Man muss sich das klar machen: Bis ungefähr 1960 hat kein Filmemacher und keine Filmemacherin das eigene Leben gefilmt. Das persönliche Leben war nicht interessant, tagebuchartige Aufzeichnungen mit der Kamera gab es nicht - und man nahm diese auch nicht mit, wenn man auf eine Party ging. Jonas Mekas war einer, der das geändert hat, gerade, weil er schüchtern war und Skrupel hatte. Er zeichnete seine Reaktion auf das auf, was um ihn herum passierte. Und das war einerseits nichts Besonderes, und andererseits jede Menge. Deshalb ist Jonas Mekas nicht einfach nur ein Filmemacher, er ist vieles zugleich: Schriftsteller, Experimentalfilmer, Kameramann, Archivar - film-maker and poet - wie er selbst sagt. Doch ganz gleich, was er auch gemacht hat, er hat dabei vor allem nie zugelassen, dass die exzentrischen Geschwister Kunst und Leben voneinander getrennt werden. Nie hat er einen Unterschied zwischen der Poesie des Handels, der Poesie des Machens und der Poesie des Kommentierens akzeptiert.
1922 im litauischen Semeniskiai geboren, emigriert Mekas, nach einer fast fünfjährigen Irrfahrt als Zwangsarbeiter und „Displaced Person" durch Deutschland, gemeinsam mit seinem Bruder Adolfas 1949 nach New York. Dort beginnt er, Filme zu drehen, organisiert Filmveranstaltungen, initiiert Netzwerke und sucht unermüdlich nach Aufführungsorten für Filme - wenn er nicht gerade auf litauisch Gedichte schreibt oder auf Englisch Filmkritiken für seine Zeitschrift Film Culture oder die Village Voice. Dabei widmet er sich gleichermaßen dem europäischen Avantgarde- und Nachkriegsfilm wie dem sogenannten New American Cinema, für das er eine neue, adäquate Sprache zu finden sucht. Mekas ist aber auch mit der Kamera dabei, wenn sich die New Yorker Kunstszene trifft und zum Beispiel Andy Warhol und Mr. Fluxus, George Maciunas, Hof halten, weil sie gerade gemeinsam ausstellen. Er filmt Warhol aber auch, wenn dieser mit der Videokamera Leute filmt, und er filmt ihn am Wochenende auf Long Island und in der Factory.
In den sechziger Jahren, lange bevor sich das Publikum an kurze Einstellungen, Überbelichtung und Einzelbildschaltung gewöhnt hat, entwickelt er seinen eigenen „gestischen" Stil. Er arbeitet mit einer Bolex, einer kleinen Handkamera, die es ihm erlaubt, seinen Alltag sowie die Geschehnisse um ihn herum aufzuzeichnen. „Walden" heißt der erste, auf diese Weise gedrehte Film. Zu tagebuchartigen Skizzen montiert, werden die Bilder nicht nur von einer Tonspur voller Geräusche, sondern zugleich auch von einem oft poetischen Kommentar aus dem Off begleitet. Beides zusammen spinnt die zeitgeschichtliche Bilderfolge in ein Netz ein, das in der Realität ebenso verankert ist wie im Geist des Individuums, in dessen Alltag sich Kunst und Leben ohnehin permanent durchdringen. Deshalb sind Mekas' Filme vieles gleichzeitig: Dokument, liebvolle Skizze des Alltags, poetische Collage und politisches, ästhetisches und medienreflexives Statement.
