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MOBILITÄT
Verkehr anders denken

Wir halten es für gegeben, dass Straßen und Radwege der schnellstmöglichen Fortbewegung von A nach B dienen. Aber muss das so sein? Und was passiert, wenn wir Zeitersparnis in der Verkehrsplanung nicht mehr an die erste Stelle setzen? Neue Denkansätze, die Journalistin Thalia Verkade in "Movement – how to take back our streets and transform our lives" im Austausch mit "Fahrrad-Professor" Marco te Brömmelstroet verfolgt und uns im Interview erklärt.
von Gabriela Beck | 10.01.2023

Gabriela Beck: In der Einleitung schreiben Sie, dass Ihre konträre Weltsicht zu der von Marco te Brömmelstroet den Anstoß zu Ihrem Buch "Movement – how to take back our streets and transform our lives" gab. Wie kam es dazu?

Thalia Verkade: Die Straße war für mich nur ein Bereich vor meiner Haustür, den ich auf meinem Weg zu einem anderen Ort zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit dem Auto durchquerte. Die Straßenmarkierungen, Fahrspuren und Lichtsignale waren notwendig, um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten. Ich habe nicht viel mehr über sie nachgedacht. Während ich an einer roten Ampel wartete, machte ich mir höchstens einmal Gedanken, warum der Verkehr nicht schneller und effizienter geregelt werden kann. Während meinen Recherchen zu einem Artikel über Fahrrad-Highways traf ich dann auf Marco, einen Experten für urbane Mobilität an der Uni Amsterdam und Gründungsdirektor des Urban Cycling Institute. Als Sozialwissenschaftler stellte er Fragen wie: Warum akzeptieren wir, dass öffentlicher Raum unsicher ist? Warum verhalten sich die Menschen in unserem Verkehrssystem zunehmend wie mechanisch bewegte Teile, statt wie lebende, denkende Personen?

Marco, im Moment werden eine ganze Reihe von Büchern zum Thema Mobilität veröffentlicht. Warum ist das Ihrer Meinung nach so?

Marco te Brömmelstroet: Ich denke, dass viele der negativen Auswirkungen unserer Lebensweise langsam sichtbar werden und unseren Alltag direkt beeinträchtigen. Das betrifft nicht nur Mobilität, sondern auch Wirtschaftswachstum, Landwirtschaft, Konsumgewohnheiten, Arbeitsbedingungen et cetera. Mobilität im Allgemeinen und unsere Straßen im Besonderen zeigen nur sehr deutlich, wie verheerend die negativen Auswirkungen mancher Gewohnheiten sind, die wir für selbstverständlich halten. Beim Verkehr liegt der Fall buchstäblich vor unserer Haustür. Das macht das Problem aber auch zu etwas, das wir ändern können.

Thalia, Sie schreiben, sich einer Problematik bewusst zu werden, habe viel mit Sprache zu tun. In Ihrem Buch verwenden Sie in diesem Zusammenhang den Begriff des "Windschutzscheiben-Blicks auf die Welt". Was meinen Sie damit?

Thalia Verkade: Kennen Sie die Parabel von David Foster Wallace über zwei schwimmende junge Fische, die auf einen älteren Fisch treffen, der sagt: "Hallo Jungs, wie ist das Wasser?" Die beiden Jungfische schwimmen weiter, sehen sich an und flüstern: "Was zum Teufel ist Wasser?" Dies versinnbildlicht, wie die Vorstellungen von Straße durch die Verkehrssprache eingeschränkt werden, in der wir alle sprechen. Ein Beispiel: Warum nennen wir eine Straße, an der man weder wohnen noch entlanglaufen möchte, eine Hauptstraße? Oder warum sprechen wir von einem getrennten Fahrradweg, wenn es doch eigentlich die AutofahrerInnen sind, denen mit der Straße ein getrennter Raum gegeben wurde. Der "Windschutzscheiben-Blick" verzerrt die Realität.

Wo sehen Sie die größten Hindernisse bei der Veränderung unserer Städte?

