Mit den Fabriken kamen sie in unser Leben: Metalle, Eisen, Stahl! Die Materialien des Industriezeitalters waren auch die Materialien der Designavantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Für eine neue Zeit und einen neuen Menschen wollte sie die passenden Möbel, Wohnungen und Häuser entwerfen. Aus Heizungsrohren bogen die Bauhäusler die ersten Stahlrohrmöbel und feierten, geschmückt mit Metallblechen und -masken, 1929 das „Metallische Fest". - Die Auseinandersetzung mit neuen Materialien, der Transfer von Werkstoffen aus Industrie und Technik zählten zu den Triebfedern der jungen Designdisziplin. Jahrzehntelang ging es stets auch um die adäquate Verwendung eines Materials, seine natürliche Farbigkeit, die ihm innewohnenden Logik, um „Materialgerechtigkeit".
In den Debatten um das Für und Wider des Funktionalismus Ende der Sechziger mussten da die Kunststoffe wie ein Befreiungsschlag wirken: Sie entzogen sich allen bisherigen Kriterien, hatten keine „natürliche" Farbigkeit, waren transparent, leicht und in ihren Einsatzmöglichkeiten nicht durch die Größe eines Baumes oder die Zähigkeit eines Metalls eingeschränkt. Kunststoffe konnten anscheinend jede Form einnehmen, waren billig und erhoben keinen Anspruch auf Langlebigkeit. Wie schon die Metalle, markierten auch die Kunststoffe den Beginn einer neuen gestalterischen Ära: Designer entwickelten radikale Visionen vom Umgang mit den Produkten und ersannen sogar Wegwerfmöbel. Sie experimentierten mit organischen Formen und grellen Farben, stellten Produktformen infrage, gestalteten Schaumstoff-Säulenkapitelle als Sitzgelegenheiten und entwickelten Zukunftsvisionen vom Wohnen in komplett aus Kunststoff gefertigten Räumen. Der Anteil, den die neuen Kunststoffe am damaligen Erfinden neuer Wohn- und Lebensformen hatten, kann nicht hoch genug geschätzt werden.
Vom Imitat zum Ausgangspunkt neuer Wohnformen
Dabei blickten die Kunststoffe zu dieser Zeit bereits auf eine über hundertjährige Geschichte zurück: Schon im 19. Jahrhundert experimentierte die Industrie mit neuen, zum Teil aus natürlichen Rohstoffen gewonnenen Kunststoffen und befriedigte mit ihnen ein gestiegenes Bedürfnis nach Gebrauchsgegenständen. 1 Frühe Duroplaste wurden im Historismus als Ersatz für edle Materialien wie Perlmutt und Schildpatt verwendet und ließen so das Bild von einer „Talmikultur" entstehen. Erst mit dem vollsynthetischen Kunststoff „Bakelit" etablierten sich die neuen Werkstoffe als eigenständige Materialien mit besonderen Eigenschaften, spielten für die gestalterische Avantgarde der Zwanziger und Dreißiger aber noch eine untergeordnete Rolle. Durch die Weiterentwicklung zahlreicher synthetischer Materialien während des Zweiten Weltkriegs erfuhren Kunststoffe einen Entwicklungsschub, der sich nach dem Krieg auch im zivilen Leben widerspiegelte. Mit der von Earl S. Tupper 1946 aus Polyethylen entwickelten „Tupperware" gelangte Weichplastik erstmals in die Haushalte. Der Siegeszug der Kunststoffe, mit denen sich der Massenbedarf rationell und günstig decken ließ, war nicht mehr aufzuhalten. Für die Gestalter eröffnete sich eine neue Welt.
Zu den bekanntesten frühen Designexperimenten mit Kunststoffen zählen die Arbeiten von Charles und Ray Eames, die in den Vierzigerjahren glasfaserverstärktes Polyester für ihre Schalenstühle erprobten. Unzählige Gestalter ersannen in den Fünfzigern Formen, die nun mit den neuen Materialien realisierbar waren, Eero Saarinens „Tulip-Chair" von 1956 etwa oder Arne Jacobsens organisch geformte Stuhlentwürfe „Ei" und „Schwan". Aber auch die „Funktionalisten" an der Hochschule für Gestaltung Ulm revolutionierten mit Kunststoff ganze Produktgattungen: Der berühmte „Schneewittchensarg", Phonosuper SK4, von Braun beispielsweise, den Hans Gugelot und Dieter Rams 1956 entwarfen, bot mit seiner durchsichtigen Plexiglashaube den Blick auf das Bedienfeld, das vorher in wuchtigen, hölzernen Phonoschränken verborgen war. Die Experimentierfreude und Zukunftsbegeisterung der Sechziger brachte Visionen vom Verschwinden der Dinge und unzählige Kunststoff- Designklassiker hervor: Entwürfe wie Eero Arnios „Ball-Chair", Gaetano Pesces „UP"- oder Joe Colombos „Tubo"-Möbel, der „Capitello"-Sessel von Studio 65 oder das „Pratone"-Möbel von Strum. Aufblasbare transparente Möbel wie der „Blow"-Sessel von De Pas, D'Urbino und Lomazzi kamen Marcel Breuers Utopie vom „Sitzen auf einer Luftsäule" nahe. 2 Und natürlich ist vor allem Verner Panton für seinen Einsatz von Kunststoffen bekannt, der mit seiner Wohnlandschaft „Visiona 2" für Aufsehen auf der Kölner Möbelmesse von 1970 sorgte. Sein „Panton-Chair" gilt als erster Kunststoff-Freischwinger und ist längst zum Designklassiker avanciert, dessen Repräsentationsanspruch heute absurderweise oft nicht anders bewertet wird als ein Klassiker von Mies van der Rohe oder Le Corbusier.
