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Regelhaft und zugleich vielfältig: Die Fassadengestaltung der Stadtvillen am Stuttgarter Relenberg von Kuehn Malvezzi legt Wert auf Nuancen statt auf große Gesten.

Wie baut man guten Wohnraum für alle?

Mit gleich drei Projekten zeigen die Berliner Architekten Kuehn Malvezzi interessante Alternativen zum Einheitsbrei des konservativen Wohnungsbaus.
von Fabian Peters | 18.11.2017

"Wir haben versucht, die Bauaufgabe überzuerfüllen", sagt Wilfried Kuehn, Gründer und Partner des Berliner Architekturbüros Kuehn Malvezzi, "denn wir wollten nicht nur Nutzen für den Bauherrn generieren, sondern auch für die Allgemeinheit. Sonst wären wir ja Dienstleister." Die Bauaufgabe, das war die Beplanung eines großen Hanggrundstückes am Stuttgarter Relenberg, auf dem ein Heidelberger Immobilienentwickler gehobene Eigentumswohnungen schaffen wollte. Dazu schrieb er einen Einladungswettbewerb aus, für den neben anderen namenhaften Architekten auch das Büro Kuehn Malvezzi aufgefordert wurde, einen Entwurf einzureichen – eine Auszeichnung, hatten die Berliner doch noch kein größeres Wohnbauprojekt realisiert. 

Die an das Grundstück angrenzende Bebauung zeigt sehr unterschiedliche Maßstäbe: Zwischen gründerzeitliche Villen und Mehrfamilienhäuser der 1950er Jahre sind ein brutalistisches Hochhaus und verschiedene Institutsgebäude der Universität Stuttgart gesetzt. Es sei, wie Kuehn erklärt, weder eine typisch urbane noch eine suburbane Bebauung. Dieser Zwischenmaßstab habe ihn interessiert. Deshalb verwendeten die Architekten viel Sorgfalt darauf, die richtige "Körnung" für ihren Entwurf zu ermitteln.  Schließlich entschieden sie sich für eine Bebauung mit freistehenden Einzelgebäuden. Stadtvillen nennen die Architekten diese Typologie und verweisen als Vorbilder auf einige Bauten von Leon Krier und die IBA 1984 in Berlin, aber auch auf den historistischen Villenbau. Diese Stadtvillen stellen einen Mittelweg zwischen einer Blockrand- und einer Punktbebauung dar, wie sie die anderen Teilnehmer des Wettbewerbs für das Grundstück vorgeschlagen hatten. Freistehende Bauten, so die Überlegung, können ganz anders mit dem Außenraum kommunizieren und schaffen gleichzeitig spannende Zwischenräume. 

Die Qualität der Bauten am Stuttgarter Relenberg zeigt sich in den Details, etwa am eigens angefertigten Treppengeländer.

Wohnqualität statt Naturstein

Der öffentliche Zwischenraum ist ein zentrales Element im Entwurf von Kuehn Malvezzi. Die Architekten haben sich die kleinen Fußwege, die sich die Stuttgarter Berge hochhangeln, zum Vorbild genommen und einen solchen Weg, der nicht Straße, aber auch nicht Landschaft ist, zwischen ihren Villen hindurchgeführt. Als einen typischen Stuttgarter Zwischenraum, bezeichnet ihn Kuehn, einen Durchgangsraum, der auf privatem Grund liegt, aber öffentlich zugänglich ist. 

Die Architektur der Villen selbst soll gegenüber der städtebaulichen Wirkung zurücktreten. Die Häuser besitzen schlichte Putzfassaden, sorgsam abgestuft in ihrer Farbigkeit, und eine Formensprache, die ganz im Sinne des späten 19. Jahrhunderts Vielfalt aus Regelhaftigkeit entwickelt. Ganz bewusst verzichteten die Architekten auf Prachtentfaltung durch die Verwendung von Naturstein oder anderen kostspieligen Materialien, auf "Aufhübschung" der Immobilien, wie Kuehn es nennt. Stattdessen sei es ihnen wichtig gewesen, mit dem Budget einen tasächlichen Mehrwert für die Käufer zu schaffen, etwa in Form der großen Holzfenster und hohen Decken. Das ist nicht unbemerkt geblieben. "Die Käufer der Wohnungen sind zu einem hohen Prozentsatz Stuttgarter Architekten", berichtet Kuehn. "Natürlich empfinden wir es als gutes Zeichen, wenn Fachkollegen würdigen, was man sich überlegt hat." Die einzelnen Wohnungen sind sehr offen gestaltet. "Filmisch" seien sie konzipiert – eine Abfolge von räumlichen Eindrücken, Durch- und Ausblicken. Deshalb waren den Architekten die in die Innenräume ragenden Loggien als Gestaltungsmittel so wichtig.

