Wer sich auf den Weg nach Lambrate macht, der braucht Zeit. Nicht etwa der Weg in den nordöstlich von Mailands Zentrum gelegenen Stadtteil dauert beschwerlich lang, und auch die Strecken zwischen den einzelnen Locations können Fuß- und Rückenmüde mit dem Shuttle zurücklegen. Nein, es sind die Ausstellungen selbst, die Zeit kosten. Denn in diesem Jahr ging es neben dem Thema Nachhaltigkeit vor allem um den Prozess der Gestaltung. So thronte etwa der in Eindhoven lebende Italiener Andrea Brena zwischen seinen aus Überbleibseln aus der Textilindustrie mit Händen und Armen gehäkelten und gestrickten Teppichen und Möbeln und reihte bei einem weiteren Entwurf Masche an Masche. Studenten der Royal Academy of Art aus Den Haag hantierten mit Gips, füllten die flüssige Masse in eine Art Stoffbeutel, zogen diesen unter die hohe Decke des Industriegebäudes und verflochten dann in einer Art Reigen wie unter’m Maibaum die daran hängenden bunten Bänder. Was das später für ein Produkt ergab? Keine Ahnung, keine Zeit…
Der Designdistrikt Lambrate ist von den beiden niederländischen Initiatorinnen Margriet Vollenberg und Margo Konings ganz bewusst als Kontrapunkt aus der Taufe gehoben worden. Eine Erweiterung des Aspektes Design neben der etablierten Messe, aber vor allem auch eine Alternative zur Zona Tortona, wo vor Jahren ein Aufbruchsgeist zu spüren war, der sich – wenn überhaupt – längst in die Fabrikhallen von Mailands Nordosten verkrümelt hat. Es sind die Studenten, Start-ups und jungen Designer, die Lambrate vor allem aus finanziellen Motiven vorziehen. Von 2010 bis 2012 konnte Lambrate die Zahl seiner Aussteller jedes Jahr nahezu verdoppeln. 2013 gab es eine Steigerung von knapp 50 Prozent verglichen mit dem Vorjahr: 135 Aussteller verteilten sich auf eine Fläche von 10 000 Quadratmeter. Dieser Erfolg Lambrates ist Beweis genug dafür, dass Mailand im Umfeld der Messe einen Ort braucht, wo sich Nachwuchsdesign präsentieren kann. Und dazwischen immer wieder bekanntere Marken, die sich aus Image-Gründen für Lambrate interessieren. Oder wohl auch aus wirtschaftlicher Notwendigkeit?
Established & Sons, jahrelang der Primus in Brera, die Marke mit dem größten Sexappeal, dem Nimbus des Labels mit dem Ex-Beatles-Schwiegerpapa und der hippsten Party, zeigte sich in diesem Jahr doch sehr bescheiden an der Via Ventura. Was sich in La Pelota auf vielen Quadratmetern großzügig ausbreiten durfte, kommt, auch wenn es die gleichen Produkte von u.a. Sebastian Wrong, Zaha Hadid und Amanda Levete sind, nicht wirklich zur Geltung und man vermeint einen leisen Ruf zu vernehmen: „Wir sind auch noch dabei!“
Zurück zu Handwerk & Design: Die kunsthandwerkliche Tradition, die der skandinavischen Gestaltung innewohnt, spielte in der Ausstellung „Mindcraft13“ von Danish Crafts die Hauptrolle. Christian Flindt stellte einen Tisch vor, der eine Basis aus Faserbeton mit einem dünnen Furnier aus Eschenholz zusammenbringt. Søren Ulrik Petersen zeigte ein Holzregal, das sich in einen Sarg verwandeln lässt – und das ohne auch nur ein Teil überflüssig werden zu lassen. Matthias Bengtsson päsentierte seinen „Growth Chair“ aus Bronze vor, der natürliches Wachstum simuliert und dabei Regeln und Methoden aus der Natur kopiert.
