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Lina Ghotmeh bittet zu Tisch

Akkurate Plisseefalten auf zarten Holzstelen, ein zweireihiger Arkadengang gewunden um ein flaches, transparentes Innen: Wie eine Origami-Skulptur wirkt der polygonale Rundbau, den Lina Ghotmeh als Serpentine Pavilion 2023 entworfen hat.
von Simone Kraft | 06.03.2023

"À table" hat sie ihn genannt und umreißt damit in wenigsten Worten das, was ihr wichtig ist. Einladen wolle sie, einzutreten in den Pavillon, miteinander in Dialog zu treten, zusammenzukommen, um nachzudenken darüber, wie wir unsere Beziehung zur Natur und zur Erde wiederherstellen können: "À table ist eine Einladung zum Zusammensein, im selben Raum und um denselben Tisch. Es ist eine Ermutigung, in einen Dialog zu treten, zusammenzukommen und darüber nachzudenken, wie wir unsere Verbindung zur Natur und der Erde wiederherstellen können."

Innen ist der Pavillon der französisch-libanesischen Architektin denn auch, so verraten es die Visualisierungen, in einem Rund mit zusammenhängenden Tischen und Bänken ausgestattet, die ein offenes Zentrum umfassen. Darüber ein Oberlicht, in dem die Rippen des Dachs zusammenlaufen und das an die klaren Formen eines Zelts, einer Hütte erinnert – kein Zufall, denn inspiriert haben die Ghotmeh, deren Entwürfe stets intensive historische Recherchen vorausgehen, nicht zuletzt die Toguna-Hütten der Dogon in Mali. In diesen "Sprech-Hütte" im Zentrum einer Siedlung treffen sich die Dorfältesten, um die gemeinsamen Geschicke zu besprechen. Hier kommt man zusammen, um sich im Schatten auszutauschen. Bewusst niedrig gebaut, bringen die Toguna die Leute dazu, zusammenzusitzen, statt zu stehen, und helfen so allzu hitzige Diskussionen zu vermeiden. Ganz in diesem Sinne soll auch der Serpentine Pavilion fungieren, wenn er für das interdisziplinäre Sommerprogramm des Serpentine in London zu Tisch bittet.

Architektur von Weltrang

Eröffnet wird Ghotmehs Pavillon im Juni 2023, bis Oktober diesen Jahres wird er öffentlich zugänglich sein. Die Architektin setzt eine Reihe fort, die sich in 23 Jahren zu einer partizipativen kreativen Plattform von Weltrang entwickelt hat. Jährlich lädt die Jury eine wegweisende Architektin/ einen wegweisenden Architekten ein, im Park um die Galerien des Serpentine in den Kensington Gardens ein temporäres Bauwerk zu errichten. Wichtig dabei: Zum Zeitpunkt der Einladung hat die berufene Person noch keine Arbeit im Vereinigten Königreich abgeschlossen.

Ziel des Pavillons ist es, ganz im Sinne des Serpentine, das Schaffen innovativer zeitgenössischer ArchitektInnen einem breiteren Publikum vorzustellen und erlebbar zu machen. Entstehen soll ein Ort, der als Treffpunkt und Forum, als Raum zum Lernen, für Unterhaltungen und für Diskussionen genutzt werden kann. Mit diesem Anspruch sind die Serpentine Pavilions, weltweit das erste Projekt dieser Art, zu einem Fixpunkt geworden, dessen Nominierung jährlich mit Spannung erwartet wird. Ausgewählt werden ArchitektInnen, die die Grenzen der zeitgenössischen Architekturpraxis konsequent erweitern. Der Bautyp des Pavillons bietet sich dabei besonders an, außergewöhnliche Raumerlebnisse zu schaffen – temporär, klein und dabei gestalterisch völlig offen ist er traditionell in der Parkarchitektur oft als Experimentierbau, als "Folly" genutzt worden. Nachdem sich lange Zeit die Architekturelite im Serpentine buchstäblich die Klinke in die Hand gegeben hat, kommen in den vergangenen Jahren vermehrt auch jüngere, noch weniger bekannte Namen zum Zug, die in ihrer Arbeit die Möglichkeiten der Architektur weiterdenken.

