Als Indikator wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und gestalterischer Prozesse ist die Autoindustrie interessant, da sich Veränderungen hier frühzeitig in Blech und PS manifestieren – aber auch in spektakulären PR-Aktivitäten. Der Frühling der Neuwagen beginnt traditionell mit dem Genfer Autosalon. Er zeigt Modelle, die bis Herbst auf den Markt kommen und Showcars, die meist eine glorreiche Zukunft versprechen, auch wenn diese dann selten eintrifft.
Das Ende der Spezialisten
Mit dem Beginn des Autojahres wird beispielsweise klar, dass die Zeiten automobiler Spezialisten vorbei sind, die sich entweder auf Sportwagen, auf Geländewagen oder auf Limousinen konzentrieren. Alle möchten heute alles können. Marken schlagen Kapriolen. Da ist etwa der Range Rover „Evoque" in einer Studie als fettleibiges unelegantes Cabrio zu sehen, eben als ein Range Rover ohne Dach. Nebenan steht der „Jaguar XF Sportbrake", ein ab Herbst lieferbares neues Serienmodell. Erneut versucht sich Jaguar mit einem Kombi, der diesmal zugleich elegant, sportlich und sogar funktional sein möchte und auf den ersten Blick plausibler wirkt als der „Jaguar X-Type Estate", ein wenig geliebter Vorläufer von 2004. Nur zur Erinnerung: Die Marken Land Rover und Jaguar gehören heute zur indischen Tata-Gruppe.
Luxus-Extremist
Nicht außergewöhnlich genug? Nachdem Volkswagen die Bentley-Markenrechte übernommen hatte, ermöglichte der Konzern der Traditionsmarke 2001 eine kurze Rückkehr ins Renngeschehen: Der „EXP 8 Speed" erinnerte beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans an die Renntradition der britischen Marke. Anders als zu Pionierzeiten des Autos liegen zwischen Renn- und Serienwagen heute Welten. Daher hat das Autorennen an Bedeutung für die Käufer von Luxusautos eingebüßt. Wichtiger scheint heute, frühzeitig oder wenigstens rechtzeitig auf Markttendenzen zu reagieren. Bentley stellte erstmals ein eigenes Showcar vor, den „EXP 9 F". Die Studie ist mit einem Sechsliter-W12-Twinturbomotor mit 610 PS ausgerüstet. Ein solches Hochleistungs-Sports Utility Vehicle scheint gerade noch im Produktportfolio zu fehlen. Ob Krise oder Energieknappheit: Weltweit ist der Trend zu Kleinlastautos, die sich als Personenwagen aufspielen, ungebrochen. Dabei mangelt es ihnen stets an beidem, an Eleganz und Effektivität; doch das Geschäft mit SUVs, bei dem die Käufer definitiv mehr Masse in Bewegung setzen, als sie zur Fortbewegung und zum Transport im wirklichen Leben benötigen, läuft dennoch blendend. Warum nicht also noch eins draufsetzen, gerade im Top-Segment der SUVs, das bislang eher als unterbesetzt gilt?
Was das Team um den belgischen Designchef Dirk van Braekel entwarf, ist trotz riesiger Abmessungen (5 Meter Länge, ca. 2300 Kilogramm Gewicht, 23-Zoll-Räder) und feinster Ausstattung (bis hin zu silbernen Picknick-Gerätschaften) durchaus ernst gemeint. „Eine Kombination der Extreme" nennt Crispin Marshfield, der Exterior-Designer, den Entwurf, der traditionelle Bentley-Werte Sportlichkeit und Luxus nun auch noch um Aspekte der Nützlichkeit anreichert. Schon wird über eine baldige Markteinführung spekuliert. Bereits ab 3.500 verkauften Exemplaren pro Jahr, könnte sich das Projekt lohnen. Ob dann allerdings tatsächlich die Armaturenabdeckung, die Gepäckraummatte und die strapazierfähige Seite der Seiden-Fußmatte aus Sattelleder bestehen werden?
Spar-Konstruktion
Auch die Konzern-Mutter Volkswagen dringt in neue Sphären vor. Der Führungsanspruch von Volkswagen soll sich in Zukunft auch in puncto Ökologie manifestieren. Wuchsen neue Autogenerationen bislang stets in den äußeren Abmessungen, im Komfort wie im Verbrauch, so will VW mit seinen nun Marken gegensteuern. Künftig soll jede neue Modellgeneration um 10 bis 15 Prozent effektiver als der Vorläufer sein. 41,6 Milliarden Euro, zwei Drittel der Gesamtinvestitionen der nächsten Jahre, sollen direkt und indirekt sparsamere Fahrzeuge zur Folge haben. Die Produktion soll bis 2018 um 25 Prozent umweltfreundlicher werden. Wesentlicher Schlüssel dabei ist das neue Konstruktionsprinzip der Wolfsburger, das bei allen 40 neuen Modellreihen, die in den kommenden zwei Jahren auf den Markt kommen, Anwendung finden wird. Die VW-Leute nennen es „Modularen Querbaukasten", kurz MQB und versprechen sich davon nicht nur eine flexiblere Produktion, eine deutliche Gewichtsreduktion, sondern in der Folge auch eine Senkung des Verbrauchs.
