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Die zwei Göttinnen des indischen Designs
von Bertsch Georg-Christof | 14.07.2011

„Ein Baum am Rande der Pflanzungen war ganz von kleinen grünen Papageien besetzt. (...) Eine kleine Herde grauer Eichhörnchen mischte sich unter die Papageien, so dass über eine Fläche von der Größe eines Bettlakens Papageien und Eichhörnchen, alle in zitternder Bewegung, sich abwechselten wie auf einem Stoffmuster. Ein lebendiger Teppich breitete sich vor mir aus. So etwas sollte vor mir kein Seidenweber gesehen haben?" Martin Mosebachs Roman „Das Beben" von 2005 quillt über von konzisen Indien-Beobachtungen. Kunst entsteht aus Natur, Natur und Kultur gehen ineinander über. Auch unsere zweite Natur, die Stadt, geht nahtlos in diesen Musterkatalog ein. „Mein Urgroßvater", sagt Umang Hutheesing, Spross eines uralten indischen Textilimperiums, „hat ein Joint Venture mit Louis Comfort Tiffany geschaffen. Das bildete die Grundlage unseres Engagements im zeitgenössischen Design." Und er fährt fort: „Als Hintergrund sollte man wissen, dass auch heute in unserer Region 72 Prozent der weltweit gehandelten Diamanten geschliffen werden." Wenn der Sechsundvierzigjährige erzählt, dröhnt Geschichte allenthalben. Einer 1.200 Jahre alten Familie von Händlern und Textilmagnaten entstammend, kontert er auf meinen halb ironischen Einwurf: „Du erzählst Geschichte so, als würde sie Dir gehören", mit flapsigen Stolz: „Natürlich gehört sie mir."

Für was stehen die Hutheesings? Historisch für Welthandel im Geiste der Seidenstraße von China nach Venedig. Aber auch für die Verbindung aus Kultur und jeweils modernster Technologie – und für jede Art von Kooperation. Diese Familie, mit den Zweigen Lalbhais, Hutheesing und Sarabhai, ist überdies vitaler Akteur und Motor hinter der Entwicklung des nordwestindischen Ahmedabad – dem größten Denim-Produktionsstandort der Welt – zu einem Epizentrum von Kultur und Wissen in Indien. Einzelne Familienmitglieder, etwa Umangs Großtante, Manorama Sarabhai, haben Le Corbusier in den fünfziger Jahren beauftragt, Villen für den Clan zu bauen. Umang Hutheesings hoch betagter Onkel, Anand Sarabhai, lebt noch heute mit seiner Freundin, einer griechisch-amerikanischen Bildhauerin, in der mittlerweile überwucherten Villa. Wir haben die beiden dort an einem schönen Frühlingstag besucht. „Ich lebe hier seit Jahrzehnten in einer Art gärtnerisch-architektonischen Paradies. Dessen bin ich mir sehr bewusst. Wir bemühen uns darum, Le Corbusiers Konzept möglichst unangetastet zu lassen." Und nach dem Tee geht's in den Pool hinterm Haus. Zwischen livrierten Dienern bellen die fünf Liebingsdackel um die Wette.

Die wüstennahe Metropole mit ihren 5,8 Millionen Einwohnern ist ein regelrechtes Mekka internationaler Architekturtouristen. Beim Nachmittagstee im privaten Hutheesing House, treffe ich Sarah Kabbaj und Peter Jordanov, Studenten der Universität der Künste Berlin: „Ahmedabad ist für uns ein höchst selbstverständliches Reiseziel, mit Louis Kahn, Le Corbusier, der Moghularchitektur", sagen sie. Charles und Ray Eames lehrten am – ebenfalls von der Familie mit gegründeten – National Institute of Design. Auch dies geht auf die, noch heute aktive, 94 Jahre alte Großtante zurück. „Design", bekennt sie, „gehört zu meinem Gencode. Bereits als Kinder wurden wir von vornherein in diese Welt eingeführt." Die Hutheesing Design Company wurde schließlich bereits 1881 vom Ahnherrn Magganbhai gegründet. Die politische Dimension der Familiengeschichte ist noch eindrücklicher. Sie spielte sowohl beim Übergang zum Moghulregime als auch, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, beim Aufstand gegen die Briten, eine relevante Rolle. Letzterer endete für zwölf Familienmitglieder am Galgen. Mahatma Gandhi, ein Freund der Familie, der aus dem hiesigen Bundesstaat Gujarat stammt und von Ahmedabad aus agierte, betrieb am Sabarmati-Fluss seinen Ashram Sabarmati, ein Meditationszentrum. Die Gästeliste in Umangs altem Stadtpalast, dem „Haveli", führt daher neben Queen Elisabeth oder Nehru ganz selbstverständlich auch Namen wie Bill Clinton und François Mitterrand.

