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"RINGdeLUXE" ist eine In-Situ-Installation, die anlässlich der Nuit Blanche 2023 die Fußgängerbrücke Passerelle Léopold-Sédar-Senghor in Paris umschloss.

Architektur zum Aufblasen

Die ArchitektInnen Yena Young und Marco Canevacci kreeiren mit ihrem Büro Plastique Fantastique ausschließlich temporäre, begehbare Raumgebilde aus Luft und Plastikfolie. Wir wollten wissen, warum die "Bubbles" die beiden nicht mehr loslassen.
03.08.2023

Florian Heilmeyer: Marco, du hast von 1993 bis 1999 an der TU Berlin Architektur studiert und bist in deinem Abschlussjahr 1999 auf das Thema aufblasbare Strukturen gestoßen. Wie bist du darauf gekommen?

Marco Canevacci: Als ich mein Studium der Architektur abgeschlossen hatte, und zudem jahrelang ein "Kulturkonsument" gewesen war, beschloss ich ein aktiver Teil der Untergrundkultur der Stadt zu werden. Ich bin 1991 nach Berlin gezogen und war fasziniert von dem Geist der ganzen Stadt. Zusammen mit Freunden mieteten wir eine verlassene Fabrik mit 2000 Quadratmetern in Berlin-Friedrichshain – für 350 Euro im Monat. Wir nannten es "Deli an der Schillingbrücke". Der Raum war wunderschön, direkt am Spreeufer und direkt gegenüber vom Ostbahnhof, aber es gab ein großes Problem: Er hatte keine Fenster, geschweige denn ein Heizsystem. Es gab keine Möglichkeit, den Raum während des kalten und langen Winter warmzuhaten. Also fingen wir an, selbstgemachte Blasen zu bauen und sie mit einem Heißluftgebläse aufzublasen um kleinere beheizte Lounges anzubieten. Das ganze Projekt begann als ein hybrides Konzept um das breite Spektrum an kulturellen Aktivitäten zu zeigen, das wir in Berlin in den 90er Jahren erlebten – und es endete in einem Underground-Techno-Club. Dieser war der Anfang von Plastique Fantastique.

Was findest du an den Bubbles so faszinierend, dass du dich seitdem ganz und gar diesem einen Thema widmest?

Marco Canevacci: Blasen sind unberechenbar. Sie sind in vielerlei Hinsicht die einfachsten Strukturen, eine dünne Haut, die trennt, aber auch verbindet. Pneumatische Architektur ist ein Medium, um dieselbe physische Umgebung in einer temporären und außergewöhnlichen Situation zu erleben, soziale Hemmungen aufzulösen und sinnliche Interaktion zu fördern. Aufblasbare Objekte bestehen aus Luft, nicht aus Kunststoff. Die Konfigurationen sind endlos.

Wie funktioniert das praktisch: Aus was bestehen deine Bubbles? Und wie hast du die ersten damals im Deli selbst gebaut: Hattest du Hilfe von anderen, die vielleicht schon erfahrener waren und dir helfen konnten? Hat es gleich geklappt oder gab es eine Reihe von Fehlschlägen? Gab es Baupläne aus der Bibliothek oder historische Referenzen?

Marco Canevacci: Der Bau der ersten DIY-Blasen war empirisch. In unserem Club haben wir zusammen mit Michael Heim, Pietro Balp und Raffaele Distefano Polyethylenfolie mit einem haushaltsüblichen Vakuumiergerät für Gemüse versiegelt, mit erstaunlichen Ergebnissen. Es war ziemlich bizarr, dass wir uns nicht bewusst waren, wie wichtig es ist, die vielen verschiedenen Installationen zu dokumentieren, die wir während unserer Erfahrungen gemacht haben, daher gibt es fast keine Fotos davon.

"Traces and Trees", Seoul Biennale of Architecture and Urbanism 2023 (1. bis 19. September 2023)

Welche theoretischen Vorbilder und VorgängerInnen hast Du dir dazu angeschaut? Welche Referenzen sind für deine Arbeit bis heute wichtig?

Marco Canevacci: Es gibt eine bizarre Parallele zwischen den großen Utopien der 1960er Jahre und der besonderen Situation im Berlin der frühen 1990er Jahre. Erstere entwickelte sich in einem Kontext, der durch die Präsenz radikaler Bewegungen, spontaner Massen und auffälliger Demonstrationen gekennzeichnet war. Straßen, Plätze und der öffentliche Raum wurden besetzt, um gegen soziale Ungerechtigkeit zu protestieren und eine alternative Gesellschaft mit anderen Werten vorzuschlagen. Die Grafiken von Archigram sprengten die Städte nach außen. Die emblematische Blase von Haus-Rucker-Co aus dem Jahr 1967 – "Ballon für Zwei" – lud dazu ein, den privaten Raum auf die Straßen Wiens zu verlagern. Die Architektur brannte. Die frühen 1990er Jahre waren in Berlin von Leere in vielen Bereichen des Ostteils der Stadt (vor allem in Mitte) und von einem politischen Vakuum geprägt. Es waren Jahre der fröhlichen Anarchie, die gerade durch die Abwesenheit von Organisation, Religion, Telefonnetzen und konstituierter Macht gekennzeichnet waren. Ich habe es immer genossen, zwischen diesen Bezügen hin und her zu pendeln.

