top
In der Neuen Galerie: Dan Petermans "Kassel Ingot Project (Iron)", Eisenbarren als Währung und brutale Wirklichkeit deutscher industrieller Macht (vorne), und Theo Eshetus Video-Installation "Atlas Fractured".

Wenn Elefanten kämpfen, leiden die Frösche

Was sagt die Documenta 14 über den gegenwärtigen Zustand der Welt aus? Welche Rolle spielen die Kuratoren, welche die Kunst dabei? Ein Kommentar.
von Thomas Wagner | 19.06.2017

"Die Forderungen und Spuren einer Moral, die mehr wäre als der praktische Theil der Philosophie, werden immer lauter und deutlicher. Sogar von Religion ist schon die Rede. Es ist Zeit, den Schleyer der Isis zu zerreißen, und das Geheime zu offenbaren. Wer den Anblick der Göttin nicht ertragen kann fliehe oder verderbe.“ – August Wilhelm und Friedrich Schlegel, aus der Zeitschrift Athenaeum, ausgelegt in einer Vitrine in der Neuen Galerie

I.

Die Documenta 14 in Kassel bringt die Kunst nicht zum Tanzen. Sie will nicht einmal aufklären, sondern zuallererst belehren. Zu diesem Zweck schreibt sie sich paradox auf ihre Fahnen, es sei an der Zeit, alles zu verlernen, was wir von Kunst erwarten oder über sie zu wissen glauben. Gelernt werden müsse eine ganz andere, politische Lektion – zu der die Kunst lediglich das Anschauungsmaterial bereitstelle. Also fragt Pélagie Gbaguidi in der Neuen Galerie: „Wie kann Bildung dazu beitragen, das Bewusstsein zu reinigen: dass es keine Unterwesen gibt, sondern dass die Geburt eines Lebens ein Wert an sich ist. Dass jedes menschliche Wesen ein Recht auf eine Wiege hat.“ Von der Freude an Kunst, vom Verstehen und vom Glück des Erkennens ist nicht die Rede; um endlich "horizontal" zu denken und die Gleichheit aller zur Grundlage eines neuen Humanismus zu machen, muss das (falsche eurozentrische) Bewusstsein gereinigt werden. Im Namen dieser im Kern wenig künstlerischen Vorstellung führt die D14 – eher im Namen eines Robespierre als eines Friedrich Schiller – pauschal Klage gegen den Zustand der Welt. Der Blick, den sie auf unsere Gegenwart wirft, entstammt nicht der Kunst, sondern einer bestimmten Spielart politischer Theorie. Er verwendet Kunstwerke dazu, Belege für jeden Konflikt, der existiert, für jedes historische Unrecht, das geschehen ist, vorzulegen. Dabei gleicht der Blick der D14 auf das Imperfekte unserer globalisierten Welt jenem durch die Röhren, die Hiwa K. vor der Documenta Halle platziert hat: Einerseits fokussiert er das politisch zu verantwortende Elend, andererseits möbliert er es mit den Mitteln der Kunst und richtet sich bequem in ihm ein. Seine Legitimation verschafft sich der Kurator als Erzieher geschickt und auf pseudodemokratische Weise schlicht im Nachhinein: Kommen mehr zur aktuellen Documenta als fünf Jahre zuvor, muss alles richtig gewesen sein.

II.

In vielem, was in Kassel gezeigt wird, dreht es sich um Macht und Geld, um Elend, Kolonialismus und Sklaverei, um Armut und Finanzkapitalismus. Im Projekt einer generellen Umerziehung hat Kunst als Kunst ebenso wenig einen Platz wie Ironie, Witz und Humor. Entsprechend streng werden Konzepte und Begriffe wie Diversität, Migration, Kolonialität, Postkolonialität, Dekolonialität, Gender, Transgender, Enthierarchisierung und Dezentrierung in einer synoptischen und teilweise in einer historischen Perspektive ausgebreitet. Die symbolischen Formen und Möglichkeiten der Kunst werden dabei weniger geschätzt als geduldet; im Vordergrund steht das Beglaubigen einer Moral, die sich wider jede Spur von Kolonialismus und Eurozentrismus richtet, wie er in zahlreichen Dokumenten einer Unterdrückung des Anderen sichtbar wird. Gesucht wird „unter den versprengten Schatten der Revolution“ nach einem anderen Begriff und anderen Bildern der Gegenwart, einer Gegenwart, in welcher – glaubt man den Kuratoren – Kunst allein als Instrument der Moral noch ihre Berechtigung hat. Im Reader zur D14 stellt ihr künstlerischer Leiter Adam Szymczyk dazu fest: „Die Frage, die wir stellen – wie steht es um die Freiheit, die nicht bloß auf den künstlerischen Ausdruck begrenzt ist – harrt ihrer Beantwortung.“ Darf Kunst nicht frei sein, solange es die Welt im Ganzen nicht ist? 

