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Immer schön britisch bleiben
von Antje Southern | 05.06.2013

Um fünf Uhr morgens fahren die ersten Lieferwagen mit frisch geschlachteten Tieren am Smithfield Fleischmarkt vor, um 10 Uhr öffnen die Flagship-Stores der führenden Designmarken ihr Türen. In der Vergangenheit lebte dieses Viertel von Handwerk und Handel, die London Clerkenwell Design Week wurde vor vier Jahren ganz im Geiste dieser historischen Tradition eröffnet. Ihr wachsendes Ansehen als Messe beschert ihr von Jahr zu Jahr mehr Besucher und Markenhersteller. Der Erfolg der CDW verdankt sich ihrer geografischen Konzentration und der optimalen Ausnutzung der lokalen Infrastruktur, in der Tradition und Gegenwart nebeneinander bestehen dürfen.

Die Clerkenwell Design Week findet in drei außerordentlich spektakulären Gebäuden statt. Mittelpunkt ist das im italienischen Palazzo-Stil erbaute Farmiloe Gebäude. Da die originale Inneneinrichtung dieses viktorianischen Waren- und Handelskontors mit seiner Bleiverglasung zum großen Teil noch erhalten ist, ist es wohl der ideale Austragungsort für das eklektische Spektrum internationaler und britischer Designmarken. In den etwas gruseligen unterirdischen Gewölben der Clerkenwell Haftanstalt stellen vor allem Newcomer und junge Talente aus. Die eher etablierten Designfirmen haben sich mit ihren Luxusobjekten in den ruhigen Räumen der Prioratskirche sowie der Krypta und den Klostergärten des St. John Ordens niedergelassen.

Ein gigantisches Pop-Up Outlet

Die neueste bekannte Marke unter den erstmaligen Teilnehmern ist Foscarini, das Unternehmen präsentiert seine Bestseller an prominenter Stelle im Erdgeschoss des Farmiloe Gebäudes. Die internationalen Designermarken hoffen durch die Präsentation ihrer Produkte einen Teil des wachsenden Auftragsmarktes für die Ausstattung von Bars, Hotels, Büros und Krankenhäusern für sich sichern zu können. Enttäuscht werden allerdings jene Besucher sein, die auf der Suche nach neuem innovativen Design sind. Die Mehrzahl der Präsentationen ist Auftraggebern vorbehalten, die öffentlichen Räumen mehr Individualität und Behaglichkeit verleihen möchten. Es herrscht ein gewisser Wertkonservatismus vor, da Hersteller ihren Schwerpunkt auf langlebige und qualitätsvolle Produkte legen.

Die Wertschätzung von Handwerk

Britisches Design zeichnet sich durch einen gewissen schrulligen Traditionalismus aus; so werden in diesem Jahr im Bereich “Design Britain” im Farmiloe Gebäude eine Reihe junger aufstrebender und in Großbritannien ansässiger Firmen für Möbel und Leuchten gemeinsam präsentiert, u.a. Deadgood, James UK und Another Country. Die meisten dieser Hersteller wurden nach der Bankenkrise in 2008 gegründet und reagieren entsprechend auf die andauernde Neukalibrierung aktueller Wertvorstellungen. Die vorgesehene Obsoleszenz der Kunststoffprodukte, ein Überbleibsel unserer industriellen Designgeschichte, wird durch einen neuen Fokus auf lokale und nachhaltige Produktion ersetzt. Die emotionale Beziehung zu den Materialien und die Wertschätzung handwerklichen Geschicks offenbart sich deutlich in den wunderbaren Maserungen des Eichen- oder Walnussholzes aus verantwortungsvoller Forstwirtschaft oder den schön gearbeiteten Verbindungen oder kegelförmigen Beinen, die das Erscheinungsbild der Möbel kennzeichnen.

