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Kein Friede für die Hütten: Venezianische Streifzüge Folge 6
von Bertsch Georg-Christof | 08.08.2009

„Wieder diese banalen Gebäude und Fahrzeuge. Diese Modellbau-Kunst nervt langsam etwas", lacht mich der indische Architekt Ragunath Vasudevan an, mit dem ich über die venezianische Biennale schlendere. Manche der Häuser, die wir im kleinen Türkischen Pavillon stehen sehen, wirken extrem primitiv, andere zeugen von nahöstlicher Bauornamentik, die meisten stellen schlicht die Unwirtlichkeit unserer Städte dar. Gesichtslose Gebäude im Maßstab 1:100. Doch auf den zweiten Blick ist da jedoch noch irgendetwas Anderes: Diese kleine Architekturausstellung versammelt Gebäude, die es schon gibt. „Schau mal", sagt Ragunath, „das ist doch die Brücke von Mostar". „Sie sind real, aber so standen sie niemals beieinander." Gibt es sie eigentlich noch?

Ihr Schöpfer, Ahmet Ögüt, 1981 im türkischen Diyabakir geboren, ist ein bildender Künstler und Geschichtenerzähler, der in seinem Begleittext zu dieser Modellstadt den Italienischen Romancier Italo Calvino paraphrasiert. Calvinos Figur Marco Polo erzählt von Unsichtbaren Städte; Ögüt indes versorgt uns mit sichtbaren Bauwerken. Er durchschreitet eine imaginäre Stadt, in der, ja, die Brücke von Mostar steht - und zwar so, wie sie vor der Sprengung 1993 aussah. Bei seinem fiktiven Spaziergang steht er plötzlich vor dem Alfred P. Murrah Federal Building in Oklahoma City oder er spricht mit Fahrgästen des Londoner Linienbusses No. 30, Endstation Marble Arch. All dies, so dämmert es den Betrachter langsam, sind Objekte, die durch Nachrichtenbilder ins kollektive Unterbewusstsein eingebrannt wurden - in ihrem Trümmerstadium: Der Bus explodierte am 7. Juli 2005 in London; das Verwaltungsgebäude von Oklahoma, mit seinem großen Kindergarten, wurde am 19. April 1995 in die Luft gejagt, und die historische Steinbrücke von Mostar am 9. Juli 1993. Diese Stadt ist eine Agglomeration vieler Orte, Gebäude und Fahrzeuge, die von Terroristen gesprengt oder als Folge kriegerischer Gewalt zerstört wurden.

„Ich war bei keinem der Attentate anwesend. An einige der Plätze - zur Moschee von Banja Luka, zur HSBC in Istanbul - reiste ich nach der Zerstörung. Ich bin also ein Außenseiter, was die persönliche Erfahrung betrifft", beschreibt der Gestalter sein Verhältnis zu diesen Bauten. „Aber ich habe mit Menschen gesprochen, die mit den Orten zu tun hatten: Ich traf einen Mann, der in der Nationalbibliothek von Sarajewo gearbeitet hatte. Ein anderer ist im zerstörten Klinikzentrum von Belgrad geboren."

Ögüt geht es wahrlich nicht um Betroffenheitskunst, er sucht die formale Neutralität, die Distanz. Er möchte, dass sich alles ganz langsam erschließt, im Kopf. Für Ögüt ist „Exploded City" eine „negative Utopie". Wenn man an Utopie denkt, sinniert er, „dann geht es um Begehren, Wünsche. Was man hier unversehrt sieht, beinhaltet bereits das Drama, welches sich künftig ereignen wird."

Exploded City stellt den türkischen Beitrag zur diesjährigen Kunst-Biennale von Venedig dar. Die Präsentation ist im Rahmen der aus meiner Sicht ohnehin sehr gelungenen Biennale vielleicht das eindrücklichste Dokument dafür, wie mit Methoden der Architektur, dem Gebäudemodell, und Methoden des Designs, der objekthaften Narration, wichtige Aussagen gemacht werden können. Ahmet Ögüt schielt freilich nicht auf das Spektakuläre. Er verzichtet bewusst auf die Darstellung der Twin Towers, die, so Ögüt, „sofort zu erkennen gewesen wären und daher für den beabsichtigten langsamen Erkenntnisprozess völlig ungeeignet." Seine Arbeit erschließt sich erst nach und nach. Im Lesen, im Betrachten, im Erinnern. „Mir geht es mehr um die emotionale Beziehung mit der Stadt als um die architektonische Konstruktion."