III.

Aus dem Blickwinkel einer pauschal postkolonialen Kritik sind die Schuldigen rasch ausgemacht. Vor allem Europa, besonders aber die Deutschen, werden in den Statements der Kuratoren immer wieder als Verursacher hierarchischer Verhältnisse, historischer Verbrechen und hegemonialer Ansprüche genannt. Die aus Sicht der Kuratoren als falsch erkannte Perspektive soll nun korrigiert, Geschichte umgeschrieben und die Besucher in diesem Geist erzogen werden. Um ein Beispiel herauszugreifen, wie das funktioniert: Die deutsch-griechischen Beziehungen sind, mit Blick auf Athen als erster Station der D14 und den dort initiierten Lernprozess, ein Schauplatz, an dem Analyse und Korrektur illustriert werden. Es beginnt mit Johann Joachim Winckelmann, dessen „bahnbrechendes Werk ,Geschichte der Kunst des Alterthums’“ von 1764 nicht nur, so ist zu lesen, „den Grundstein für die gerade entstehende Wissenschaft der klassischen Archäologie legte“, sondern eben auch „auf Dauer die Sprache der Kunstgeschichte mit dem mythischen Ideal des klassischen Griechenlands als stets gegenwärtigem Horizont prägte“. Vor allem aber habe Winckelmann „als unermüdlicher Verfechter der diesem Ideal entspringenden enthistorisierten Ästhetik“ selbst nie einen Fuß auf griechischen Boden gesetzt: „,Sein’ Griechenland sollte eine Erfindung der Einbildungskraft bleiben“. Seinen architektonischen Widerhall habe Winckelmanns „preußischer Enthusiasmus“ in dem ältesten Museumsbau auf dem Kontinent, dem Fridericianum in Kassel, gefunden, flankiert von Beutestücken, die von den „Armeen hessischer Söldner aus Griechenland zurückgebracht wurden“, etwa einem „Paar marmorner Ohren“, die nun dauerhaft auf Schloss Wilhelmshöhe beheimatet sind. Einreden, Alternativen, Widerstände - all das hat es aus dieser Perspektive nicht gegeben.
Das Dominanzverhältnis, so die These, setze sich vielmehr mit Otto I. als griechischem König ebenso fort wie in Karl Friedrich Schinkels „Entwurf für einen Königspalast auf der Akropolis“ von 1834 und Leo von Klenzes „Idealisierter Ansicht der Akropolis und des Areopag in Athen“ von 1846. Der idealisierende, angeblich mit hegemonialen Absichten verbundene Blick reicht bis zu einer Skizze, die Theodor Heuss, einst Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Deutschen Werkbundes und von 1949 bis 1959 erster Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, 1956 von der Akropolis angefertigt hat. Über alle diese Dinge und wie sie jeweils einzuschätzen sind, kann und muss man diskutieren. Fraglich aber ist, ob eine Documenta dafür der richtige Ort ist – eine ans große Publikum gerichtete Schau. Sollen deren Besucher (ohne Vorwissen, ohne Quellen und bar jedes historischen Kontextes) womöglich einfach glauben, was ihnen vorgesetzt wird? Oder werden hier einfach nur alte Ressentiments ausgegraben, um zu erzieherischen Zwecken zu einer Erzählung verdichtet zu werden, deren Pointe von vorne herein feststeht?

In einer Vitrine in der Neuen Galerie: Seite aus August Wilhelm und Friedrich Schlegels von 1798 bis 1800 erschienener Zeitschrift "Athenaeum", aus Sicht der Kuratoren Quell eines politisch fatalen Idealismus.
Dokument politischer Inhumanität: Der "Code Noir", den Frankreichs König Ludwig XIV. 1685 zur Regelung des Umgangs mit den schwarzen Sklaven erlassen hat. Das Dekret blieb bis 1848 in Kraft.