Bauen als Beziehungsgeflecht

Auch Ghotmeh, die schon 2020 mit dem renommierten Schelling-Architekturpreis für zukunftsweisende Entwicklungen in der Architektur auszeichnet wurde, verfolgt in ihrer Arbeit einen ambitionierten Ansatz. In ihrem Serpentine Pavilion wird er gewissermaßen in seiner Essenz erlebbar. Ausgehend von einer intensiven Erforschung der Orte, an denen ihre Projekte entstehen sollen, entwirft sie ebenso einfache wie elegante Lösungen, die in Symbiose mit der Natur stehen – lokal ebenso wie im breiten ökologischen Sinne. Dafür klopft sie nicht nur das Bestehende auf historische und kulturelle Wurzeln ab, sondern setzt sich auch mit grundsätzlichen Fragen der Nachhaltigkeit auseinander. Sie untersucht verfügbare Materialien und Ressourcen und nicht zuletzt die sozialen Bedingungen vor Ort.

Bauen ist für sie immer eingebunden in ein Geflecht von Beziehungen, das sie mit einer "Archäologie der Zukunft", wie sie ihre Herangehendweise nennt, freilegt. Die Stärke ihrer Arbeit liegt darin, wie etwa die Laudatio zum Schelling-Preis hervorhebt, diese Beziehungen analytisch herauszuarbeiten, um die Ergebnisse schließlich in ein Architekturkonzept zu übertragen. Ein Bedürfnis, das sie auch aus ihrer Vita heraus entwickelt habe, so beschreibt Ghotmeh es selbst. Geboren 1980 im Libanon, wächst sie mit den Spuren des libanesischen Bürgerkriegs in Beirut auf. Hier sei das Bedürfnis entstanden zu reparieren und Geschichte zu erforschen. Nach dem Studium an der Amerikanischen Universität Beirut verlässt sie 2003 das Land, arbeitet bei Norman Foster und Jean Nouvel und erringt schon 2006, gemeinsam mit zwei Partnern, erste internationale Anerkennung mit dem Gewinn des Wettbewerb für den Bau des estnischen Nationalmuseums 2006. Die Gründung des gemeinsamen Büros Dorell Ghotmeh Tane / Architects (DGT) folgt. Seit 2016 wirkt Ghotmeh, die unter anderem an der École Spéciale d’Architecture in Paris lehrte und auch in der akademischen Welt mit prägnanter Stimme präsent ist, in ihrem eigenen Studio in Paris. Ihr bislang bekanntestes Werk ist der Stone Garden in Beirut (2020), den sie in auch auf der Biennale in Venedig präsentiert hat.

Zurück in die Kensington Gardens. Auch hier hat sich Ghotmeh intensiv mit dem Ort auseinandergesetzt. Neben dem Gemeinschaft stiftenden Aspekt will ihr Pavillon sich auch nachhaltig in die Parklandschaft einfügen. Seine Formen zitieren die Äste und das Laubdach der Bäume. Zudem wird das Bauwerk aus organischen und kohlenstoffarmen Materialien wie Recyclingglas und Furnierschichtholz errichtet, es wirkt in seiner luftig offenen Form auch organisch-flexibel wie stabil zugleich. Durch einfache Schraubverbindungen kann der Pavillon nach Ende der Saison demontiert und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden, dies es ihm erlauben, sagt Ghotmeh, "über seinen Standort auf der Serpentine hinaus zu bestehen und gleichzeitig die Erinnerung an sein ursprüngliches Gelände zu bewahren".

Serpentine Pavilion
London W2 2UH
Juni bis Oktober 2023
Eintritt frei

Lina Ghotmeh