Thalia Verkade: Wir alle stecken in der Logik der Verkehrssprache und -modelle fest. Diese Logik hat alles durchdrungen: Richtlinien, Fachliteratur, unsere Vorstellungskraft – und wurde auf unseren Straßen in Beton und Stahl verwandelt. Sobald wir sehen, dass wir andere Wahlmöglichkeiten haben, indem wir eine andere Sprache verwenden, um über unseren öffentlichen Raum zu sprechen, wird die politische Debatte aufgefrischt werden. Ich denke, wir brauchen mutige PolitikerInnen, die sich dessen bewusstwerden und den Menschen dann diese neuen Wahlmöglichkeiten geben – zum Beispiel wieder räumliche Nähe herzustellen, statt schnelle Mobilität zu organisieren. Solange wir nicht erkennen, dass die Straßen, wie wir sie jetzt haben, auch ein Ergebnis von Entscheidungen und Politik sind, bleiben wir stecken.

Marco te Brömmelstroet
Thalia Verkade

Während der Corona-Pandemie nutzten einige Städte und Gemeinden die Möglichkeit, neue Ansätze wie Pop-up-Radwege oder verkehrsberuhigte Bereiche zu testen, wo es sonst politisch nicht durchsetzbar gewesen wäre. Einige Änderungen blieben, aber die meisten verschwanden wieder. Haben wir eine Chance verpasst?

Thalia Verkade: Ja, in einigen Städten durchaus, aber in anderen geht die Transformation meiner Meinung nach auf einer tiefgreifenderen Ebene weiter. Ich finde es zum Beispiel toll, wie Paris das 15-Minuten-Stadtmodell angenommen hat. Das ist ein Vorbild für einen grundlegend anderen Umgang mit Städten: Zugänglichkeit anstelle höherer Geschwindigkeit. Wenn wir unsere Ziele wieder zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen können, hilft das sehr, unabhängiger von dem komplizierten Mobilitätssystem zu werden, das wir jetzt haben.

Marco te Brömmelstroet: Was ich in dem Zeitraum gesehen habe, war, dass wir in den meisten Fällen weiter nach Verkehrsoptimierungen gesucht haben, ohne die wirklich zugrunde liegenden Mechanismen zu hinterfragen. Die Art und Weise, wie wir über Mobilität denken, die Art und Weise, wie diese Gedanken in unseren Normen, Richtlinien, Modellen und unserer Technik verankert sind, wurde nicht in Frage gestellt. Eine Ausnahme war Paris, wo die Pandemie ein Impuls war für ein wirklich neues Narrativ: die 15-Minuten-Stadt. Das zeigt, dass eine Verkehrswende nicht ausreicht. Wir brauchen eine Gesellschaftswende. Anders ausgedrückt: Wir müssen unsere Annahme über Menschen als egoistische und isolierte Individuen und die Straße als effiziente Pipeline-Netzwerke zum Transport von A nach B hinterfragen.

Falls Sie eine Prognose abgeben sollten: Wie wird Mobilität in der europäischen Stadt der Zukunft organisiert?

Marco te Brömmelstroet: Wenn wir unsere grundlegenden Verkehrsprobleme lösen wollen, müssen wir das zugrunde liegende Narrativ von Mobilität als notwenigem Übel auf dem Weg zwischen A und B aufgeben.

Thalia Verkade: Konzentrieren wir uns doch zunächst auf bessere Entscheidungen in der Gegenwart, indem wir uns bewusst machen, dass wir in einem erst 90 Jahre alten Denkmuster feststecken, nämlich Verkehrstechnik als Modell für unser Straßenleben. Was ist, wenn dies eine Anomalie ist, in der wir uns derzeit befinden? Eine seltsame Zeit, in der Straßen nicht für Menschen gebaut sind? Was wäre, wenn wir es nur wagen müssten, dies wirklich zu sehen, um dann radikal etwas daran zu ändern?

Movement
How to take back our streets and transform our lives

Autoren: Thalia Verkade und Marco te Brömmelstroet
288 Seiten, 2022
Sprache: Englisch
ISBN 978-1911344971
12,39 Euro