Umang war während der Schule, des Studiums und der ersten Berufsjahre siebzehn Jahre lang in Japan, den Vereinigten Staaten und Großbritannien. Er kam just im Moment des verheerenden Erdbebens von 2001 in die Heimatstadt zurück. Ein tragischer Zufall, der, nach anfänglicher Verzweiflung und Gedanken an eine Rückkehr in den Westen, zu sozialem Engagement sowie zur Entwicklung eigener kultureller Institutionen führte. Nach zehn Jahren Aufbauarbeit besteht sein „Masterplan" nun, wie er sagt, darin, die beiden Göttinnen „Saraswati" – das Wissen – und „Lakshmi" – den Wohnstand – auf wohlgeordnete Weise in der Welt des Designs vor Ort zusammenzubringen. „Nur wo viel Wissen zusammenkommt, entsteht Reichtum – so simpel ist das" löst er seine Allegorie auf, während er an einer gekühlten Buttermilch nippt.

Wissen und Geld, brillante Köpfe und „Venture Capital" zusammenzubringen, um dem indischen Design sämtlicher Gattungen auf die Sprünge zu helfen, ist sein zentrales Projekt. Im Frühstadium dieses Vorhabens geht es nun darum, neue Verknüpfungen zu schaffen. So ist es ihm gelungen, mit internationalen Modedesignern eine Fotostrecke von sage und schreibe 22 Seiten in der Vogue zu platzieren, die auf dem Konzept „Inspiriert von Indien" aufbaut. Sie wurde als „Beste Modestrecke des Jahres" prämiert. Hier versuchte er erstmals, die lebendige indische Gestaltungskultur, die er im Slogan „more is more" zusammenfasst, einem westlichen Kontext zu injizieren.

Anschauungs- und Studienmaterial ist reichlich vorhanden, ja es ist in Familienbesitz, ob es sich um golddurchwirkte Moghul-Trachten, Le Corbusier-Architektur, Tiffany-Möbel oder traditionelle Schnitzereien handelt. Kein Wunder, dass die Designforscherin Bishaka Shome, die an dem monumentalen Buch „Handmade in India" (2008) von M.P. Ranjan mitarbeitete, vor zwei Jahren als „senior vice president" zur „Hutheesing Stiftung" stieß. In seiner Ausstellung „Les derniers Maharajas" (Die letzten Maharadschas, Kleidungsstücke vom Großen Durbar bis zur Unabhängigkeit (1911-47)), die er zusammen mit Pierre Bergé in dessen Pariser „Collection Pierre Bergé –Yves St Laurent" veranstaltete, blitzt dieser Sammlungsreichtum zum ersten Mal auf, wenn auch nur in Ausschnitten. Das war 2010. Im März 2011 publizierte „Fortune India" nun ein Porträt von Umang Hutheesing, in dem er beginnt, programmatisch über Mode hinauszudenken.

Wo führt dieser Weg hin? „Wir haben im Bereich der Textilproduktion stets auf die Kombination aus handwerklichem Können und Cutting edge-Webereitechnologie gesetzt. Hier gibt es auch einen starken Textilmaschinenbau." Der nächste Schritt wird vielleicht aus dem Textilbereich hinausführen, zu einem neuen indischen Möbeldesign. Indien bildet zurzeit die kritische Masse, und es ist an der Zeit, dieser eine neue Richtung zu geben und eine Aufbruchstimmung zu erzeugen, wie sie Italien 1972 mit der MoMA-Ausstellung „Italy, a new domestic landscape" erlebte. Allein, dazu braucht es eine starke Idee, die alle Tendenzen bündelt.