Kunststoffe im Wertewandel
Mit der Ölkrise und den Anfängen der Umweltbewegung symbolisierte „Plastik" zunehmend eine Entfremdung von einer natürlichen Materialität, es stand für Wegwerfmentalität und blinde Fortschrittsgläubigkeit. Kunststoffe, die einige Zeit als progressiv und revolutionär gegolten hatten, waren aus der Mode gekommen und als Materialien für hochwertiges Design eine Weile undenkbar. Das gestalterische Experiment mit Kunststoffen wurde von Gruppen wie „Memphis" oder „Alchimia" zwar fortgeführt, doch erst Anfang der Neunziger erfuhren die Kunststoffe auch im Massenmarkt neue Beachtung: Etwa mit den Entwürfen für Haushaltsprodukte von Authentics, die transluzent und matt daherkamen und so eine neue Ästhetik im Kontrast zu den harten und hochglänzenden Kunststoffen der Siebziger darstellten. Kunststoffe standen nun gleichberechtigt neben den traditionellen Materialien. Designer verwendeten sie erneut spielerisch, setzten archetypische Formen in Kunststoff um und verliehen dem Material mit einer neuen Oberflächenästhetik zeitgemäße Wertigkeit.
Diese Oberflächenästhetik ist es auch, die - stärker als bei jedem anderen Materialbereich - einer dauerhaften Wellenbewegung zwischen matt und hochglänzend zu unterliegen scheint: Die hochglänzenden Kunststoffe der Sechziger galten bald als billig, so dass mit Entwürfen wie dem Braun „Sixtant"-Rasierer, 1961/62 entworfen von Hans Gugelot und Gerd A. Müller, mit seiner strichmattierten Oberfläche und dem Füller „Lamy 2000", bei dem Gerd A. Müller 1966 die gleiche Material- und Oberflächenanmutung aufgriff, durch die Mattierung eine höhere Wertigkeit erreicht wurde. Auf die hochglänzenden Kunststoffmöbel der Siebziger folgte das „Matt Black" der Achtziger und die transluzent-matten Kunststoffprodukte der Neunziger. Mit den iMacs und iPods von Apple wurde hochglänzender Kunststoff wieder zur hochwertigen Oberflächenästhetik, die sich zurzeit auf alle Kunststoffprodukte ausbreitet und deren Ende bereits absehbar ist. Zeittypische Oberflächen-Vorlieben können einen historischen Entwurf deshalb auch komplett verändern: Das matte Polypropylen, das seit den Neunzigern für den Panton-Chair verwendet wird, lässt den Entwurf aufgrund der fehlenden Lichtreflexe dicker und behäbiger wirken als bei früheren hochglänzenden Versionen. Er ist nicht länger ein eleganter, progressiver Esszimmerstuhl, sondern eher ein robuster Gartenstuhl, der auf seiner matten Oberfläche dennoch kaum Kratzer verzeiht.
Heute experimentieren Gestalter genauso selbstverständlich mit traditionellen Werkstoffen wie mit neuen High-Tech-Kunststoffen. Sie nutzen Kunststoffe wieder unbefangener und erneut erdenken sie mit ihnen auch innovative Produkt- und Wohnformen, die so nur durch den Einsatz neuer Kunststoffe möglich sind: Philippe Starcks Stuhlentwürfe für Kartell, Ron Arads „Bookworm"-Regal von 1994, die „Algues" der Brüder Bouroullec von 2004 oder der „Myto"-Freischwinger von Konstantin Grcic von 2008 können als Kunststoff-Klassiker unserer Zeit gelten. Was für Charles und Ray Eames glasfaserverstärkte Kunststoffe waren, sind heute für Konstantin Grcic Hirek-Kunststoff oder für Patricia Urquiola transparenter Polymer: die Chance, völlig neue Formen, Oberflächenanmutungen, Einsatzbereiche oder Nutzungen zu ersinnen, die Design zum formalen aber auch technologischen Ausdruck unserer Zeit werden lassen.
Der Artikel ist die Kurzfassung eines doppelt so langen Beitrages, der demnächst im Begleitbuch einer Stylepark Material Edition zum Thema Metocene erscheinen wird.
1 Vgl. hier und in Folge: Ulmer, Renate, Strasser, Josef und Lupri, Claudia (Übers.): Plastics + Design, München 1997, S. 9ff.
2 Vgl. Schepers, Wolfgang: „Pappe, Plastik und Produkte. Design und Wohnen in einer bewegten Zeit." In: Schepers, Wolfgang (Hrsg.): „68 - Design und Alltagskultur zwischen Konsum und Konflikt", Köln 1998, S. 29