Entwurf für ein Typenhochhaus, mit dem sich Kuehn Malvezzi an einem Wettbewerb der Berliner Wohnungsgesellschaft "Howoge" beteiligt haben

Genossenschaftsbauten neu denken

Während die Architekten mit den Stuttgarter Villen einen Geschosswohnungsbau für die gehobenen Einkommensschichten entwickelt haben, beschäftigt sich hingegen der Entwurf eines Typenhochhauses, mit dem sich Kuehn Malvezzi an einem Wettbewerb der Berliner Wohnungsbaugenossenschaft "Howoge" beteiligten, mit der Schaffung von preiswertem Wohnraum. Gefordert wurde ein Punkthochhaus zur Nachverdichtung bestehender Plattenbausiedlungen. "Der Bau dieser Wohnungen darf etwa die Hälfte von dem kosten, was wir am Relenberg ausgeben konnten", führt Wilfried Kuehn aus. Um diesen enormen Kostendruck bewältigen zu können, setzen die Architekten auf Vorfertigung und serielle Bauelemente – mit dem Nebeneffekt, dass durch die kürzeren Bauzeiten ebenfalls Geld gespart werden kann. Dafür schlagen sie eine Mischbauweise aus Holz und Beton vor. Zudem soll es die Struktur des Gebäudes ermöglichen, dass der Bau nach Ende der Nutzungsdauer entkernt und neu ausgebaut werden kann. 

Mit ihrem Vorschlag belegten Kuehn Malvezzi letztendlich den dritten Platz im Wettbewerb – ein Beleg dafür, dass sich die Wohnungsbaugenossenschaften endlich offen für neue Ansätze zeigen. "Nichts von dem, was im Bereich des staatlich finanzierten sozialen Wohnbaus in den 1960er und 1970er Jahren entstanden ist, lohnt sich weiterzudenken" glaubt Kuehn, "wir müssen weiter zurückgehen bis zu den Ansätzen der frühen Moderne". Es sei dringend an der Zeit, wieder experimentelle Ansätze zu wagen und sich wegweisende Vorschläge – etwa unterschiedliche Deckenhöhen oder die Beschränkung auf Schlafzellen zugunsten größerer Wohnräume – erneut in Erinnerung zu rufen. Leider tendierten viele Wohnungsbaugesellschaften zu konservativen Lösungen, bedauert Kuehn. Für den Architekten seien unkonventionelle Entwürfe deshalb immer ein Spagat. 

Städteplanerischer Entwurf für die Siedlung am Tannenhof in Baden-Baden, Wettbewerbsstand

Grundriss-Rochaden in Baden-Baden

Zurzeit wird im Büro Kuehn Malvezzi gerade ein weiteres großes Wohnbauprojekt zur Ausführungsreife weiterentwickelt. 2015 haben die Architekten gemeinsam mit dem Immobilienentwickler des Relenberg-Projektes einen Investorenwettbewerb in Baden-Baden gewonnen. Hier soll ein Gelände des Südwestrundfunks mit Wohnhäusern bebaut werden. Obwohl nicht das höchste Angebot abgegeben wurde, konnte der Vorschlag von Kuehn Malvezzi so überzeugen, dass er den Zuschlag erhielt. Der Entwurf für Baden-Baden liegt in zweierlei Hinsicht genau zwischen den Stadtvillen in Stuttgart und dem Typenhochhaus für Berlin. Zum einen handelt es sich bei der Mehrheit der knapp 20 geplanten Einzelgebäude um einen Bautypus, der sowohl Züge der Stadtvilla als auch der Punktbebauung besitzt. Zum anderen entsteht hier Wohnraum für drei verschiedene Zielgruppen: von kaufkräftigen bis hin zu sozial schwächeren Bevölkerungssegmenten. Auffällig bei diesem Entwurf sind dreizehn Gebäude mit polygonalem Grundriss. Diese Form ermöglicht es den Architekten, auf jeder Etage fünf Wohnungen anzulegen, die aber dennoch von mehreren Seiten belichtet werden. Weil die Baukörper zudem, anders als am Relenberg, nicht in einer Straßenflucht angeordnet sind, können die Grundrisse fast beliebig gedreht und gespiegelt und so interessante Durch- und Ausblicke erzeugt werden. Als weiteres Gestaltungselement arbeiten Kuehn Malvezzi hier mit gestaffelten Geschossen, die sie in Beziehung zu der bewegten Topografie des Ortes setzen. Derzeit wird der Bebauungsplan für das Projekt erstellt, anschließend soll die Realisierung beginnen. Auf das Ergebnis darf man gespannt sein.

Blick auf die Stadtvillen am Stuttgarter Relenberg. Gut erkennbar ist hier der öffentliche Raum zwischen den Gebäuden.
Siedlung am Tannenhof, Baden-Baden, Wohnbauten in der Tallage, Rendering Wettbewerbsstand
Siedlung am Tannenhof, Baden-Baden, Wohnbauten in der Hanglage, Rendering Wettbewerbsstand