Es scheint, als habe eine Riesenspinne ihre durchsichtigen Mega-Eier im Hamburger Bahnhof deponiert und das bizarre Gelege mit einem Gewirr von Stahlseilen möglichst fest im Eisenfachwerk des klassizistischen Baus verankert. Tatsächlich aber war der Installations-Künstler Tomás Saraceno am Werk – und dem traut man mehr zu als nur den instinktiven Vollzug einer naturgegebenen „Masche". Mit dem Titel „Cloud Cities" beansprucht der gebürtige Argentinier denn auch nicht weniger als die Verbindung von konkreter Intervention in den Stadtraum mit seiner wolkigen Utopie einer künftigen Metropolis. Aber während er kürzlich im Herforder Marta-Museum zu Ehren des ingeniösen „Um-Weltgestalters" Buckminster Fuller sein schwarzes Stahlnetz als zukunftsweisendes Kräfteparallelogramm über das Häusermeer einer klassizistischen Hauptstadt des 19. Jahrhunderts legte, mangelt es dieser allzu repräsentativen Einzelschau an Reibung, an produktiven Widersprüchen.
Zuerst einmal wird aufgereiht, was Saraceno in den zurückliegenden Jahren an „Sphären" erdacht und präsentiert hat. Das ist nicht wenig – und die transparenten Luftballons werden vor allem immer größer. Übersät mit Pflanzen wie der wurzellosen Tillandsia, die ihre Nahrung aus der Luft aufnimmt, könnten diese Module als Grundlage der erträumten Wolkenstädte gelten – würde nicht jedes Biotop ganz einsam und allein vor sich hin wuchern. Dieses Idyll in einer ehemaligen Bahnhofshalle der Gründerzeit sah man ähnlich bereits 2006 im Frankfurter Portikus, einem White Cube des 21. Jahrhunderts. Wie also fügt sich dieses Wiederholungsmuster in die vom Künstler annoncierte „Raumbezogenheit", seinen spezifischen Umgang mit dem jeweiligen Ausstellungsort?
Gemeint ist damit etwas ganz anderes als der begrenzte Museumskontext, gedacht sind Saracenos Arbeiten ja auch nicht als Skulptur: Deutlich wird das mit einigen überdimensionalen, bis unters Dach ragenden und am Boden mit Wassersäcken verankerten Kugelhüllen. In diese transparenten Sphären sind Zwischenböden in der Art einer Hüpfburg eingezogen. Wer den schwankenden Grund zusammen mit drei, vier anderen Besuchern nach geduldigem Anstehen über eine Gangway betreten darf, wähnt sich auf einem Trampolin. Es ist ein urbanes Labor, eine Experimentierstation: „Jedes Mal, wenn du dich bewegst, bewegst du auch die anderen", erklärt der Künstler die quasi wissenschaftliche Versuchsanordnung.
Zur Erforschung utopischer, nicht einmal in Ansätzen existierender Lebensentwürfe taugen keine pseudorealistischen Nachstellungen urbaner Begegnungssituationen. Zwar sehen „Cloud Cities" an einem Sonntagnachmittag eher nach kuscheliger Kleinfamilien-Freizeit denn nach einem radikal kalkulierten Zukunftsprojekt aus, aber über diesen ersten Museumsanschein hinaus wirft die Installation die Frage auf, ob und vor allem wie denn eine Metropole in der Kunst analytisch dargestellt, symbolhaft verkörpert oder sinnlich nachempfunden werden soll.
Von Robert Venturis postmodern ironischem „Learning from Las Vegas" bis hin zum digitalen Nomadentum des „Second Life" gibt es darauf vielerlei Antworten. Bei seiner zwischen Luftschiff-Metaphern und Biosphären-Konstrukte eingeengten Suche nach einer wenn nicht übermäßig neuen, so doch zumindest recht augenfälligen Alternative kommt Tomas Saraceno allerdings einiges abhanden. Etwa die Komplexität des städtischen, überhaupt des sozialen Lebens: Was seine sphärisch-lichten Begegnungsräume allen Computersimulationen voraus haben, den körperlich-sinnlichen, den leiblichen Aspekt, das fehlt ihnen in Hinsicht auf die Vielzahl, die Vielfalt möglicher Faktoren, Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten. Futuristischer Ringelpiez mit drei, vier Hanseln unter der Museums-Glasglocke gestaltet sich fundamental anders als ein Zusammenleben, das Arbeiten, Wohnen und auch die Freizeit von Zehn- oder gar Hunderttausenden in den projektierten Wolkenstädten.
Vor allem aber treiben die farblos schillernden Zukunftswolkenschiffe seltsam ortlos im Hamburger Bahnhof herum, es fehlt die Verankerung, der Rückbezug auf die Geschichte. Dabei sind wir, auch die kühnsten Utopisten, am Ende alle nur Zwerge auf den Schultern von Riesen. Das muss, wer nach den „Cloud Cities" nahrhaftere Museumskost sucht, in der aus den Beständen der Friedrich Christian Flick Collection neu arrangierten Ausstellung in den benachbarten Rieck-Hallen erkennen: Glaspaläste von Bruno Taut, die Luftkolonien des Wenzel Hablik oder elegante Spannweitenrekorde, die Frei Otto mit seinen Tragwerk-Konstruktionen erzielte, all das wird als architekturhistorisches Fingerfood in kleinen Kabinetten gereicht, bevor es dann um die größeren Happen geht: Quadratische, rechteckige oder auch runde Körper, zusammengestellt zu abstrakten, in gewisser Weise eben auch „architektonischen" Ensembles. Diese formalen Grundlagen möglicher Stadtstrukturen sind aseptisch und steril bei Donald Judd oder Sol LeWitt, ruppig und rustikal in den Holzblöcken Carl Andres. Und in den Fotodokumentationen von Gordon Matta-Clark schließlich wird deutlich, wie sehr jede Utopie auf ihrem Widerspruch gründet, der Dystopie: Da ist in graue Mietshausfassaden eine Abrissbirne gefahren wie ein Kugelblitz, hat ein Loch hinterlassen, durch das auch die größte von Tomas Saracenos Sphären noch hindurchpassen würde. Das ist die düstere, aber unbedingt notwendige Kehrseite, denn „ohne Gegensatz wird nichts offenbar, kein Bild erscheint im klaren Spiegel, so eine Seite nicht verfinstert wird." Diese Erkenntnis des Jakob Böhme sollte sich herumgesprochen haben – schließlich ist sie mehr als 400 Jahre alt.
Tomás Saraceno. Cloud Cities
Von 15. September 2011 bis 15. Januar 2012
Hamburger Bahnhof, Berlin
www.hamburgerbahnhof.de