Seit ich Umang kenne, spinnt sich unser Dialog mit immer anderen Gesprächspartnern fort – Industriellen, Wirtschaftswissenschaftlern, Tänzern, Designern. Diese Allianzen würden sich in Deutschland in dieser Form kaum bilden. Gemeinsame Grundlage der indischen Gesprächspartner ist die profunde Kenntnis ihrer Geschichte und Kultur. Ich habe seit der Aufbruchsphase in Barcelona, Mitte der achtziger Jahre, eine derart vibrierende Diskussion um „das Neue" im Design nicht mehr erlebt. Zentrales Thema: Wie kann Indien seinen unüberschaubaren Schatz an Wissen und Formen unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts kraftvoll weiterentwickeln, ohne dabei in folkloristischem Kitsch zu enden?

Sicher ist: Es gibt zahllose Fußangeln. Viele indische Projekte verkommen wegen der allgegenwärtigen Provinzialismen zur Schildbürgerposse. Diese Gefahr sehe ich hier nicht. Internationale Ressourcen und Kontakte sind zur Genüge vorhanden. Die Frage ist vielmehr, ob es gelingen kann, eine schlüssige Verknüpfung internationaler Multiplikatoren, regionaler Handwerker und Designer, globaler Märkte und Medien zu entwickeln, also jenes „Amalgam", das eine kohärente Innovationsbewegung braucht, um sich entfalten zu können. Sind selbst ernannte Modezaren wie Umang Hutheesing in der Lage, Designinnovation an der Schnittstelle von Technik und Handwerk zu initiieren? Akzeptiert die kaufkräftige Oberschicht in Indien ein „nationales" Design oder greift sie nicht auch weiterhin nach Produkten von Artemide, Vitra und Iittala? Nur wenn es einen kaufwilligen heimischen Markt gibt – und der könnte gewaltig sein – wird solch ein Konzept realisierbar sein.

Das bevölkerungsreiche Indien wird von außen mit Elendsvierteln und Korruption verbunden, ein Bild das Danny Boyles Film „Slumdog Millionaire" von 2008 noch verstärkt hat. Auf der anderen Seite hat der Subkontinent atemberaubende Potentiale, gerade auf den Inlandsmärkten. Die Prognose für das Wachstum des Bruttoinlandsproduktes liegt für 2011/12 bei neun Prozent. Westliche Marken starren neben China daher zunehmend auf Indien, als Absatzmarkt und nicht als Produktionsstandort. Die lokalen Akteure sind unterdessen höchst selbstbewusst und hinsichtlich der Entwicklungsdynamik bestens informiert. Hier liegen die Chancen für ein eigenständiges Topdesign in allen Segmenten. Hat man Umang Hutheesing samt seiner epischen Familiengeschichte vor Augen, erscheint das Vorhaben einer umfassenden indischen Designrenaissance nicht wie ein Märchen. Vielmehr zeichnet sich ein Szenario ab, dessen wohldosierte Kombination von Hightech, Stil, Globalität und Geschäftssinn möglicherweise bald erste Zeichen setzen wird.

www.umanghutheesing.com

Dahsha und Deepak Hutheesing, gemalt von Attila
Blumen in einer Wasserschale
Ein von der Hutheesing-Familie gespendeter Jain-Tempel, Foto: Georg-Christof Bertsch
Fassade des Hutheesing-Tempels, Foto: Georg-Christof Bertsch
Fotokollage "Fortune India" mit Umang Hutheesing
Katalog zur Ausstellung "Les Dernier Maharajas" in Paris, 2010
Der wiederaufgebaute, alte Stadtpalast Haveli, Foto: Georg-Christof Bertsch
Umang Hutheesing in einem Holztürrahmen aus seiner Sammlung, Foto: HDC
Umangs Hutheesings private Terrasse mit einem Vorläufer der Hollywoodschaukel, Foto: Georg-Christof Bertsch