdacht von unter Insidern bekannten Mode-Designerinnen und Designern aus aller Welt wie Alice Auaa, Sascha Frolova, Iris van Herpen, Marina Hoermanseder, Jojo Ross, Bea Szenfeld, Ken Tanabe und Robert Wun.

Zu sehen sind gekonnt posierende Models in papiergeschichteten Kleidern, in Lagen aus Vinyl, in Cellophan und Alufolie. Raumfahrern gleich stecken sie ihre Köpfe in Blasen aus transparentem Kunststoff. Sie überziehen ihre Körper mit Metallschuppen und Stacheln, sie verstecken ihre Gesichter hinter gigantischen Brillen, die Facettenaugen von Insekten ähneln, und sie leihen sich aus der Tierwelt gefährliche Waffen wie Geweihe und Stoßzähne aus. Sie räkeln sich in Ketten, schillern in Pailletten und Punkten, spielen mit Prothesen, schlüpfen in muskulöse Silhouetten von Baseballspielern, versinken in metallisch glänzenden Kugeln und treten in Kostümen aus türkisfarbenem Kunststoff auf, die ihnen den Anschein verleihen, als kämen sie von fernen Planeten. All diese Grenzgänge zwischen dem Natürlichen und Künstlichen, dem Menschlichen und dem Animalischen, dem Männlichen und dem Weiblichen sind also, dank digitaler Technologie, möglich.

Elena Silvnyak: „iimuahii".
Paco Peregrin: „Beautiful Monster".

Futuristisch hätte man derartige Entwürfe in der Ära der Moderne genannt, als Architekten, Künstler, Filmregisseure und Designer – oder zumindest manche unter ihnen – noch an eine strahlende Zukunft, an die Möglichkeit einer heilen, gerechten und beglückenden Welt glaubten. Diesen Spirit versuchen die Herausgeber von „Otherworldly“ zu reanimieren, indem sie die Potenziale der digitalen Entwurfs- und Herstellungstechniken preisen und versprechen, die von ihnen im Buch zusammengeführten Modeentwürfe ließen uns träumen von fremden Galaxien, neuem Leben und neuen Zivilisationen – viele Lichtjahre von der Erde entfernt.

Nur ist es nicht so, dass diese Outfits nie ein Mensch zuvor gesehen hätte. Es war Paco Rabanne, der – überzeugt davon, dass das Zeitalter des Wassermanns unmittelbar bevorstehe – in den 1960er-Jahren metallisch glänzende Körperpanzer entwarf. Es war Yayoi Kusama, die zu jener Zeit damit begann, Paranoia mit Polka Dots in ihre Schranken zu verweisen, und es war André Courrèges, der, beflügelt von der damals herrschenden Weltraumeuphorie, entdeckte, dass der cleane, weiße Astronautenlook durchaus seine erotischen Seiten hat. „Otherworldly“ lässt aber nicht nur all jene Form- und Materialexperimente der Sixties wiederaufleben. Brücken geschlagen werden auch in die 1980er-Jahre, etwa zu Yohji Yamamoto, der damals bereits wusste, welche Reize ein von vielfach gefältelten Synthetikstoffen umschmeichelter Körper hat, oder zu Rei Kawakubo, die mit Hilfe von Wattierungen skulpturale Ausstülpungen entstehen ließ, die wie Buckel oder Wülste wirkten.

Ùna Burke: „Re.treat".
Bea Szenfeld: „Haute Papier".

Während die Kreationen des 20. Jahrhunderts von den astrologischen und gesellschaftspolitischen Zukunftsfantasien des New Age, von dem Wunsch, Kriegstraumata zu überwinden, oder von der Erfahrung, Teil einer vom atomaren Gau bedrohten No-Future-Generation zu sein, durchdrungen waren, sind die heutigen Entwürfe vorwärts und rückwärts gewandt zugleich. Sie feiern die angebliche Überlegenheit digitaler Entwurfs- und Herstellungspraktiken und passen sich so geschmeidig in die herrschende Fortschrittsideologie ein. Ihre Bedeutung jedoch gewinnen sie daraus, dass sie, dank der Rekurse, die aus den Tiefen des Internet gefischt werden können, ein Netz von Rückbezügen auswerfen, die kaum jemand außerhalb der adressierten Community zu entschlüsseln weiß.

Nicht nur die Fähigkeit, Rekurse zu entschlüsseln, stiftet Gemeinschaft. Auch die Bildsprache des Buches, die jegliche Unterschiede in den Haltungen der versammelten Modemacher negiert, erzeugt die Illusion eines Stils – und damit ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Während einst Paco Rabanne seine Kreationen in Nahsicht fotografieren ließ, um zu betonen, dass seine Metallrüstungen im Kontrast zur Weichheit der Haut stehen, und so die Lust weckte, jede Pore und noch das zarteste flimmernde Härchen zu berühren, während Paco Rabanne seine Corsagen in Trash-Filmen wie „Barbarella“ zur Verbildlichung des Slogans „Make love not war“ einsetzte und Rei Kawakubo passend zu ihrem „Löcher-Look“ blasse, zerzauste Models ablichten ließ, übertrumpfen sich die in „Otherworldly“ versammelten Fotografien lediglich gegenseitig an Perfektion, Glätte und inszenierter Künstlichkeit. Wo die hinzugefügten Texte vom Überraschenden, Unbekannten und Unerklärlichen raunen, führen die Fotografien vor Augen, was in Modezeitschriften längst Standard ist. Zur Bewunderung frei gegeben ist, was Rechner, Drucker und Bildprogramme zustande bringen: Frankensteins Mode-Monster. Was daran das Jenseitige ist? Im Text steht es: ein Werkzeug, um die Welt um uns herum zu verändern.

Theo-Mass Lexileictous (Hg.)
Otherworldly.
Avant-Garde Fashion and Style

304 S.,geb.,
Gestalten, Berlin 2016.
ISBN 978-3-89955-638-4
39,90 Euro

Theo-Mass Lexileictous: „The Mutants Return"
Maria Hoermanseder.
Hideki Seo: „Night Bloomong Cereus".