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gaupenraub +/-: Alexander Hagner und Ulrike Schartner

NACHHALTIGKEIT
Identität gestalten

Architektur für die Gemeinschaft und Pioniere im Urban Mining: Ulrike Schartner und Alexander Hagner, GründerInnen des Wiener Architekturbüro gaupenraub +/- im Interview.
10.11.2022

Seit über zwanzig Jahren realisiert das Wiener Architekturbüro gaupenraub +/- außergewöhnliche Ideen: Wie die "Vinzi"-Projekte, Bauten für die österreichischen Vinzenzgemeinschaften, die sich für benachteiligte Menschen engagieren. Bereits 2004 initiierten sie eine Notschlafstelle für Obdachlose mit, 2010 folgte eine Wohngemeinschaft für obdachlose Menschen, die VinziRast-WG sowie 2013 ein Gemeinschaftswohnprojekt für Obdachlose und Studierende, die "VinziRast-mittendrin" und 2018 Unterkünfte für alkoholkranke, obdachlose Männer, das "VinziDorf Wien". Für diese wie weitere Projekte hat gaupenraub +/- zahlreiche Preise erhalten, unlängst sogar den Preis der Stadt Wien für das bisherige Lebenswerk. Warum das noch lange kein Grund zum Aufhören ist, verraten uns die GründerInnen Ulrike Schartner und Alexander Hagner.

Simone Kraft: In den vergangenen Jahren wurde gaupenraub +/- vor allem die "Vinzi"-Projekte bekannt. Dieses soziale Engagement wird durch eine bewusste Aufteilung Ihrer Arbeit möglich – neben ehrenamtlichen Projekten übernehmen Sie auch "reguläre" Aufträge, auf Wettbewerbsteilnahmen verzichten Sie ganz.

Alexander Hagner: Für unsere Projekte für marginalisierte Personen bekommen wir inzwischen auch – sehr reduzierte – Honorare, denn diese Projekte werden immer größer und wir sind ein sehr kleines Büro, aktuell nur drei Personen. Wir können es uns heute schlicht nicht mehr leisten, so große Projekte komplett ehrenamtlich zu machen. Die Honorare für diese Projekte reichen aber nicht aus, um uns als Büro zu finanzieren. Daher haben wir eine Hybrid-Konstruktion: Zwischen 20 und 50 Prozent arbeiten wir an Projekten für Randgruppen, die nicht so gut bezahlt werden.

Ulrike Schartner: Daher auch die Entscheidung, auf Wettbewerbsteilnahmen zu verzichten, da sich beides nicht ausgehen würde – in Wettbewerbe zu investieren mit dem Risiko, nicht zu gewinnen, und gleichzeitig in soziale Projekte zu investieren.

Klosterfrau, Wien

Sie widmen Ihre Zeit also gewissermaßen zur Hälfte den ehrenamtlichen Projekten, zur Hälfte den kommerziellen privaten Projekten. Was verbindet die beiden "Welten"?

Ulrike Schartner: Das Bauen im und mit Bestand. Die meisten Projekte, mit denen wir zu tun haben, sind entweder das Füllen von Baulücken oder Umbauten alter Substanzen. Mittlerweile ist das Bauen im Bestand ja mit die wichtigste Bauaufgabe der Zukunft – wir sind da schon sehr lang dran. Ein Beispiel ist etwa der Umbau einer alten Mühle in einem Dorf zu neuem Wohnraum (Würzlmühle in Kichberg an der Wild, 2016/17), die sonst abgerissen worden wäre, dafür haben wir den niederösterreichischen Holzbaupreis 2019 gewonnen – auch unsere "kommerziellen" Projekte haben Preise ergattert. Für Klosterfrau Melissengeist in Wien haben wir zum Beispiel vor zehn Jahren ein Büro- und Lagergebäudes umgebaut, saniert und erweitert und dafür den Ethouse Award gewonnen. Wir bauen am liebsten nicht auf der "grünen Wiese". Wir versuchen immer Gebäude weiterzubauen und Dinge, die es schon gibt, zu implementieren.

Alexander Hagner: Wir machen das ja nun auch schon gut zwanzig Jahre lang. 2002 haben wir begonnen, mit dieser anderen Art von Architektur zu arbeiten und zwar in Bereichen von marginalisierten Gruppen, weil hier der größte Gap zu beobachten ist – da hier das, was Architektur alles kann, so wie wir sie verstehen, schlicht nicht vorhanden ist.

