Der Crash ist die Mutter der Sicherheit. Das behauptet zumindest die Autoindustrie und belegt ihre These sogleich, indem sie jede Menge Autos vor die Wand fährt. Zahl und Art der Verletzungen bei Unfällen geben ihr zweifellos Recht. Die Kunst aber antwortet: Der Crash ist mehr. In ihm kommt die Ware erst ganz zu sich und wird zum Ding. Aber der Reihe nach.
Als der schwedische Autohersteller Volvo vor einigen Monaten sein jüngstes Sports Utility Vehicle, den in einer Kategorie mit Audi Q5, BMW X3 und Mercedes GLK angesiedelten XC 60, vorstellte, wurde zu einem der neuen Sicherheitssysteme eigens ein von der amerikanischen Werbeagentur „Arnold Worldwide" konzipierter Werbespot herausgebracht. Zu den schwungvollen, an ein Siegesfeuerwerk erinnernden Schlussakkorden von Tschaikowskis 1882 uraufgeführter „Ouvertüre 1812", einer Auftragskomposition, die den Sieg Russlands in den napoleonischen Kriegen 1812 darstellen sollte, fahren Volvos jedweder Couleur gegen die Wand. Im Rhythmus der Musik krachen sie frontal ineinander, werden seitlich erwischt oder springen mit der Anmut von Balletttänzerinnen. Es blähen sich die Airbags und es schleudern die Dummies, das Blech verformt sich in Zeitlupe und wirkt plötzlich so elegant wie der Faltenwurf eines Kleids von Yves Saint Laurent. Es ist eine wahre Freude, dem Treiben zuzusehen. Bis man schließlich in die überraschten Gesichter von Fahrern blickt, deren mit „City Safety" ausgestattetes Vehikel sanft und wie von Geisterhand bremst, auf dass verkündet werde: „The Volvo that can stop itself. Finally." Wir verstehen: So angenehm kann Sicherheit sein. Alles geht wie von selbst.
Nicht einmal Volvo, von jeher bekannt für besonders stabile und sichere Fahrzeuge, wirbt heute allein damit, wie sicher und stabil sich seine Autos bei einem Crash verhalten. Zunehmend spielen Features eine Rolle, wie sich ein Unfall vermeiden lässt - von ESP bis zu Spurassistent und Abstandsradar. Dass es nicht reicht, beides in einen Spot zu packen, zeigt das Beispiel des Hyundai Genesis. So gut die Bremsen des Wagens und so zuverlässig seine Sicherheitssysteme auch sein mögen, das öde nächtliche Kulissenspiel, in dem man sie vorführt, entbehrt jeder Art von Charme. Die ästhetisch-künstlerische Qualität solcher Spots spielt für das Markenimage aber auch dann eine Rolle, wenn man nicht ernsthaft daran denkt, sich einen Hyundai zu kaufen.
Die Automobile, die Ricarda Roggan fotografiert, hatten offensichtlich keines dieser Systeme an Bord. Sie haben ihren Crash schon hinter sich. Irgendwo haben sie sich die Nase gestoßen, nun stehen sie ratlos herum. „Creatures of the 20th Century" nennt die in Dresden lebende Künstlerin ihre Ausstellung in der Galerie Eigen+Art in Leipzig, in der sie neben der Serie „Baum" von 2007/08, die Blicke in frisches, horizontloses Grün zeigt, auch die Serie „Garage" von 2008 präsentiert, die ausschließlich beschädigte Autos vorführt. Nichts Lebensbedrohliches, nichts Sensationelles zeigen sie; und doch entfalten die Aufnahmen eine ganz eigene Magie.
Dabei geht es Ricarda Roggan nicht darum, aus dem Blech des Fortschritts künstlerisch anspruchsvolle und malerisch wirkende Skulpturen zu formen wie Richard Chamberlain; auch fotografiert sie keine kompakten monochromen Blöcke aus der Schrottpresse, wie sie César einst formte. Selbst die bei der Deformation der wohlgeformten Karossen wirksam werdende Energie interessiert sie nicht. Was sie - stets vor dunklem Hintergrund und auf neutralem Boden - festhält, sind blank geputzte, aber untauglich gewordene Fetische. Ihre Verwundung zeigen diese seltsam entrückt wirkenden, nie glamourös erscheinenden Wesen in hellem Licht offen her, ihr unbeschädigter Teil indes bleibt im Dunkel. Manche verbergen sich fast vollständig unter Planen, als schämten sie sich, andere liegen reglos da, als hätte jemand aus Pietät ein Leichentuch über sie geworfen. Und wo sich das Licht einst auf einer makellos geformten Karoserie spiegelte, da taucht es nun ein ins Relief einer Ruptur, die es nur einmal gibt. „Erst wenn der Zauber des Warencharakters ganz von den Dingen abgefallen ist wie eine alte Haut und sie selbst zu Abfall geworden sind, erwächst ihnen etwas, das ihnen als Waren nie zugekommen war und das sie doch als ihre promesse de bonheur zu Markte getragen hatten: Individualität. Vom Zauberbann der Verdinglichung befreit, werden sie jetzt erst zu wirklichen Dingen", schreibt Falk Haberkorn im Katalog.
Die Passage von der Ware zum Ding, sie verdankt sich einem Zusammenstoß von Fiktion und Wirklichkeit, in dem unterschiedliche Energien verzehrt werden. Das Eigenleben aber, das die Waren nach dieser Kollision führen, obgleich sie dafür nicht vorgesehen waren, ist ein ganz anderes als das Eigenleben, das die Ingenieure der Ware einpflanzen, um ihrer Verwandlung in etwas Individuelles vorzubeugen. Was es real zu vermeiden gilt, ästhetisch ist es erwünscht.
Ricarda Roggan, Creatures of the 20th Century, Galerie Eigen+Art Leipzig
www.eigen-art.com