top
Arbeit am physischen und geistigen Gemeinbesitz: Walter Niedermayrs Triptychon "Lech Rüfikopf 20 2015" in den Räumen der Allmeinde Commongrounds in Lech am Arlberg.

Raumaneignungen

Für ihre Kulturinitiative "Allmeinde Commongrounds" haben Katia und Gerold Schneider einen ehemaligen Stall umgebaut. Dort zeigen sie jetzt die subtilen Fotografien, die Walter Niedermayr 2015 und 2016 rund um Lech am Arlberg aufgenommen hat.
von Thomas Wagner | 18.08.2017

Wer Lech am Arlberg hört, denkt unweigerlich an Skifahren und Tourismus. Fallen in diesem Zusammenhang der Name des Fotografen Walter Niedermayr und das Stichwort "Raumaneignungen", so scheint klar zu sein: Hier werden die Folgen des Wintersports mittels konzeptueller Fotografie kritisch beleuchtet. Wer das annimmt, liegt richtig und falsch zugleich. 

Es stimmt: Lech ist eine, wie es so schön und zugleich vollkommen nichtssagend heißt, renommierte touristische Destination in den österreichischen Alpen, und die Landschaft rund um den Ort wird besonders im Winter intensiv für die entsprechenden Zwecke genutzt. Pisten, Liftanlagen, Hütten, Lawinenverbauungen und Ziehwege haben in der Landschaft ihre Spuren hinterlassen. Und es stimmt auch: Walter Niedermayr widmet sich seit 1987 in unterschiedlichen Werkgruppen den sichtbaren und atmosphärischen Veränderungen, die der Raum durch die Eingriffe des Menschen erfährt. Er hat alpine Landschaften ebenso mit der Kamera untersucht wie Raumfolgen, Rohbauten, Straßen und Autobahnen. Für die Serie "Bildraum" hat er beispielsweise mit Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa von SANAA zusammengearbeitet. 

Durch menschliche Eingriffe geformte Oberfläche: Walter Niedermayr, "Lech Mohnenfluh 16 2015"

Mit der Opposition zweier Standpunkte verhält es sich freilich nicht ganz so einfach, wie das gängige Vorurteil gegen den Skitourismus es sich wünscht. Initiiert wurde Niedermayrs Arbeit nämlich von der "Allmeinde Commongrounds" in Lech und namentlich von dem Kulturveranstalter und Hotelier Gerold Schneider und dessen Frau Katia. Die kleine, im Jahr 2000 gegründete, privat finanzierte und unabhängige Kulturinitiative, widmet sich – in einem eigens dafür geschaffenen Gebäude gleichen Namens – der Gestaltung des Gemeinwesens aus dem Geiste der Gemeinschaft. Der Name, so erfährt man, bezieht sich explizit auf die "Allmeinde" oder "Allmende", also auf den Gemeinbesitz, ob physisch oder geistig, ob im lokalen oder im globalen Maßstab. Durch Begegnungen, Dialoge, Ausstellungen, interdisziplinäre Forschung und ästhetische Erfahrung soll Wissen vermittelt werden, das zur besseren Gestaltung des eigenen Lebensraumes beiträgt.

Walter Niedermayr war im Winter und Sommer 2015 und 2016 jeweils eine Woche zum Arbeiten in Lech. Er hat sich immer wieder an dieselben Orte in der Natur rund um den Ort begeben, um sich der Landschaft schrittweise anzunähern, Veränderungen in der Topographie aufzuspüren, die Bewegungsabläufe in der Landschaft zu verstehen und die Atmosphäre zu erfassen. Seine stets mehrteiligen, oft panoramatischen Fotografien stellen die okkupierte und oft deformierte Realität dann auch nicht aus, sie nähern sich ihr, um sie behutsam zu ertasten und ihre durch menschliche Eingriffe geformte Oberfläche nicht weiter zu verletzten. Die Farbigkeit seiner Aufnahmen erscheint extrem zurückgenommen, spielt ins Pastell, womit sie sich schon auf den ersten Blick sowohl vom Heroismus historischer Aufnahmen als auch von jenem farbsatten Postkatenidyll unterscheiden, das sich eine heile Sonntagswelt zusammenlügt. 

Hat der Skitourist im Sesselift den Berg erreicht, erwartet ihn ein zu Werbezwecken aufgestelltes Automobil: Walter Niedermayr, "Lech Zürs Seekopf 09 2016"

In Niedermayrs Fotografien aus Lech am Arlberg – aufgenommen während der Wintersaison, wenn die Skifahrer sich wie Geister auf einer weißen Fläche verlieren, und im Sommer, wenn die Wiesen blühen, aber auch planierte, zu Pisten geformte Hänge und Wege zwischen der nur noch spärlichen Bewaldung deutlich hervortreten und die außer Betrieb gesetzten Liftstationen wie Fremdkörper in der Landschaft herumstehen – entdeckt der Betrachter immer wieder sprechende Details. „Es gibt“, beschreibt Niedermayr seine Position, „in den meisten meiner Fotografien eine bestimmte Gleichwertigkeit zwischen Landschaft, Menschen und Infrastruktur, denn es geht mir um eine Ausgewogenheit in der Betrachtungsweise und damit um eine gewisse distanzierte Haltung“. 

Niedermayrs Fotografien produzieren gerade keine neuen Landschaftsklischees. Indem er im Winter die Uniformität der von Schnee bedeckten Landschaft hervorhebt, unter der die Vegetation verschwindet, im Sommer aber die zarte Pracht der Flora sichtbar macht, lenkt er den Blick auf den Kontrast. Weil Brüche erkennbar werden, behält die Landschaft nichts Statisches. Es wird wahrnehmbar, wie sehr sie durch eine geografische, ökonomische und kulturelle Wirklichkeit geprägt ist. Statt nur eine Perspektive mit einem zentralen Fluchtpunkt anzubieten, „dezentralisiert“ und weitet Niedermayr den Blick auf einen Handlungsraum, in dem Berge, Skifahrer und Wanderer nicht miteinander verbunden, nicht miteinander zu kommunizieren scheinen. „Indem er“, schreibt Catherine Grout in ihrem Essay, „eine fragende Position einer affirmativen bevorzugt, stellt er auf verschiedenen Ebenen Gemeinplätze in Frage: Standards der Fotografie, der Darstellung von Bergen, der alltäglichen Handlungen. Andererseits zeigt er, wo notwendig, neue Arten und Weisen auf, wie man in einem mächtigen und zugleich zerbrechlichen Milieu anwesend sein kann.“

Walter Niedermayr
Raumaneignungen – Lech 2015/2016
hrsg. v. Katia und Gerold Schneider, Allmeinde Commongrounds, Lech am Arlberg
Vorwort: Gerold Schneider, Essay: Catherine Grout
Walter Niedermayr im Gespräch mit Arno Ritter, Katia und Gerold Schneider
Deutsch, Englisch
144 S., geb., 55 Bildserien
Verlag Hatje Cantz, Berlin 2017
ISBN 978-3-7757-4266-5
39,80 Euro

Bewegungsabläufe in der Landschaft verstehen lernen: Walter Niedermayr, "Lech Gaisbühel 04 2016"
Dialog und ästhetische Erfahrung: Das umgebaute Stallgebäude Allmeinde Commongrounds aus den 1950er Jahren beherbergt Ausstellungsraum, Bibliothek, Büroräume, Küche und Gästezimmer.