Bevor wir auf diese andere Art von Architektur zurückkommen, noch ein kurzer Blick ins Ausland…

Ulrike Schartner: In Österreich haben wir 2015 die Schwedische Botschaft in einem denkmalgeschützten Gebäude als Kontaktarchitekten mit umbauen dürfen. Damals schon wollten die Schweden weg vom russischen Erdgas, sie wollten eine energieautarke Botschaft. Ich kann mich erinnern, dass das zu dieser Zeit sehr belächelt wurde, weil in Wien einfach mit Erdgas geheizt wird. Die Schweden wollten aber unabhängig sein und heizen heute mit Erdwärme und Solar auf dem Dach.

Alexander Hagner: Auch wenn sich fast alle unsere Projekte in Österreich befinden: Gerade startet in Marburg an der Lahn ein Auftrag, der auf Initiative des Oberbürgermeisters begann. Das erwähne ich deswegen, weil die Politik in Wien uns bei den Sozialprojekten meist zu verhindern versucht hat. Im Ausland halten wir vor allem sehr viele Vorträge, etwa in Tschechien, Italien, Slowenien, Schweden, Ungarn, Deutschland und sogar in den USA. Häufig kommen auch interessierte ausländische Gruppen zu uns, die wir durch unsere Projekte führen. Sie wollen von unseren Erfahrungen lernen. Wir sehen unsere Arbeit als Beitrag zur Baukultur, ganz egal in welchem Bereich sie angesiedelt ist, ob für zahlende oder nicht zahlende BauherrInnen. Wir sehen uns als Kulturschaffende und haben einen sehr hohen Anspruch an unsere Arbeit, den wir nach bestem Wissen und Gewissen unabhängig von der Zielgruppe – aber immer mit dieser zusammen – umzusetzen versuchen.

Kirchbergmühle Vorher/ Nachher

Mit der Zielgruppe zusammen, wie meinen Sie das?

Alexander Hagner: Unsere Architekturproduktion gestalten wir immer mehr als Prozess, nicht nur in der Entwicklungs- oder der Bauphase, sondern indem wir versuchen, alle möglichen Menschen in den Entstehungsprozess eines Projekts insgesamt mit einzubeziehen – die Anrainerschaft, die künftigen NutzerInnen, die BauherrInnen. Gar nicht so sehr als Modeerscheinung der Partizipation, sondern weil dadurch viel mehr Sinnhaftigkeit entsteht als bei einem in sich abgeschlossenen Projekt: Kasten aufgestellt, Schlüsselübergabe, fertig. Auf unsere Weise kommt es zu sehr viel mehr Akzeptanz für eine Architektur, die dann quasi schon stattfindet, bevor sie überhaupt eröffnet ist. Wir arbeiten allerdings auch oft in Kontexten, wo es Sinn macht, frühzeitig andere mit einzubeziehen. In privaten Projekten läuft das natürlich etwas konventioneller ab, da wird es meist nicht so gern gesehen, wenn zu viele Leute mitreden. Mittlerweile haben wir viele von unseren Zielen erreicht, wir sind in der Tat ein bisschen so etwas wie Propheten in unserem Land bei diesen Themen.

Und Sie haben ja schon einen Preis fürs Lebenswerk erhalten!

Ulrike Schartner: Genau, da können wir jetzt ja aufhören! Nein, Spaß beiseite. Das große Interesse an unserer Arbeit freut uns natürlich und motiviert uns erst recht weiterzumachen. Es hat auch etwa mit den steigenden Flüchtlingsbewegungen zu tun. Wie bekommt man schnell Quartiere für Leute, die kein Dach über dem Kopf haben? Wir hatten hier schon lange die Expertise, wo andere erst angefangen haben, sich damit zu beschäftigen. Und jetzt geht diese Thematik eigentlich nahtlos über in die Frage nach bezahlbarem Wohnen. Wie geht man mit Bestand um? Wie geht man mit Vorgefundenem um? Wie kann man Bauelemente recyceln? Alles Themen, die wir eigentlich schon von Anfang an drin hatten. Zwar haben wir auch oft eher aus der Not eine Tugend gemacht, als dass es von Anfang an aus einem Nachhaltigkeitsaspekt heraus gedacht war, aber jetzt ist dieses Thema völlig in der breiten Mitte angekommen. Es ist plötzlich nicht mehr egal, was da alles neu auf der "grünen Wiese" entsteht.

Sie haben quasi das Urban Mining, also das Recycling der Rohstoffe der Stadt, avant la lettre eingeführt.