Deadgoods gerade vorgestelltes „Brogue Light” spielt mit der traditionellen Ästhetik des klassischen handgenähten Budapester Schuhs; hier geht es um die Geschichte, die das Objekt erzählt und weniger um progressive Innovation. Steuart Padwicks „Giant Sticks Lights” und der in kräftigen Farben gehaltene „Belly Desk” haben diese typisch britische Anmutung während Russell Pinchs „Holland Park Chair” aus massivem Buchenholz den traditionellen Windsor Sessel, eine Ikone der britischen Handwerkskunst, aufgreift. Dieses Festhalten am “typisch Britischen” ist offenbar keine flüchtige Modeerscheinung. Padwick und auch Pinch, die beide mit der britischen Designlegende Terence Conran zusammengearbeitet haben, repräsentieren eine wachsende Anzahl britischer Marken, die sich nicht scheuen Produkte mit eigenwilligem Charakter anzubieten, die eindeutig polarisieren.

Beim Gang durch das Farmiloe Gebäude gewinnt man den Eindruck, dass hier eine erstarkende Generation pragmatischer und hellsichtiger britischer Designer am Werk ist, die das Know-how haben sich zu etablieren und dann auch auf sich selbst gestellt überleben können. Die Konsequenzen dieses zuversichtlichen Unternehmertums könnte ein Rückschlag für jene Einzelhändler sein, die bislang vor allem auf junge Designer gesetzt haben. SCP, eine der britischen Firmen, die schon früh britische Talente gefördert haben, präsentiert eine lobenswerte aber irgendwie auch vorhersehbare Neuauflage des „Woodgate” Sofasystems aus den 1990er Jahren sowie seines “Parallel shelving” Regalsystems.

Ruhige Rückzugsorte

Der Mangel an innovativen Produkten auf der Messe scheint auf einen Trend hinzuweisen, nämlich die allmähliche Umorientierung der Designer bei der es in erster Linie um die Erfüllung des menschlichen Bedürfnisses nach Privatheit und Sicherheit geht. Tilt, ein Architektur- und Designbüro, das 2001 gegründet wurde und erstmals an der CDW teilnimmt, zeigt Möbel, die auf der Grundlage eines eingehenden Austauschs mit dem Endverbraucher entwickelt wurden. Im Auftrag des Personals der Apotheke der ambulanten Abteilung des London Whittington Hospitals hat Tilt den „Quiet Chair” und „Call Booth” entwickelt und kommt damit dem Bedürfnis der Mitarbeiter und der Patienten nach Rückzugsmöglichkeiten nach. Mit Abstrichen bei der Ästhetik geht Tilt jedoch keine Kompromisse bei Komfort und Funktionalität ein, so verbindet der „Open Book Chair” zum Beispiel Bibliotheksregale mit einem bequemen Lesesitz.

Schon immer war es das Mantra des postmodernen Designs, den Einfluss von Räumen auf zwischenmenschliche Beziehungen zu verstehen. Verner Pantons Gedanke, dass “Räume Möbel sind und Möbel Räume” hat Freya Sewell zu “Hush” inspiriert, ihrem Filzstuhl aus biologisch abbaubarer temperaturausgleichender Merinowolle. Als Antwort auf das Bedürfnis in einer vernetzten Öffentlichkeit eine Privatsphäre zu schaffen, erlaubt die blütenähnliche Form von „Hush” einen Rückzug aus der geräuschvollen Umgebung. Mit Aufträgen von fortschrittlich denkenden Unternehmen wie Google, British Airways und Unilever lässt Sewells “Hush” hoffen, dass anregende und wagemutige Designer immer noch Unterstützung finden, auch wenn deren Produkte in der hinterletzten Ecke der Gewölbe einer Haftanstalt verborgen ausgestellt werden.

Nachbarn, die Design verstehen

Draußen auf den Straßen von Clerkenwell tobt der erbitterte Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Besucher der Designweek. Ein Möbelhersteller hat seinen Showroom mit Requisiten aus dem Film Charlie und die Schokoladenfabrik ausgestattet. Sedus hat ein Gehege mit kleinen, teilweise nur sieben Tage alten, Lämmern aufgebaut, um Käufer anzulocken.Man kann sich natürlich auch in den nahegelegenen Flagship-Stores auf den neuesten Stand bringen, was die internationalen Designneuheiten aus Mailand betrifft. Designgiganten wie Vitra haben ihren Showroom mit einer Installation von Bouroullec speziell kuratiert und umgestaltet, The Workbay Office wird in einer Indoor-Gartenlandschaft präsentiert, die aus den vertikalen Säulen erwächst.

