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Im Universum der Stühle
von Sandra Hofmeister | 30.10.2011

Kaum ein anderes Möbel hat eine so lange und vieldiskutierte Geschichte wie der Stuhl. Trotzdem ist das letzte Kapitel noch nicht geschrieben, vielmehr kommen jedes Jahr weitere Facetten hinzu: Neue Fertigungsmethoden, technologische Errungenschaften und Materialkombinationen zeigen die unterschiedlichen Gesichter der Typologie. Dabei ändern sich die funktionalen Aspekte des Sitzmöbels im Grundsatz nur wenig – Sitzen bleibt eine künstliche Körperposition, die in mehr oder weniger bequemer Haltung eingenommen werden kann. Doch die Mittel, diese Funktion in die Praxis zu übertragen, wandeln sich. So bleibt die Persönlichkeit und Aussagekraft von Stühlen variabel: Freischwinger aus Kunststoff oder Sitzblock aus Polycarbonat, Formschichtholzelemente oder recyclebare Pappe? Für Küchen- und Schaukelstühle gilt ebenso wie für Klapp-, Büro- oder Liegestühle, dass die Bandbreite der Möglichkeiten noch lange nicht ausgeschöpft ist.

Meilensteine und Semantik

Das Sitzen lässt sich so vielseitig gestalten wie nie zuvor. Waren Stühle früher Symbole eines repräsentativen Herrschaftsanspruchs, wovon Begriffe wie der „Heilige Stuhl" und der „Vorstandsvorsitz" heute noch zeugen, so hat die Kulturgeschichte des Stuhls spätestens mit der Industrialisierung eine Wende vollzogen. Von 1859 an wurden in den Thonet-Werken Bugholzstühle in großen Stückzahlen gefertigt und in Einzelteilen rund um den Globus verschifft. Als Idee eines neuen Lebens und eines neuen Menschen haben die industriellen Fertigungsmethoden am Bauhaus Schule gemacht. Freischwinger aus Stahlrohr wie der von Mart Stam – und skulpturale Sitzmöbel wie der „Wassily Chair" von Marcel Breuer sind Meilensteine, die heute immer noch Gültigkeit haben. Als „Apparate des heutigen Lebens", wie Breuer sie bezeichnete, sind Stühle ihrem Wesen nach stets in jenem Kontext verankert, der dieses „heute" ausmacht. Das Sitzen selbst kann nicht neu erfunden werden, doch die Semantik von Stühlen lässt einen breiten Interpretationsspielraum zu, der stets andere Bedeutungsschichten erschließt.

Fortschritte in Kunststoff

1950 entwarfen Charles & Ray Eames für den "Low Cost Furniture Design"-Wettbewerb des Museum of Modern Art den „Plastic Chair" – der erste seiner Gattung mit glasfaserverstärkter Kunststoffschale. 1966 stellte Helmut Bätzner mit dem „Bofinger Stuhl" den ersten aus einem Stück Polyester geformten Stuhl vor, den der Architekt ursprünglich für das Karlsruher Staatstheater entwickelt hatte. Nur ein Jahr später ging der „Panton Chair" als erster Freischwinger aus glasfaserverstärktem Acryl in Serienproduktion. Und Vico Magistrettis „Selene" von 1969 – ebenfalls ein stapelbarer Monoblock und obendrein bezahlbar –, setzte mit seinen S-förmig geschwungenen Beinen Maßstäbe hinsichtlich Konstruktion und Ästhetik.

Konstantin Grcic griff die Traditionen sowohl der Freischwinger als auch der Kunststoffstühle auf, als er 2008 mit dem „Myto" für Plank einen Kunststoffstuhl „ohne Beine" vorstellte, der ebenfalls aus einem Stück gefertigt und stapelbar ist. Der „Myto" knüpft an Mart Stams Experimente mit Gasleitungsrohren aus den zwanziger Jahren an und überträgt die Idee des Stuhls „ohne Beine" auf den heutigen Stand der Technik. Mit Ultradur High Speed von BASF – dem Zauberkit des „Myto" – ist das Kapitel „Kunststoff und Stühle" zu einem vorläufigen Ende gekommen, zumindest was die Stabilität betrifft. Als leichtfließendes Polybutylenterephthalat wurde der neuartige Kunststoff ein Jahr nach seiner Markteinführung sogar mit dem Ökoeffizienz-Siegel ausgezeichnet. Doch mit Fragen der Nachhaltigkeit und des Recycling fängt eine neue Geschichte an, die ebenfalls nicht erst mit dem „Myto" beginnt.

