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Ein Haus ist nicht genug
von Thomas Wagner | 23.03.2010

Womit haben wir es bei dem neuen, von Jacques Herzog und Pierre de Meuron entworfenen VitraHaus eigentlich zu tun? Mit einem besonders schicken Möbelhaus für Design-Aficionados, das nur Produkte eines einzigen Herstellers präsentiert, also mit einem riesigen Showroom? Mit einem überdimensionalen Puppenhaus, in dem Wohnen zum anregenden Spiel mit jeder Menge gut gestalteter Sofas, Sessel, Stühlen, Tischen und Hockern, Farben und Stoffen wird? Oder mit einer gebauten Metapher für die Vitra Home Collection?

So viel steht fest: Ein Haus ist für Vitra definitiv nicht genug. Ein Gehäuse allein konnte gar nicht genügen, auch nur einen Bruchteil der Möglichkeiten und Kombinationen erfahrbar zu machen, die im prinzipiell offenen System der Vitra-Produkte angelegt sind. Insofern ist allein schon die Idee, gleich mehrere, gleichsam auf das Piktogramm für „Haus" reduzierte „gewöhnliche" Häuser in die Länge zu ziehen und übereinander zu stapeln, ebenso verblüffend wie überzeugend. Es müssen einfach viele Häuser sein, damit eine gebaute Entsprechung zur Philosophie von Vitra und dessen Home Collection entstehen kann. Genau das haben Herzog & de Meuron verstanden und ein vielschichtiges Gebäude entworfen.

Außen dunkel, innen hell

Das Häuschen als kleine Keimzelle des Wohnens und als große Welt des Designs, in dem lokale und globale Elemente mit jeder Menge Möbeln subtil zu einer Einheit verschmelzen - wie lässt sich all das in einem in sich verschachtelten Häuserstapel unterbringen? Der wie stets konzeptuelle Ansatz von Herzog & de Meuron verbindet zu diesem Zweck vor allem zwei Elemente miteinander: Erstens wurde das Gebäude in seiner Wirkung außen und innen farblich harmonisiert; und zweitens wurden die einzelnen Hauselemente in ihrer inneren Struktur auf äußerst raffinierte Weise miteinander zu einer Folge von Ebenen, Durchblicken und Treppen verbunden. Konkret: Von außen betrachtet, werden die ineinandergreifenden und sich durchdringenden Baukörper durch eine einheitliche anthrazitfarbene Putzhaut homogenisiert. Selbst die Dächer tragen dieselbe Farbe. Im inneren dominiert dann die Farbe Weiß in Gestalt von fein changierendem Stuccolustro-Putz, was den ausgestellten Möbeln die nötige Ruhe gibt, damit sie sich entfalten können. Proportion und Dimension der langgestreckten Räume sind so gewählt, dass sie trotz ihrer Größe vertraut erscheinen, und Details wie die zweifache Abstufung der Räume hin zu den verglasten Giebelfeldern tun das ihre, um dem Ganzen einen sachlichen, aber edlen Anstrich zu geben. Waren die Themen „Urhaus" und „Stapelung von Räumen" schon im bisherigen Œuvre von Herzog & de Meuron angelegt, so kommen sie im VitraHaus nun auf fünf Ebenen ebenso prägnant wie subtil zum Ausdruck.

Ein raffinierter Häuserhaufen

Das Gebäude hat aber durchaus auch seine expressiven Seiten. Bis zu fünfzehn Meter kragen einige der insgesamt zwölf Häuser aus, deren Bodenplatten immer wieder in die Giebelbereiche der darunter befindlichen Ebene einschneiden. Aus der Ferne wirkt das Ensemble wie ein überdimensionaler Häuserhaufen - scheinbar chaotisch, aber wohl geordnet, oder wie ein Kommentar zum Wachstum moderner Städte in der Vertikalen. Gleichsam unter der Assemblage aus einzelnen Häusern öffnet sich ein kleiner, von fünf Gebäudeteilen umschlossener Platz, von dem aus man das Haus betritt.