Neue Freiheitsgrade soll dabei auch das Design erhalten. Lediglich die Lage des Motors sowie der Abstand zwischen Gaspedal und der Mitte des Vorderrades sind vereinheitlicht. Doch Radstand, Spurbreite und die Größen der Räder und daraus resultierend die vorderen und hinteren Überhänge können sich – anders als bei der bisherigen Plattformstrategie – über die Modellreihen und Marken hinweg unterscheiden. Ein Anwendungsbeispiel zeigt VW als Studie: Das „Cross Coupé" ist 4,35 Meter lang und wiegt über 1,8 Tonnen. Dennoch soll in der Kombination von zwei Elektromotoren und einem Dieselaggregat mit 6-Gang-Direktschaltgetriebe sowie acht Lithium-Ionen-Batteriepacks zur Zwischenspeicherung von Energie, ein Gesamtverbrauch von lediglich 1,8 Liter Diesel auf 100 Kilometern möglich sein. Selbst wenn diese Daten im Alltag tatsächlich erreichbar sein sollten, so sagen sie noch nichts aus über die tatsächlichen Kosten eines vergleichbaren Serienmodells mit drei Motoren plus Batteriepacket. Für den Käufer dürfte dieses Sparmodell unwirtschaftlich sein.
Ohne Spektakel
Etwas unspektakulär wirkt das erste Serienauto, das nach dem MQB-Prinzip konstruiert wurde, der neue „Audi A3". Die Motorpresse kritisiert gar seine harmonisch-sachliche Formensprache, weil sie nicht auf vordergründige Emotionalisierungs-Effekte abzielt, auf eine Neuheit, die schon morgen veraltet ist, sondern die Familienähnlichkeit der aktuellen Audis betont. Ein Urteil, das einleuchtet, wenn man Woche für Woche seine Leser mit neuen Bildern neuer Produkte füttern muss. Mit Nachhaltigkeit und einem Nutzen des Designs für den Kunden hat diese Argumentation wenig zu tun. So ist der neue „A3" immerhin bis zu 80 Kilogramm leichter geworden als sein Vorgänger. Fahrassistenz-Systeme dringen mit ihm auch in die Kompaktklasse vor, mausern sich gar zum spielerischen Fahrtrainer: So liefert der Bordcomputer des „A3" auf Wunsch Anregungen zum sparsameren Fahren, inklusive Hinweise auf frühzeitiges Hochschalten in den sparsamen Gang. Denn wer fährt, bestimmt letztlich, ob ein Auto vergleichsweise sparsam oder spritschluckend bewegt wird.
Ewige Jugend
Wer erlebt hat, wie Mercedes-Benz die „A-Klasse" erfand, von der „Vision A", die 1993 erstmals präsentiert wurde, bis zur Markteinführung, dem Elchtest des schwedischen Journalisten Robert Collin, der die Sicherheitsstandards in der Kompaktklasse deutlich erhöhte, wer den Sandwich-Boden des Autos nicht nur als Sicherheits-Feature begriffen hat, oder als Möglichkeit, sämtliche Sitze bis auf den Fahrersitz auszubauen (bei der ursprünglichen „A-Klasse" von 1997 möglich), sondern das Auto stets auch als Vorboten künftiger Antriebsformen sah – ob Elektromotor oder Brennstoffzelle –, der reibt sich verwundert die Augen: Weshalb stellt Mercedes-Benz gerade jetzt die bislang 2,1 Millionen mal verkaufte „A-Klasse" ein und setzt an ihre Stelle unter gleichem Namen ein fragwürdiges Turnschuh-Design mit vorgeblichem Jugend-Appeal? „‚A' wie Angriff", heißt es in den Pressemitteilungen aus der Stuttgarter Konzernzentrale: Kein Zweifel, auch dieses neue Auto ist eine eierlegende Wollmilchsau. Es ist „cool und ‚grün' – emotional im Design, dynamisch im Antritt mit bis zu 155 kW Leistung und hocheffizient mit Emissionswerten ab 99g CO2/km." Tatsächlich ist das Modell die Antwort auf den bewährten „BMW 1er", also nicht mehr und nicht weniger als ein Me-Too-Entwurf, der Käufer vom Wettbewerber „erobern" möchte. Anscheinend steht den Autoherstellern und ihren Designabteilungen derzeit nicht der Sinn danach, mit neuen Konzepten um neue Kundschaft zu werben, wie etwa einst beim Baby-Benz, dem „Mercedes 190", der 1982 erstmals auf die Straße kam. Dessen Design von Bruno Sacco sieht bei gepflegten Autos heute noch so frisch aus wie damals. Fällt Autodesignern tatsächlich nichts Neues im Sinne von Besserem mehr ein?
Es sei unglaublich schwer, sagt ein Ingenieur von BMW am Mercedes-Stand, mit einem Auto im Kompaktsegment tatsächlich Geld zu verdienen. Und trotzdem spielt gerade dieses Segment eine zunehmende Rolle in den überfüllten Städten der Welt. Grundlegend anderes, Innovationen, die nicht nur so tun als ob, sie scheinen selten im Autojahr 2012. Aber es hat ja auch gerade erst begonnen.