IV.

Während die idealisierende und mythisierende Kunstauffassung (aus dem Geiste der Frühromantik und des Deutschen Idealismus) als ahistorisch und deshalb als kolonialistisch gebrandmarkt wird, soll die zyklische Zeit des (angeblich authentischen) Rituals ebenso als Gegenprogramm und Ausweg dienen wie die Rückführung der entfesselten Technik (über den griechischen Begriff der techné) auf die Hand und ihr Werk. Dass das zu Beginn des 21. Jahrhunderts reichlich naiv daherkommt, ist das eine. Dass sich in der wenig differenzierten Hinwendung zum (Kunst)-Handwerklichen und Folkloristischen selbst ein biederer und ahistorischer Romantizismus verbirgt, das andere. Ganz zu schweigen von der billigen und wahrlich ahistorischen Absicht, was ins eigene Geschichtsbild passt authentisch zu nennen, was nicht aber zu geißeln.

V.

Was den volkspädagogischen Aspekt angeht, so reiht sich die D14 durchaus in die Geschichte und Tradition der Kasseler Weltkunstausstellung ein. Die Rückkehr der Verfemten und als entartet Verfolgten und ihrer Kunst 1955 anlässlich der ersten documenta nach Deutschland war freilich mehr als eine Beschwichtigungsgeste. Irritierend bei der aktuellen Ausgabe wirkt zudem der anklagende, in der Pressekonferenz durchgängig aggressive Tonfall, der alle, ausgenommen die Kuratoren selbst, für den Zustand der Welt, für Rassismus, Neokolonialismus und die Unterdrückung des Anderen verantwortlich macht. Auch hier wird deutlich: Offenbar geht es nicht um ästhetische Erfahrung, nicht um Aufklärung, nicht um Differenzierung und auch nicht um eine Verbesserung oder Veränderung der Verhältnisse, sondern offenbar darum, Schuldige auszumachen und sich als überlegend und wissend darzustellen.

VI.

Als ob wir nicht wüssten, was an Unrecht geschehen ist – in unserem Namen. Als ob wir nicht längst gehört und gesehen hätten, wie radikal es sein kann und was es künstlerisch bedeutet, wenn Attitüden Form und die Künstler frei von Gängelungen eines Realismus werden, der sich allzu leicht steuern und für bestimmte Zwecke einsetzen lässt. Als ob wir aus einer im Zweifel ebenso einseitigen Perspektive wie der unseren belehrt werden müssten über den Zustand der Welt und nicht mündig genug wären, selbst zu erkennen, was schief gelaufen ist und noch immer schief läuft. Als ob wir nicht erkennen könnten, wenn Kunst nicht frei sich entfalten darf und in Dienst genommen wird für eine ideologisch geprägte Sicht der Dinge, gleich welcher Art. Als ob wir den Riss nicht bemerken würden, der sich auftut zwischen einer vorgetäuschten Offenheit, einer vorgespielten Bescheidenheit und einer praktizierten Besserwisserei, die sich selbstgerecht über die Kunst und ihre Betrachter oder Partizipatoren erhebt. Als ob wir die Kunst nicht gerade dafür lieben würden, dass sie mehr ist als ein Spiegel wechselnder Meinungen und politischer Ansichten – und obendrein resistenter gegen jede Art von Instrumentalisierung. Als ob wir nicht unterscheiden könnten zwischen der Konkretheit einer ästhetischen Erfahrung und einer von Interessen geleiteten Geste.

VII.

Während man auf einer Brücke in der Karlsaue mit Hilfe von Benjamin Patterson dem Quaken der Frösche zuhört und bedrohlich ein Knacken im Unterholz vernimmt, wo sich offenbar große Tiere befinden (Pattersons Titel macht es klar, befeuert unsere Einbildungskraft und entfacht, diesmal mit viel Ironie, unsere Furcht: „When Elephants Fight, It Is the Frogs That Suffer“), begreift man: Dass es die Kunst immer wieder vermag, herrisch auftretende Forderungen und Vernunftbegriffe sublim aufzuheben und ihre Geltungsansprüche zu unterlaufen. Es ist nicht ihr Fehler, sondern ihre Stärke.

Das idealisierte Bild der Antike korrigieren: Das Kasseler Fridericianum mit dem „Parthenon der Bücher“ der argentinischen Künstlerin Marta Minujín.