Natur und Nachhaltigkeit scheinen die über allem schwebenden Leitbegriffe der Nachwuchsdesigner zu sein. So präsentierte die Israelin Adital Ela ihren Hocker „Terra“, ein organisches Produkt aus Erde und natürlichen Fasern, das durch einen Komprimierungsvorgang in Form gebracht wird. Zu einem modernen Farmprojekt haben sich ein Designer, ein Doktor, ein Architekt, ein Wirtschaftswissenschaftler und ein Landwirt in Bologna zusammengetan: Bulbo hat mit den Modellen „Cynara“ und „Quadra“ LED-Leuchten entwickelt, deren Lichtspektrum es ermöglichen, Kräuter, Gemüse und Salat zu Hause in der Küche zu züchten, ganz unabhängig von Jahreszeit und Sonneneinstrahlung. Studenten des Rotterdamer Piet Zwarte Institues haben sich für das Projekt „Altered Appliances“ mit essbaren Alternativen zu herkömmlichem Geschirr aus Papier oder Plastik beschäftigt: Aus mit Mustern verziertem oder gefärbtem Teig werden kompostierbare Wegwerfschalen. Zu viel öko, zu wenig Design? Tatsache ist, die Ressourcen unseres Planeten sind begrenzt und schöne neue Plastikmöbel à la Kartell sind nicht zukunftsweisend. Das ist bei den Hochschulen offenbar schon in die Lehre eingeflossen.
Trotzdem darf rumgespielt werden: Die Studenten der dänischen Kolding School of Design wählten Container als ihre Bühne. Originell war der Entwurf von Carl Emil Jacobsen, der den ihm zur Verfügung stehenden Raum komplett mit einem blauen Teppich auskleidete. Darauf waren weiße Linien gedruckt, die Umrisse von Möbeln, die sich dann auch wirklich aus den Wänden klappen ließen und damit unsere Wahrnehmung vom Teppich als zweidimensionales Objekt über den Haufen warfen. Nina Kosonen, Studentin an der finnischen Aalto University, designte einen konstruktivistischen Stuhl aus Buchenholz, der nur zusammengesteckt wird und sich fast ebenso dünne machen kann wie Jacobsens Möbel, wenn er nicht gebraucht wird.
Von einer weniger experimentellen Seite zeigten sich die Entwürfe der Kunsthochschule Kassel: Ob Arbeiten aus Glas, Leder, Kupfer, Filz oder Holz, die „Kassel Collection 2“ umfasst Produkte, bei denen sich die Studenten mit Fragen der Herstellung oder des Gebrauches auseinandergesetzt haben. Allein den ausgestellten Objekten mag man Marktreife bescheinigen und keinen hochschulischen Probiercharakter.
Rumprobieren mit Materialien, Herstellungsprozessen und Farben gehört für das Hamburger Studio Besau-Marguerre zum Alltag. Nach dem Erfolg mit ihrem Hocker „Nido“ zeigten Eva Marguerre und Marcel Besau in Mailand neue Entwürfe für die Limited Edition Design Gallery des Stilwerk, darunter Spiegel aus Kupfer. Das Material wird durch natürliche Verfärbungsprozesse, durch Wärme und Sauerstoff, farblich verändert. Abhängig von der Höhe der Temperatur und der Dauer der Wärmezufuhr entstehen also unterschiedliche Farben auf den Spiegeln. Das Berliner Büro Shapes in Play war Teil der kleinen Sondershow Berlin Trails (die unter anderem die Teppiche von Reuber Henning und innovative Klappmöbel von Superéquipe vorstellte). Mittels einer eigens geschriebenen Software wird Sound in ein virtuelles dreidimensionales Produkt überführt, in diesem Fall eine Vase. Da das digitale Objekt veränderlich ist, kann es in Echtzeit auf den Input reagieren. Dieser wird direkt im Produkt abgebildet: Größere Lautstärke führt zu größeren Ausschlägen in der Struktur der Vase von Johanna Spath und Johannes Tsopanides.
In Mailand spürt man es: Die Zeiten, als die großen Hersteller sich mit all‘ zu vielen Neuheiten zu überbieten suchten, sind vorbei. In Lambrate zeigt sich ein neues Design. Vielleicht nicht immer eins, das schon ausgereift ist und optisch noch zu sehr mit seiner Recyclingfähigkeit hausieren geht. Aber immerhin ein Design, das auf knappe Ressourcen reagiert und die etablierte Industrie mit der einen oder anderen Idee mit in die Zukunft der Möbelgestaltung nehmen wird.