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Geschichte ist kein Pappenstil
von Anne Haun | 02.10.2009

Das streng geometrische Raster des Regalsystems sortiert die grauen Pappschatullen von immer gleicher Gestalt mit fast pedantischer Ordnungsliebe. Einige der zu archivierenden Hüllen sind im Vordergrund gestapelt und verweisen, ebenso wie die schräg vor dem Regal stehende Leiter, auf die vermeintliche Nutzung des „Archivs"; ein Karton ist geöffnet und bezeugt die inhaltliche Leere. Kein Indiz, kein benennbarer Hinweis auf den dargestellten Zusammenhang gibt Aufschluss über das eigenartig kühl an der Oberfläche verharrende Setting, das von jeder menschlichen Spur gereinigt ist. Alles wirkt etwas zu perfekt, ja fast aseptisch, als dass es noch realistisch schiene.

„Ordnung ist das Unwahrscheinliche und daher eine Erscheinungsweise der Kunst", paraphrasiert Botho Strauss selten prosaisch die Arbeit „Archiv" (1995) von Thomas Demand, die Teil der von Udo Kittelmann für die Neue Nationalgalerie Berlin kuratierten Schau ist. Das „Archiv" als Ort des Sammelns und Bewahrens, als Hüter von Information und Dokumentation historischer Fakten, Recherchepool und Bildgedächtnis, steht geradezu paradigmatisch für die Arbeitsweise des Künstlers.

Ausgehend von vorgefundenem Bildmaterial, das Demand der Presse oder privaten Zusammenhängen entnimmt, baut er lebensgroße Papiermodelle, die als Vorlage für seine Fotografien dienen. Trotz akribisch konstruierter illusionistischer Täuschung, bleibt die Modellhaftigkeit der Darstellung stets im Foto sichtbar. Winzige materialbedingte Ungereimtheiten, das Fehlen von Details und der dadurch entstehende Eindruck von Leere, erzeugen eine auf den ersten Blick diffuse Skepsis gegenüber dem Sichtbaren. So operieren die fotografischen Tableaus Demands auf der Basis einer Erwartungshaltung, die in den Arbeiten gleichzeitig bestätigt und in Frage gestellt wird. Erst mit der Aufklärung darüber, dass es sich hier beispielsweise um das Archiv Leni Riefenstahls handelt, scheint es möglich zu sein, den informationsleeren Raum mit Sinn zu füllen und die zeitliche und bildhafte Erstarrung aufzubrechen.

Doch welcher Erkenntnisgewinn resultiert letztlich aus der Identifizierung des dargestellten Geschehens? Funktionierten die Arbeiten Demands nur über ihre motivische Entschlüsselung, was wären sie dann mehr als eine ziemlich umständliche Variante herkömmlicher Dokumentarfotografie mit Hang zum Bildrätselraten?

Demand arbeitet mehr als Bildhauer denn als Fotograf, als einer, der Modelle einer Wirklichkeit konstruiert, die sich selbst als Model entpuppt. Wenn nach Fertigstellung des fotografischen Bildes die gebauten Papiermodelle umgehend zerstört werden, kommt „mit dem physischen Verfallsdatum der Skulpturen" (Thomas Demand) auch der Zeitfaktor ins Spiel, der eng an das verwendete Material Papier geknüpft ist.

In „Büro" (1995) macht Demand abermals einen Ort zum Thema, an dem Dokumente und Akten verwaltet werden, allerdings präsentiert das Chaos von aufgebrochenen Schränken und wild verstreuten Papieren den Ort als seiner ursprünglichen Funktion beraubt. „Büro" bezieht sich auf ein unmittelbar nach dem Fall der Mauer kursierendes Pressefoto von der Erstürmung der Stasi-Zentrale in der Berliner Normannenstraße durch aufgebrachte Bürger. Ebenso wie in „Archiv" ist Papier hier alles Andere als ein unschuldiges Material. „Jedes Modell, jede Art von schneller Visualisierung ist am einfachsten mit Papier zu machen - und man wird es auch am schnellsten wieder los. Nicht nur im praktischen, sondern auch im emotionalen Sinne", formuliert Demand in einem Interview mit Hans-Ulrich Obrist. Hier manifestiert sich eine kalkulierte Distanz zum Material. Papier dient gleichermaßen als Konstruktionsmittel und Motiv, wodurch jene Analogie der Realitätsebenen entsteht, die das Spezifische und Individuelle des bildhaften Ausgangspunktes über die Bereinigung im Modell und dessen fotografischer Reproduktion auf die Ebene des Allgemeinen und Prototypischen hebt und entsprechend transformiert. „Weder", so Demand, interessiere ihn „der banale Ort noch die Argumentation über den Tathergang, sondern das, was als Mythos hängen bleibt und sich verselbständigt."