Alexander Hagner: Wir haben schon immer gern erst einmal geschaut, was ist denn eigentlich da, bevor wir eine "Einkaufsliste" erstellt haben für ein Projekt. Was ist da, könnten wir nicht mit dem oder jenem arbeiten? Ob das nun Human Resources sind oder bestehende Gebäude oder Bauteile, von der Hardware bis zur Software, das ganze Spektrum. Das kam ursprünglich auch sehr stark aus dem finanziellen Druck heraus, der auf einem Sozialprojekt lastet. Da kann man sich ja nicht einfach eine Stückliste machen und sich Firmen und Produkte wünschen. Aber wir bauen ja auch viel für privat und auch da schauen wir nach vorhandenen Ressourcen, das war und ist uns schon immer ein Anliegen. Schon als Student bin ich in Container geklettert und habe geschaut, ob da was Spannendes liegt, das ich vielleicht brauchen könnte. Das Schönste an der Sache ist, wie aus Vorgefundenem Gestaltung und Identität werden kann. Wie man Dinge mit Bedeutung, mit Geschichte identifizieren und dann – mit der nötigen Ideenvielfalt – in das implementieren kann, was man vorhat.

Ulrike Schartner: Alte Dinge müssen ja nicht immer kaputt sein, sondern können eine eigene Wertigkeit besitzen oder sogar so wertvoll sein, dass man sie sich neu gar nicht mehr leisten könnte. Wenn ich da jetzt an die "VinziRast mittendrin" denke, das war ein altes Biedermeier-Haus samt Fenstern mit einer Natursteinumfassung. Hätten wir das Haus abgerissen, hätten wir im Leben nicht wieder so schöne Fenster finanzieren können! Aber natürlich ist der Planungsprozess in diesem Stil sehr viel aufwändiger und anspruchsvoller, das ist vollkommen richtig, und damit sicher nicht immer wirtschaftlich für so ein kleines Büro, wie wir es sind.

VinziRast/ Vorher
VinziRast/ Nachher

Was lässt das Bauen und Planen mit alten Elementen so aufwändig und auch unwirtschaftlich werden? Man spart ja eigentlich Material, durch Wiederverwenden bereits vorhandener Dinge.

Ulrike Schartner: Wir müssen zum Beispiel erst einmal HandwerkerInnen finden, die mit diesen alten Bauteilen fachgerecht umgehen wollen und können. Die meisten reagieren nicht besonders begeistert darauf. Dazu kommen die Fragen der Gewährleistung et cetera.

Alexander Hagner: Für ein Vinzi-Projekt haben wir etwa ein leerstehendes Glashaus in St. Pölten, 700 Quadratmeter Glashausfläche, abgebaut und 80 Kilometer entfernt mit vielen Unterstützenden wiedererrichtet. Nun sind Pflanzen darin, daher muss die Luft zirkulieren können, es muss sich öffnen lassen, damit es nicht zu heiß wird. Dafür gibt es Handkurbeln, die brauchen keinen Strom, keine Energie. Sie könnten da aber einen Finger einklemmen und sich verletzen. Also muss man heute eine Schutzhaube darüber bauen lassen, damit es eine Bewilligung gibt. Und so weiter. So etwas animiert natürlich in keinster Weise dazu, Bestand zu erhalten oder womöglich sogar "zu ernten", also abzubauen und in neuem Kontext weiterzuverwenden.

Ulrike Schartner: Wir wünschen uns natürlich, dass sich die "normale" Architekturproduktion auch bald für ein ressourcenschonenderes Bauen entscheidet. Allerdings fehlen momentan dafür noch die Rahmenbedingungen. Das Baugesetz ist sehr konservativ, wir stehen bei unseren Projekten immer wieder mit einem Fuß im Gefängnis, bildlich gesprochen, denn wenn man mit alten Bestandteilen arbeitet, kann man gewisse Normen einfach nicht erfüllen. Dazu kommt der allgemeine Versicherungswahn, alles muss 100 Prozent versichert sein, für jede Schraube muss es Gewährleistung geben. Alles wird protokolliert und dokumentiert. Dass so etwas viele unserer Kollegen nicht wirklich animiert, in ähnlicher Weise zu bauen, verstehen wir voll und ganz. Hier braucht man Bauherren, die Verantwortung mit tragen, sonst klappt das nicht.

Alexander Hagner: Ich denke, wenn die Politik es ernst meint mit dem Thema Nachhaltigkeit, Ressourcen schonen, mit dem Umdenken beim Bauen, dann muss sie auch die Normen und Gesetze in dieser Richtung überdenken. Will man ein Umdenken erreichen, dann muss man die politischen Rahmenbedingungen dafür schaffen und auch Anreize bieten, etwa über ein Förderwesen zu zirkularer Architektur.