Es ist vor allem die Form des Tagebuchs, die Mekas' schriftstellerisches und filmisches Werk kennzeichnet. Sie ist es, in der Kunst und Leben ganz selbstverständlich miteinander verbunden sind, weil alles - ob Erzählen, Reden, Schreiben, Filmen, Trinken, Archivieren, Organisieren - schlicht alltägliche Handlungen sind. Ob Mekas in seinem Projekt „365 Filme" die Rede des Architekten Frank O.Gehry dokumentiert, der von der American Federation of Arts geehrt wird und sich darüber freut, der „zweite Frank im Guggenheim-District" zu sein, oder ob er - natürlich kommt die Stimme aus dem Off - ein kleines Gedicht - „a drop of rain on your lip / I saw, I saw a drop of rain on your lip..." - vorliest, dessen Verse man mitlesen kann, wobei eine eigentümliche Verschiebung zwischen Stimme und Text entsteht - keiner mischt Wort, Bild und Musik mit derselben Intensität und Innigkeit wie Jonas Mekas.
Was er zum Teil vor mehr als vierzig Jahren geschaffen hat, nimmt nicht nur vieles, was heute bei MTV oder YouTube erscheint, vorweg, es ist ungleich radikaler. Das liegt hauptsächlich daran, dass Mekas nicht einfach schnelle Schnitte verwendet oder Bild und Ton asynchron mischt; er rhythmisiert sein Material und poetisiert es zugleich. Sprich: er macht es zu einem Spiel, das ernst und heiter die Oberfläche des alltäglichen Lebens berührt, zugleich aber auch dessen unbewusste Unterströmungen aktiviert. „Deshalb", so Mekas, „können ernsthafte Bürger aus aller Welt diese Filme nicht ertragen. Sie erinnern sie an das Verlorene Paradies. Sie glauben nicht mehr daran, dass das Paradies zurückerobert werden kann. Aber der Mann, der den Pilz isst, weiß es besser." (Der Mann, der den Pilz isst und der es besser weiß, ist Robert Indiana, der in Andy Warhols Film Eat von 1964 nichts anderes tut als langsam - und in 16 statt in 24 Bildern - einen Pilz zu essen.)
Was Mekas 1964 in „Notes On Some New Movies and Happiness" schreibt, gilt mehr oder weniger auch für seine eigenen Filme: „Diese Filme sind wie Spiele, kein bisschen „seriös". Sie sehen noch nicht einmal wie Kino aus. Sie sind zufrieden damit, „Amateurfilme" zu heißen. Nutzlose, „gedankenlose", kindische Spiele, ohne großen „Intellekt", die „nichts" zu „sagen" haben; ein paar Typen sitzen rum, gehen, springen, schlafen, lachen, tun sinnlose, unwichtige Dinge, ohne „Drama", ohne „Intentionen" oder „Botschaften" - sie scheinen nur zu ihrem eigenen Vergnügen da zu sein."
Wer die Arbeiten von Jonas Mekas im Jahr 2003 im Litauischen Pavillon der 51. Kunst-Biennale von Venedig gesehen hat, der konnte keinen Zweifel daran haben, dass in einem Kaleidoskop aus Fragmenten des Lebens Spiel und Dokument verschmelzen, damit wir, die Betrachter, noch näher an die Kunst und an das Leben in ihr heranrücken. Überprüfen, wie das aussieht und wie es sich anfühlt, kann man derzeit im Museum Ludwig in Köln, wo das Schaffen und Wirken von Jonas Mekas sowohl mittels seiner Filme als auch mittels Dokumenten, Publikationen, Filmplakaten und Bildmaterial vorgestellt wird.
In den Zeiten schierer Größe zelebriert Jonas Mekas das Kleine und das Persönliche, er erklärt, weshalb man Wein zur Produktion braucht und weshalb man nicht weiß, wer man ist. „Man darf die Musen nicht betrügen", sagt er - und lächelt. Und: „Der Wandel kann nicht von oben kommen. Oben sitzen die verschiedenen Regierungen, oben ist alles völlig verrottet. Diese Zivilisation kann nicht revolutioniert, im Sinne von: verändert, werden, man muss sie ersetzen." So ist Jonas Mekas für all jene, die sehen und hören können, zu einem Beispiel geworden für die Kunst, am Leben zu sein und zu bleiben.
Museum Ludwig, Köln, bis 1. März 2009
www.jonasmekas.com