Während des dreitägigen Festivals bieten sich zahlreiche Gelegenheiten an den Aktivitäten teilzunehmen, die die kreativen Anwohner von Clerkenwell sich ausgedacht haben. Icon lädt Passanten ein, einen imaginären Kontext um die Silhouette eines der berühmten Stühle zu kritzeln, die von Mobile Studio auf Sockel gestellt und auf der Straße verteilt wurden.

Der volle Veranstaltungskalender umfasst auch lebendige Diskussionen mit Designern, Wissenschaftlern und Architekten in Privaträumen,die gleichzeitig als Ausstellungsflächen dienen.
Domus hat einen Abend mit Patricia Urquiola veranstaltet, um zu demonstrieren wie der Designprozess schließlich in ihre neue Serie von „Azulej” Fliesen mündete, während Dr. Glenn Adamson, Leiter der Forschungsabteilung am Victoria & Albert Museum, in seinem Vortrag “Emerging Trends: Craft and Design” in der Contemporary Art Society Überlegungen anstellt inwieweit die Geschichte der Handwerkskunst die Praxis der Gegenwart beeinflusst.

Passanten als Darsteller

Mit der weltweit höchsten Architektendichte pro Quadratkilometer ließen sich die Organisatoren des Festivals einige amüsante Aktionen einfallen, um auf der Straße auf das Ereignis aufmerksam zu machen. So wurden im Rahmen einer Straßenperformance Passanten ermuntert, Kräuter aus den essbaren Gärten zu essen oder in einer Textilhütte Klavier zu spielen. Beides wurde von Architecture for Humanity organisiert, um auf die Arbeit der Wohltätigkeitsorganisation aufmerksam zu machen. Um eine entspannte Atmosphäre für die Besucher zu kreieren, die die Straßen von Clerkenwell erkundeten, hat das Architekturkollektiv Assemble 200 kostengünstige dreieckige Stühle entworfen und gebaut. Sie wurden entlang der Straße des Farmiloe Gebäudes bis Clerkenwell Green aufgestellt. Durch die dreieckige Konstruktion können die Stühle in verschiedenen Arrangements und Mustern zusammengestellt werden, so dass “alleine die Vielzahl der Stühle absurde und ungewöhnliche Situationen entstehen lässt, die zu Spekulationen darüber Anlass geben, welchem Zweck sie eigentlich dienen und ihre Nutzer auf diese Weise zum Teil der Performance werden lassen”.

Eine der interessantesten Maßnahmen, die die Organisatoren des Festivals ergriffen haben, ist eine Ausstellung mit dem Titel "Design Equis", die sich mit den gemeinschaftlichen Designprozessen befasst, die von der surrealistischen Technik der kollektiven Assemblage von Wörtern und Bildern inspiriert ist. Um den Aspekt der Beliebigkeit des Experiments beizubehalten wusste keiner der Designer, wer die anderen waren, der einzige Bezugspunkt war das jeweils letzte vom Vorgänger kreierte Objekt. Die ausgesprochen komischen Ergebnisse werden im Rahmen einer Sammlung Alter Meister und Antiquitäten im Museum des St. John Ordens ausgestellt, beispielsweise die Verwandlung eines Stethoskops in vier Schritten zu einer Venus of Google als 3-D-Druck.

Inmitten dieser anregenden Darbietungen behält doch Zaha Hadid das letzte Wort. Die auffälligste Anwohnerin von Clerkenwell hat die CDW gekapert, um ihre eigenen Galerieräume der Öffentlichkeit offiziell vorzustellen. Es ist fast so, als würde man durch Zahas Gehirn wandeln, ihre Eindringlichkeit und ihre geistige Beweglichkeit werden in ihren Bildern mit konstruktivistischen Anklängen sowie dem Archiv alter und neuer architektonischer Modelle sichtbar, dazu zählen Projekte wie der nicht verwirklichte KMR Zollhof 3 Media Park in Düsseldorf und Reliefpapierschnitte, die Vitra dazu bewogen haben, die Feuerwache für Weil am Rhein in Auftrag zu geben. Die meisten Arbeiten aus ihrer futuristischen Möbelserie werden auch gezeigt, das heißt ihre Fans müssen nicht länger in angesagten Clubs herumlungern, um einen Eindruck ihres berühmt berüchtigten Aqua Table (2005, Established & Sons) zu bekommen oder auf ihrem Zephyr Sofa (2010 ZHD) sitzen zu können.