Sie haben es schon angesprochen, aus Identität kann Gestaltung werden, aus der Auseinandersetzung mit und der Integration von Vorhandenem erhalten Bauten Charakter. Was bedeutet das?

Alexander Hagner: Zum Beispiel Berlin, dort wurde und wird ja noch immer wahnsinnig viel neu gebaut. Aber die ganzen neuen Architekturen sprechen mich so gar nicht an, sie wirken wie nano-beschichtet. Oft denkt man sich "Das Gebäude habe ich doch gestern schon wo anders gesehen". Sie sind verwechselbar, austauschbar. Es fehlt der eigene Charakter und Charme sowieso. Wir dagegen suchen immer Dinge, die identitätsstiftend sind, die den Ort ausmachen, ein Gebäude, die Nachbarschaft, etwas, was unverwechselbar ist, das eine Brücke schlägt zu einer Geschichte. Diese Geschichten wollen wir weitererzählen. Wir haben beide auch bei Wolf D. Prix studiert, das heißt, der Gestaltungsanspruch war immer ein ganz großer. Ausdrucksstarke Architekturen, sexy Architektur! Wenn nun die Komponente des Gefundenen oder Vorhandenen noch dazu kommt, entsteht eine neue Dynamik: Wie geht das, was ich mir vorstelle, und das, was da ist – und das man oft genug so gar nicht gesucht hat –, zusammen? Was wird daraus? Das Ergebnis hat meist viel mehr Charakter, eigene Identität! Das wünschen wir uns auch von den Kollegen, dass sie bei alten Gebäuden nochmal hinschauen, ob man ihnen nicht ein weiteres Leben geben kann und sich so automatisch auch eine besondere Identität entfalten kann, wie man sie heute so vermisst in unserer Neubau-Produktion, die so abstrakt, so unnahbar perfekt daherkommt.

VinziDorf

Projekte wie die "Vinzi"-Bauten funktionieren da anders. Sie sind natürlich auch von ihrer Intention her anders ausgelegt, sie bringen Menschen zusammen, die meistens wenig bis gar keine Berührungspunkte haben, Studierende und Obdachlose etwa. "Empathie ist der Klebstoff der Gesellschaft", haben Sie das einmal genannt.

Alexander Hagner: Empathie ist der Klebstoff der Gesellschaft, genau. Empathie kann aber nur dann entstehen, wenn ich Kontakt habe mit Menschen, die nicht in meiner üblichen "Blase" sind. Man braucht reale Treff-Räume, das haben wir gerade in den Zeiten der Pandemie ganz extrem gemerkt, als Leute dreimal am Tag einkaufen gegangen sind, um in der Schlange zu stehen und mit anderen reden zu können. Es ist unheimlich wichtig, dass es Orte gibt, wo diese informellen Treffen zwischen Menschen, die normalerweise nichts miteinander zu tun haben, passieren können. Das soll allerdings auch keine Sozialromantik sein! Natürlich gibt es auch Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen. Wir wollen aber nicht diese Konflikte als Treiber für die Architekturentwicklung heranziehen – man denke da etwa an die ganzen baulichen "Schutz-Formen", Gated Communities und so weiter. Unsere Strategie ist immer, egal ob Sozial- oder Business-Projekt, nach den Potenzialen zu suchen. Wo liegen die besonderen Chancen eines Vorhabens? In einem Ort, einer Menschengruppe, einer Raumidee? "Wir wollen Trüffelschweine für Chancen sein", habe ich mal gesagt. Chancen und Potenziale als Motor für ein Projekt herzunehmen ist eine wunderbare Strategie, erspart einem aber trotzdem nicht, sehr sensibel gegenüber möglichen Problemen und Konflikten zu sein, etwa indem man Räume schafft, die Druck raus nehmen, indem man zum Beispiel eine Erschließung nach draußen legt und dort mehrere Wegmöglichkeiten anlegt. Wenn ich jemandem begegne, mit dem ich grade einen Konflikt habe, dann kann ich einen anderen Weg nehmen und schon ist die Situation entspannt.

Ulrike Schartner: Die Möglichkeiten, informell auf andere zu treffen, werden immer weniger. Als ArchitektInnen können wir hier bessere oder schlechtere öffentliche Räume erzeugen, innen wie außen. Ein Lieblingsbeispiel bei uns in Wien ist der Naschmarkt, wo von den BankdirektorInnen bis zu den Wohnsitzlosen wirklich alle hingehen. Solche niederschwelligen Plätze gehen uns abhanden, solche Orte brauchen wir viel mehr – und die wollen wir schaffen!

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