Ögüt nutzt diese Architekturen nicht einfach als bildnerisches Collagematerial. Und hier wird er für uns interessant: Er weist auf die politischen Inhalte von Materialien und Bauformen hin: „Asphalt", erklärt er mir, „ist ein ideologisches Werkzeug der Autoritäten. Es funktioniert als der beste und einfachste Weg der Besitznahme. Asphalt ist daher die Dingwerdung der Autorität." Ögüts Schärfe und Klarheit im Umgang mit dem, was wir tagtäglich verplanen, entwerfen und bauen, stünde der Architektur und dem Design generell gut an. An dieser Stelle, viel mehr als im wohlfeilen Designkunsthandwerk gäbe es eine leichte Brücke zwischen Kunst, Design und Architektur.

Ögüts Exploded City zeigt keine Ruinen, sondern versammelt die unversehrten Gebäude. Das ermöglicht es, zahlreiche Querverweise zwischen Orten und Situationen vor den tragischen Ereignissen zu ziehen. Es sind Bezüge, auf die man ohne ihn niemals gekommen wäre. Die Installation irritiert und belastet den Betrachter gerade deshalb, weil die Gebäude in den Modellen völlig intakt sind, es weder Verletzte noch Tote gibt, keine Ambulanzen und Sanitäter, Feuerwehrleute und Militärs zu sehen sind. Weil „es" noch nicht passiert ist. Wir kannten diese Gebäude nicht, als sie noch intakt waren; wir haben sie überhaupt erst als Trümmer und Ruinen in den Abendnachrichten kennengelernt; und so haben wir sie in Erinnerung behalten. Ögüt stellt sie uns anders, alltäglicher und intakt vor.

Durch die Art, wie er die Gebäude angeordnet hat, stellt sich die Frage: Gibt es etwa formale Verbindungen zwischen diesen Gebäuden? Sind bestimmte Bautypologien besonders anfällig für Attentate? Könnte man eventuell anders planen, um Attentate von Häusern fern zu halten und dennoch einen offenen Stadtraum - ohne Checkpoints und Schranken - zu ermöglichen? Die Antwort liegt auf der Hand: es handelt sich sämtlich um öffentliche Gebäude, zumindest um solche, in denen sich zahlreiche Menschen aufhielten und bewegen - Ziele des auf Zivilisten gerichteten Terrors der letzten zwanzig Jahre. ´

Andererseits sind nur jene Gebäude ins kollektive Gedächtnis eingedrungen, in denen sich im Moment eines Anschlages viele Menschen aufhielten. Diese Attentate überschritten die so ungemein zynische Schwelle eines nachrichtenrelevanten Ereignisses. Man muss daher fragen, wie es aussehen würde, wenn man Gebäude mit einbezöge, in denen einzelne Menschen durch Attentate umkamen oder verletzt wurden? Wie groß wäre ein Modell dieser explodierten Stadt? Wie groß müsste sie schon jetzt sein, würde man alle Orte solcher Greuel einbeziehen, nicht nur jene 26, die Ögüt ausgewählt hat? Wäre es bereits eine Groß-Stadt? Welcher Schreckensmetropole stünden wir gegenüber? Was wäre das für eine Stadt, die neben dem Vorortzug aus Madrid Atocha (März 2004), neben dem Schulhaus in Beslan (September 2004), neben dem UN-Haus in Algier (November 2007) hunderte von Häusern, Zimmern, Fassaden und Bars im Irak zeigen würde?

Die gesprengte Stadt war bereits vor der Terrorwelle unserer Gegenwart eine kollektive Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Guernica verschwand, die Altstadt von Darmstadt verschwand, Dresden, Nagasaki verschwanden. Für Ahmet Ögüt ist diese jüngere Geschichte bereits zu tief in den Schulbüchern eingegraben: „Ich interessiere mich mehr für das Gegenwärtige - für etwas, das wir selbst erlebt haben. Zum Teil sogar genau in dem Moment, als es passierte!". Die Bedeutung von Ögüts Archiv der explodierten Gebäude, das Sammeln und Versammeln der baulichen Zeugen des laufenden War on Terror, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

53. Internationalen Kunstausstellung der Biennale Venedig
7. Juni - 22. November 2009
www.labiennale.org

Ahmet Ögüt
Exploded City von Ahmet Ögüt
Türkischer Pavillon (rechts)