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Nicht nur höher
von Meret Ernst | 07.09.2011

Ein schmelzendes Hochhaus? Erwin Wurms Skulptur „Mies van der Rohe – melting" aus dem Jahr 2005 begrüsst die Eintretenden der Ausstellung „Hochhaus – Traum und Wirklichkeit". Sein Modell ironisiert die heroische Geste des Immer-Höher-Bauen-Wollens vieler Architekten und Bauherren. Um Höhe allein geht beim Wolkenkratzerboom also nicht, das macht die von Holzer Kobler Architekturen gestaltete Ausstellung von Beginn an deutlich. Vielmehr wird der Bautyp in Beziehung zur Stadt und den Menschen gesetzt. Die Szenografie nimmt auch das Motiv der Skyline auf und stapelt wie in einem barocken Theater die Themen in die Tiefe der grossen Ausstellungshalle. Das Material ist nach Städten und den Themen „Wohnen", „Fotografie", „Hybrid" und „Superhoch" geordnet. Vermittelt wird der Bautyp im Übrigen vor allem in grossformatigen Aufnahmen und dem einen oder anderen Modell, Pläne fehlen bis auf wenige Ausnahmen. Das ist konsequent, richtet sich doch der Kurator Andres Janser nicht nur an Architekten.

Auch Grösse allein ist nicht alles: Neben New York, London, Hongkong und Shanghai gilt auch Zürich als Fallbeispiel, das in der Ausstellung verhandelt wird. In der Schweizer Wirtschaftsmetropole, die knappe 400.000 Einwohner zählt, sind Hochhäuser an einer Hand abzuzählen. Nicht in der historischen Innenstadt, sondern weiter draussen sollen sie stehen, im Norden oder im ehemaligen Industriequartier Zürich West. So hält es das „Hochhaus-Leitbild" der Stadt seit 2001 fest. „Diskrete Urbanität" – unter diesem Stichwort wird der Fall Zürich verhandelt. Denn die sparsam gesetzten Hochhäuser bieten, anders als in asiatischen Metropolen, wo sie Wohnraum für Viele schaffen, schicke urbane Wohnungen oder zentrumsnahe Arbeitsplätze. Und sie entstehen nur, wenn sie den Vorgaben des städtebaulichen Mehrwerts genügen.

Einen Akzent erhielt die Stadt neuerdings mit dem „Prime Tower" von Gigon Guyer. Die einen mögen ihn, weil er mit seiner spiegelnd grünen Fassade und den Vorsprüngen als elegante Skulptur erscheint, andere kritisieren ihn als dominante Bankenarchitektur. Schön geformt, löse er als Büroturm doch nur eine banale Bauaufgabe, so lautet das Verdikt von Städtebauprofessor Vittorio Lampugnani. Dabei zählt der „Prime Tower" als höchster Turm der Schweiz gerade mal 126 Meter. Das ist mickrig, vergleicht man mit den zwanzig höchsten Gebäuden, die allein letztes Jahr weltweit in die Höhe schossen: keines kleiner als 258 Meter, den Rekord hält aktuell der „Burj Khalifa" in Dubai mit 828 Metern. „Superhoch", lernt man, gelten Türme ab rund 300 Metern, fünfzig sollen es weltweit inzwischen sein. Auch nach unten grenzt sich ein richtiges Hochhaus ab: So gilt ein Gebäude erst ab 25 Metern Bauhöhe (wie in Zürich) oder acht Stockwerken (wie in Shanghai) als Hochhaus. Ganz einfach deshalb, weil ab dieser Höhe die Feuerwehrleitern nicht mehr ausreichen, was eine andere Konzeption des Brandschutzes erfordert.

Weshalb Hochhäuser? „Hochhäuser bieten Antworten auf städtebauliche Probleme", meint Kurator Andres Janser. Und weil sich diese unterschiedlich formulieren, wird ihr Bau je anders begründet. Stellt in Zürich ein Hochhaus die exklusive Ausnahme dar, die sich dem strengen städtebaulichen Korsett entwunden hat, so gelten in London andere Regeln: Hochhäuser tauchen dort auf, wo die Bodenrendite am höchsten ist. So wachsen sie vor allem an Verkehrsknotenpunkten. Sie müssen lediglich bestimmte Blickachsen auf St. Paul's Cathedral und den Westminster Palast freilassen – ansonsten wird die Höhe, da nicht von vornherein festgelegt, zwischen Baubehörden, Investoren und Planern jedes Mal neu ausgehandelt, als Pfand gilt „hohe Entwurfsqualität". Jüngstes Beispiel: Renzo Piano's „The Shard", der an der London Bridge Station im Bau ist. Die Glasscherbe wird dereinst mit 310 Metern das höchste Gebäude Europas sein.