Die Clerkenwell Design Week ist eine sehr eigene und exzentrische Veranstaltung, die äußerst erfolgreich die kommerzielle Langeweile mit hochanspruchsvollen Designideen koordiniert. Das funktioniert aufgrund der einzigartigen lokalen Situation und hält etwas für jeden Besucher bereit. In der kurzen Zeitspanne von drei intensiven Tagen im Mai ist es uns gelungen uns auf den neuesten Stand zu bringen was den britischen Ausblick auf internationales Design betrifft und Einblicke in die Arbeistweise der Kreativbranche in Clerkenwell zu bekommen.


www.clerkenwelldesignweek.com

Typisch britisch: Russell Pinchs „Holland Park Chair” aus greift den Windsor Sessel, eine Ikone der britischen Handwerkskunst, auf. Foto © Antje Southern
In der “Design Britain” Sektion, die junge britische Marke Another Country. Foto © Clerkenwell Design Week
Ruhiger Rückzug: Tilt hat für das Personal der Apotheke des London Whittington Hospitals den „Quiet Chair” entworfen. Foto © Antje Southern
Pantons Gedanke “Räume Möbel sind und Möbel Räume” hat Freya Sewell zu “Hush” inspiriert. Foto © Clerkenwell Design Week
“EXTL Lights” von Deadgood. Foto © Clerkenwell Design Week
Design Equis beschäftigt sich mit Designprozessen, von der surrealistischen Technik der kollektiven Assemblage von Wörtern und Bildern inspiriert. Foto © Antje Southern
Zaha Hadid hat die CDW gekapert, um ihre eigenen Galerieräume vorzustellen. Foto © Antje Southern
Ausgesprochen komisch: die Verwandlung eines Stethoskops in vier Schritten zu einer Venus of Google als 3-D-Druck. Foto © Antje Southern
3D-Drucken war auch auf der CDW ein großes Thema. Foto © Clerkenwell Design Week
Hello. Foto © Clerkenwell Design Week
Willkommen in Clerkenwell: Das Ansehen der Messe beschert ihr von Jahr zu Jahr mehr Besucher und Markenhersteller. Foto © Clerkenwell Design Week
Mittelpunkt und eklektisches Spektrum der CDW ist das Farmiloe Gebäude, im Bild Leuchten von Foscarini. Foto © Clerkenwell Design Week
Plattform für Designliebhaber – und Jaguar-Aficionados. Foto © Clerkenwell Design Week
Draußen auf den Straßen von Clerkenwell tobt der erbitterte Wettbewerb um die Aufmerksamkeit der Besucher der Designweek. Foto © Clerkenwell Design Week
Mit der weltweit höchsten Architektendichte pro Quadratkilometer ließen sich die Organisatoren des Festivals einige amüsante Aktionen einfallen. Foto © Clerkenwell Design Week
„Nutzer zum Teil der Performance werden lassen” . Foto © Clerkenwell Design Week
Wirklich innovatives Design sah man kaum, dafür aber umso mehr Performance. Foto © Antje Southern
Sedus hat ein Gehege mit kleinen, teilweise nur sieben Tage alten, Lämmern aufgebaut, um Käufer anzulocken. Foto © Clerkenwell Design Week
Für ein gutes Gewissen: Architecture for Humanity baute diese Textilhütte, um darin Klavier zu spielen. Foto © Clerkenwell Design Week
Designers Choice: Privatsphäre in einer vernetzten Öffentlichkeit schaffen. Foto © Clerkenwell Design Week
Eine exzentrische Veranstaltung, die äußerst erfolgreich die kommerzielle Langeweile mit hochanspruchsvollen Designideen koordiniert: die CDW. Foto © Clerkenwell Design Week