Geschichte und Geschichten

Stühle erzählen Geschichten, und nicht selten greifen Designer in ihren Entwürfen dabei auf historische Zusammenhänge zurück und interpretieren sie auf neue Weise. Patricia Urquiolas „Comeback Chair" von 2010 tut dies mit Augenzwinkern. Die hohe Sitzlehne des Kunststoffmöbels erinnert an einen Windsor-Chair und entpuppt sich doch als ironische Replik auf die Vorbilder aus dem 18. Jahrhundert. Wurden die Holzstäbe der Rückenlehne früher mit handwerklichem Geschick an der Drehbank gefertigt, so bekennt sich Urquiolas Entwurf freimütig zur Kunststoff-Replik und zeigt auf diese Weise eine tradierte Stuhlgattung mit neuem Gesicht. Technologien aus der Autoindustrie – wie neuerdings bei „Chassis" von Stefan Diez –, neue High-Tech-Kombinationen und chemische Innovationen haben das Design von Stühlen bis in die neunziger Jahre hinein stark geprägt. Harz-Polyester-Verbundmaterialien, oftmals durch Glasfasern verstärkt, hielten Einzug in die Welt des Sitzens und haben zeitweise den Blick auf einfache Materialien in den Hintergrund treten lassen.

Holz und Substanzielles

Zukunftsvisionen wie der 1968 entworfene „Bubble Chair" von Eero Aarnio – ein perfektes Möbel für jeden Science-Fiction-Film – gelten heute als historische Kultobjekte. Nach den bunten Experimenten mit Polymeren ist der Blick auf Essenzielles zurückgekehrt – und mit ihm hat sich das Interesse für Holz wieder zu Wort gemeldet. Dabei hat die Weiterentwicklung von Konstruktionsmethoden und Materialkombinationen neue Wege des Machbaren erschlossen. So transformiert heute der Blick von Stefan Diez auf das Bugholzerbe tradierte technologische und ästhetische Kriterien. Beim „404", den Diez für Thonet entworfen hat, sind die gebogenen Stuhlbeine und Armlehnen in einem „Knoten" zusammengeführt und von unten in die Sitzfläche eingelassen. Jasper Morrison zeigt mit seinem „Basel Chair", dass die Gattung des schlichten klassischen Holzstuhls, wie er seit hundert Jahren in großer Vielfalt produziert wird, durch eine Lehne und Sitzfläche aus Kunststoff gewinnt.

Das Substanzielle und Supernormale, das Jasper Morrison und Naoto Fukasawa 2007 in einem damals noch als provokant geltenden Manifest als Gegenbewegung zur exaltierten Pose im Design ausriefen, zeigt sich heute als vielschichtige Besinnung auf die Essenz. Stühle sind anthropomorphe Möbel, ihre suggestive Form hat Beine und eine Rückenlehne, manchmal auch Arme. Allein deshalb stellen sie eine der größten Herausforderungen für Designer dar, die den Charakter und die Personalität von Stühlen stets neu bestimmen.

Eine umfassende Übersicht an Stühlen finden Sie hier:
Stühle bei Stylepark

In unserer Serie zu den Produkttypologien sind bisher erschienen:
„Alles, was Möbel ist" von Thomas Wagner
„Nicht anlehnen!" über Hocker von Nina Reetzke
„Von Ruhe und Gemütlichkeit" über Lounge Chairs von Mathias Remmele
„Schaumstoffwiese, länger frisch" von Markus Frenzl

Grafik: Dimitrios Tsatsas, Stylepark