Und was läuft in New York, das zusammen mit Chicago über viele Jahrzehnte darüber bestimmte, was ein Hochhaus ist? Was läuft in der Stadt kurz vor dem zehnten Jahrestag von 9/11? Die traumatische Zerstörung der beiden Türme von Minoru Yamasaki führte nicht, wie erhofft, zu einer konzeptionellen Renaissance des Bautyps – die erfüllte Renditeerwartung sollte obsiegen. Der Schwerpunkt der Entwicklung habe sich vielmehr nach Osten verlagert, konstatiert Andres Janser. Dabei fehlen auch ökologische Konzepte nicht, wie „The MET" von WOHA Architects in Bangkok zeigt: Vorgelagerte, begrünte Balkons und in den Baukörper quer hinein geschnittene Freiräume lassen die Luft so zirkulieren, dass keine Klimaanlage mehr nötig ist. Shanghai gilt als Treibhaus dieses Bautyps: Standen bis Mitte der achtziger Jahre nur 120 Hochhäuser, zählt man zwanzig Jahre später hundertmal mehr. Die Stadt selbst treibt den Höhenrekord an – auf der Ostseite des Huangpu im Financial District, wo sie konzentriert stehen, aber auch über das ganze Stadtgebiet verteilt. Das Gute, das Schlechte und das Hässliche stünden gleich nebeneinander, konstatiert Clifford A. Pearson in seinem Katalogbeitrag. Pragmatisch geht es in Hongkong zu: Die Stadt muss auf Grund ihrer knappen Fläche jeden zusätzlichen Quadratmeter, den sie dem Meer abringt, bewusst nutzen. Sorgfältig wird zwischen Glorie und Nutzen abgewogen, Wolkenkratzer sind längst nicht nur Prestigeobjekt des Grosskapitals. So stapeln in asiatischen Städten die Hochhäuser unablässig Wohnraum übereinander, in Grundrissen, die identisch sind – dass das auch anders geht, zeigt das Modell eines weiteren Zürcher Hochhauses: Gmür & Geschwentener, das Büro des Zürcher Stadtbaumeisters, macht mit dem Hochhaus „Hard Turm Park" vor, wie man ein Hochhaus aus variablen, attraktiven Wohnungsgrundrissen aufbaut.

Den Bildern schenkte Andres Janser besondere Aufmerksamkeit. Sie stammen von Fotografen, die mit diesem Bildmotiv die unaufhaltsame Urbanisierung hinterfragen. Da sind die hinreißend schönen, unwirklichen Nachtaufnahmen, wie sie Peter Bialobrzeski von chinesischen Megacities zeigt. Andere richten den Blick auf die harten Gegensätze zwischen alt und neu, dritte suchen die Nischen, in denen sich die Bewohner einrichten, etwa in prekären Hütten auf den Dächern der Hochhäuser, wie die Fotografien von Rufina Wu & Stefan Canham offenbaren. Und selbstverständlich lassen sich virtuelle Hochhäuser bauen, wie Filip Dujardin mit verblüffenden Renderings zeigt. Damit rutschen architekturkritische Fragen aus dem Blick – zugunsten künstlerischer, soziologischer und planerischer Aussagen. Der Wolkenkratzer, so festigt sich der Eindruck, ist längst mehr als seine Höhe.

Hochhaus – Traum und Wirklichkeit
Museum für Gestaltung Zürich
Vom 31. August 2011 bis 2. Januar 2012
www.museum-gestaltung.ch

Katalog zur Ausstellung:
Hochhaus – Wunsch und Wirklichkeit,
Herausgegeben von Andres Janser, Museum für Gestaltung Zürich
Hardcover, 168 Seiten, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2011
39,80 Euro
www.hatjecantz.de

Aus der Ausstellung „Hochhaus – Wunsch und Wirklichkeit“
Jason Hawkes, City of London (30 St Mary Axe/”The Gherkin”, Heron Tower, jenseits der Themse Shard London Bridge im Bau), 2011, © Jason Hawkes
Michael Wolf, Architecture of Density #39 (Hongkong), 2005, © Michael Wolf
Dick Chan Kwong-yuen, Megafauna (Hongkong, mit Bank of China und HSBC Headquarters), 2008 © Dick Chan Kwong-yuen
United Architects, Wettbewerbsprojekt für das World Trade Center, New York, 2002, © United Architects
Gigon / Guyer, Prime Tower, 2011, Foto: Thies Wachter, Zürich © die Autoren
Gigon / Guyer, Prime Tower, 2011, Foto: Ralph Bensberg © Swiss Prime Site AG
Erwin Wurm, Mies van der Rohe – melting, 2005, Foto: Franz Neumann © Privatsammlung Rudolf Budja
Ausstellung „Hochhaus – Wunsch und Wirklichkeit“ im Museum für Gestaltung Zürich, 31. August 2011 bis 2. Februar 2012, Fotos: Betty Fleck, © ZHdK
Ausstellungsansicht
Aus der Ausstellung „Hochhaus – Wunsch und Wirklichkeit“
Skidmore, Owings & Merrill, Burj Khalifa, Dubai, 2010, Foto: SOM/Nick Merrill, © Hedrich Blessing
Hans-Georg Esch, Shanghai 32 (Oriental Pearl Tower, Shanghai International Finance Center, Jin Mao Building), 2010, © HG Esch, Hennef
Simon Koy, Schanghai (im Hintergund Jin Mao Building und Shanghai International Finance Center), 2011 © Simon Koy
Georg Aerni, Tsz Wan Shan (Hongkong, aus Serie „TV Time“), 2000, © Georg Aerni
Olivo Barbieri, site specific_NYC 07, 2007, © Olivo Barbieri Courtesy Yancey Richardson Gallery New York
Bas Princen, Valley (Jing'an), 2007 © Bas Princen
Filip Dujardin, ohne Titel (aus der Serie „Fictions“), 2008, © Filip Dujardin
Mikhael Subotzky & Patrick Waterhouse, Ponte City 47/09 (aus der Serie “Windows”), Johannesburg, 2008-2010, © Mikhael Subotzky & Patrick Waterhouse Courtesy Goodman Gallery and Magnum Photos
Ausstellungsansicht
Ausstellungsansicht