Inzwischen seid ihr bei Plastique Fantastique ein Duo: Yena, seit wann bist du dabei? Und was fasziniert dich an diesen aufblasbaren Strukturen?

Yena Young: Ich bin 2012 auf aufblasbare Architektur gestoßen, als ich in Helsinki auf der Suche nach einer poetischen Lichtstruktur war, um die imaginäre Atmosphäre des Sommers in den strengen finnischen Winter zu bringen. Das Projekt befand sich auf dem Hauptplatz im Stadtzentrum und umgab die Havis-Amanda-Skulptur. Es sollte ephemer und doch sinnvoll sein, und ich fand, dass keine der konventionellen temporären architektonischen Entwürfe meine Vision erfüllen konnte. Während meiner Recherchen zu diesem Thema schlug ein Kollege vor, die "pneumatische Architektur" zu erforschen. Als ich mich eingehender mit diesem Konzept beschäftigte, fand ich Inspiration in den Werken von Ant Farm und Buckminster Fuller. Die Ideen über DIY-Strukturen und die Form einer perfekten Kugel sprachen mich an. Ich war fasziniert von der kontrollierten Umgebung im Inneren der Blase, die von der unkontrollierbaren Umgebung außerhalb beeinflusst wird, wie Wind, Regen, Vögel, Bäume und andere natürliche Elemente. Als ich mit Marco zusammenarbeitete, verlagerte sich unsere Wahrnehmung allmählich darauf, das Potenzial der Kunst wahrzunehmen, anstatt sich nur auf die Architektur zu konzentrieren. Wir begaben uns auf eine gemeinsame Reise in diese neue künstlerische Richtung.

Eure Bubbles sind grundsätzlich temporär, werden vor allem für Veranstaltungen, Festivals, Biennalen genutzt. Empfindet ihr es als Verlust, wenn sie wieder abgebaut werden? Und würdet ihr euch eine größere Dauerhaftigkeit zumindest bei einigen wünschen?

Marco Canevacci: Nein. Wir mögen den ephemeren Charakter unserer Kunstwerke. Es hat etwas Magisches, wenn groß angelegte Architektur in 20 Minuten auftaucht und noch schneller wieder verschwindet. Diese aufblasbaren Konstruktionen sind leicht und dennoch effektiv. Ihre Haut von etwa 0,2 Millimetern grenzt einen privaten und einen öffentlichen Raum ab und definiert ihn – sie verbindet, indem sie trennt.

Yena Young:
Das Publikum versteht die paradoxe Natur dieser imaginären Grenze zwischen Innen und Außen und beginnt, die individuelle Blase zu durchbrechen, um sich mit anderen zu verbinden. Wenn die Installation vorbei ist, löst sich das Kunstwerk auf; die Erinnerungen, die durch die einzigartige Erfahrung entstehen, bleiben jedoch bestehen.

Marco Canevacci:
Ich denke, das Faszinierendste ist die Vielfalt unserer Arbeiten. Sie reichen von Performances über Skulpturen und multisensorische Installationen bis hin zu architektonischen Interventionen.

Wer macht aktuell – neben plastique fantastique – die spannendsten Aufblas-Strukturen? Gibt es KünstlerInnen- oder ArchitektInnen, mit denen ihr im regelmäßigen Austausch zu eurer Arbeit und euren Erfahrungen steht?

Yena Young: Wir mögen die Arbeit von Anish Kapoor, Tomás Saraceno, Smiljan Radić, wir haben mit dem Raumlabor Berlin zusammengearbeitet, wir sind mit Penique Productions und vielen anderen befreundet. Abgesehen von der kontroversen Beziehung zu Plastik entspricht der ephemere Ansatz der temporären Installationen auch heute noch unserem Zeitgeist.

"superKOLMEMEN", Helsinki

Ihr habt gerade ein Buch über eure Arbeit herausgebracht. Wenn man durch die vielen Projekte blättert, dann scheint ihr inzwischen eine große Erfahrung und Professionalität im "Blasengeschäft" entwickelt zu haben. Sind Ihre Projekte inzwischen Routine geworden? Inwiefern seid ihr immer noch experimentell?

Marco Canevacci: Wir versuchen immer, unsere Arbeit zu diversifizieren. Während der Pandemie haben wir zum Beispiel an einer neuen Performance-Installation - #StayOut - gearbeitet, die bei drei verschiedenen Gelegenheiten in Deutschland und den Niederlanden aufgeführt wurde.

Was kommt als nächstes, woran arbeitet ihr gerade und worauf freut ihr euch am meisten?

Marco Canevacci: Wir erhielten eine Einladung zur Teilnahme an der bevorstehenden Seoul Biennale für Architektur und Städtebau mit einem neuen Kunstwerk, das für das Gebiet Songhyeon-dong entwickelt wurde. Das Projekt "Traces & Trees" lädt die Öffentlichkeit ein, eine vergessene Landschaft innerhalb der bestehenden Welt zu erkunden und die paradoxe Natur der Wahrnehmung und die komplexen Schichten unserer Umgebung zu hinterfragen. Die Eröffnung findet am 1. September 2023 statt.

Plastique Fantastique. A Journey through an Ephmeral Realm
Hrg.: Marco Canevacci und Yena Young
Hardcover
Sprache: Englisch
180 Seiten und 138 Abbildungen
DCV Books, 2023
ISBN: 978-3-96912-129-0
32 Euro

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