Der Rundgang beginnt im Obergeschoss, von wo aus man einen wunderbaren Blick auf den Tüllinger Hügel oder auf das Panorama von Basel werfen kann. Von dort oben aus geht es beständig treppab, begleitet von immer neuen Aus- und Durchblicken. Von Ebene zu Ebene wandernd, staunt man immer von neuem über die Raffinesse, mit der das komplexe Innenraumgefüge organisiert ist. Wie riesige Bohrlöcher fressen sich die mal engen, mal weit ausschwingenden Treppentürme durch die verschiedenen Ebenen und geben dabei ein ums andere Mal Durchblicke frei, die zum Weitergehen verlocken. So begegnet man auf einer Wanderung durch die Designgeschichte allem, was Vitra zu bieten hat - von den Klassikern Eames und Nelson bis zu Jasper Morrison und Hella Jongerius, vom Lounge Chair bis zur Uhr und vom Sofa bis zur Akari-Leuchte, von Panton und Prouvé bis zu Marten van Severen und den Bouroullecs. In seiner großzügigen Abgeschlossenheit und mit Blick über die angrenzenden Streuobstwiesen ¬¬vielleicht der schönste Raum ist jener, in dem Möbel und Lampen von Isamu Noguchi zu einem Ensemble verschmelzen, bei dessen Anblick man unweigerlich denkt: So möchte ich wohnen

Der Charme einer humanen Modernität

Aus der Sicht von Rolf Fehlbaum, dem Inhaber, Chairman und spiritus rector des Unternehmens, ist die Zielrichtung klar. In der aus Anlass der Präsentation des neuen Domizils abgehaltenen Pressekonferenz machte er deutlich, dass das VitraHaus für ihn mehr bedeutet als eine gelungene Marketing-Innovation. Das Haus, so Fehlbaum, solle ein Ort sein, an dem man seine eigenen Vorstellungen vom Wohnen erproben kann. Indem verschiedene Optionen angeboten würden, wie das aussehen kann, werde Einrichten zu einem heiteren Spiel und einer Aktivität, die niemals endet. Das VitraHaus fungiere aber auch, meinte Fehlbaum, als ein „Research Tool", als Werkzeug zur Erforschung des Wohnens und als Ort der Kommunikation. Das heißt: Hier kann auch Vitra selbst ausprobieren, wie die Dinge zusammenstimmen. Da ist er wieder, der Charme einer offenen, unverkrampft-spielerischen und humanen Modernität, den keiner so zu zelebrieren weiß wie Fehlbaum und den so gut wie alle Vitra-Produkte verkörpern. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass das Haus selten leer bleiben wird.

Geht mit der Fertigstellung des VitraHauses womöglich nicht nur der Vitra-Campus mit seinen zahlreichen Inkunabeln der zeitgenössischen Architektur seiner Vollendung entgegen, sondern kulminiert in diesem gestapelten Häuserknäuel womöglich auch die „Vitra Welt" selbst? Ist es die Idee einer lockeren und großzügigen, von keinem Dogma beschwerten Wohncollage, die das gesamte Programm von Vitra geprägt hat, die hier zu sich selbst kommt? Oder kann das gar nicht gelingen, wenn nur die eigenen Produkte zur Verfügung stehen? Natürlich fehlen bei der Mischung, die einem vorgeführt wird, die gewöhnlichen, die abgenutzten und trotzdem liebvoll aufbewahrten Stücke, die man zuhause unter die Design-Objekte mischt. Doch überraschenderweise vermisst man sie nicht wirklich. Vitras Einrichtungskosmos ist eben doch groß genug, um aus sich selbst heraus immer neue Varianten ansprechenden Wohnens hervorzubringen. Zumal die Architektur auf ihre Weise jederzeit den Eindruck zerstreut, man befinde sich nur in einem Möbelhaus.

Alle Fotos: VitraHaus von Herzog & de Meuron in Weil am Rhein für Vitra; Foto: © Stylepark