In „Badezimmer" (1997), einer der bekanntesten Arbeiten Demands, die sich auf den Tod von Uwe Barschel bezieht, bleibt, anders als auf dem berühmt gewordenen „Stern"-Foto, die Badewanne leer. Der reduzierte, für Demand charakteristische Bildtitel, potenziert den Interpretationsspielraum. Umso mehr aber ist der Aha-Effekt garantiert, wenn die durch das Bildgedächtnis gespeiste Imagination des Betrachters die Leerstelle mit „freien" Assoziationen füllt. Das Ausgangsbild einer vorgeordneten Realität scheint hier lediglich dazu zu dienen, den Blick des Betrachters in Sicherheit zu wiegen, um so den Mythos der Fotografie fortzuschreiben. Demand demonstriert den Akt der Repräsentation als offenen Prozess, indem er den Modellstatus der Fotografie selbst ins Bild setzt. Dabei geht es ihm nicht um die technischen Implikationen des fotografischen Bildes, sondern um die medialen, bildhaften und gesellschaftlich-kulturellen Voraussetzungen seiner Entstehung und seiner Rezeption.

Hier vollzieht sich jene „Logik der Simulation" wie sie Jean Baudrillard beschrieben hat: Es gehe, so Baudrillard „nicht mehr um die Imitation, um die Verdopplung oder um die Parodie, sondern um die Substituierung des Realen durch Zeichen des Realen".

Demands Werke fragen nach der Möglichkeit eines neutralen, nicht manipulierten, „unschuldigen" Bildes und sie erzählen von den Tatorten einer nur mehr ideologisch aufgeladenen Wahrnehmung. Ob in der Aufnahme des verwüsteten Führerhauptquartiers in der Wolfschanze nach dem missglückten Attentat auf Hitler („Raum", 1994) oder der rechtzeitig zum Ausstellungsbeginn fertig gestellten Reproduktion der Kufsteiner „Heldenorgel": Demands Fotografien sezieren in ihrem Entstehungsprozess die gezeigten Orte und lösen sie aus einem ikonografischen Klammergriff, um sie als Prototypen eines öffentlich wirksamen Bildgedächtnisses wieder Gestalt annehmen zu lassen. Deshlab sind sie mehr Stillleben als Historienbilder, und so erscheint es verfehlt, die Fotografien Demands auf die Dokumentation eines repräsentativen Deutschlandbildes herunter zu brechen, wie es der Ausstellungstitel „Nationalgalerie" sowie der begleitende Katalog suggerieren. Hier funktionalisiert leider ein Kurator die künstlerische Arbeit Demands als Korsett seiner Ausstellungspolitik, die sich den symbolisch hoch aufgeladenen Ort der Neuen Nationalgalerie gleich mit einverleibt.

So ist es eher fraglich, ob die vorgenommene konzeptuelle Einschnürung dem Werk Demands wirklich zu einer besseren Figur verhilft. Besonders sinnfällig wird dies angesichts der literarischen Bildunterschriften von Botho Strauss, denn wie sollte man - immer unter der Maßgabe einer Ausstellung mit dem kuratorischen Anspruch nationaler Relevanz - beispielsweise einen Kommentar zum Bild des missglückten Attentats auf Hitler lesen, der vom „Mystisch-Begabte[n] am Hitlerismus" schwärmt und fortfährt: „Das Volk wurde nicht „verführt" - es verführte seinen Verführer"?

Gegenüber derartiger Verflüssigungsrhetorik wirkt die elegante Ausstellungsarchitektur des Londoner Büros Caruso St. John Architects aus frei von der Decke abgehängten Vorhangstoffen, die vom dänischen Unternehmen Kvadrat, Europas führendem Hersteller zeitgemäßer und innovativer Textilien, zur Verfügung gestellt wurden, als das eigentlich konstruktivistische Moment behaupteter Identitätsarbeit. In schwerem Faltenwurf gleiten die Stoffbahnen weich bis zum Boden und verströmen in ihrer dichten Haptik und neutralen Farbgebung einen warmen Kontrapunkt zu den glanzkaschiert-kühlen Fotografien, die schwerelos vor der insgesamt fast fünf Kilometer langen Textilarchitektur zu schweben scheinen. Die Vorhänge feiern die transparente Architektur Mies van der Rohes, inszenieren die Achsen der gläsernen Halle als labyrinthische Bühne des reflektierenden Blicks und greifen den trompe l'œil-Effekt der Fotografien wieder auf, indem sie die Relation von Bild, Modell und Wirklichkeit abermals zur Disposition stellen.


Neue Nationalgalerie Berlin
Thomas Demand
18. September 2009 - 17. Januar 2010

www.neue-nationalgalerie.de

Thomas Demand, Büro, 1995 © Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2009
Thomas Demand, Studio, 1997 © Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2009
Thomas Demand, Klause 1, 2006 © Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2009
Thomas Demand, Raum 1994 © Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2009
Thomas Demand, Parlament, 2009 © Thomas Demand, VG Bild-Kunst, Bonn 2009