Beijing Design Week 2016
Hipster im Hutong
„In China gibt es alles. Man muss es allerdings erst einmal finden“, sagt Maurice Li, großzügig als „Brand-Direktor“ betitelter Mitbegründer des neuen Pekinger Boutique-Hotels Chao, als er bei einer Führung durch sein neues Haus darüber spricht, wie schwer es oft ist, chinesische Hersteller und Gestalter für die Ausstattung des Hotels zu finden – von den maßgefertigten Möbeln bis hin zur für jedes Zimmer individuell gestalteten Seife. Diese Aussagen lässt sich, ohne sie allzu sehr verbiegen zu müssen, gleich doppelt auf die diesjährige Beijing Design Week (BJDW) anwenden. Denn der Druck, einheimische Lifestyle- und Consumer-Produkte auf dem eigenen und dem internationalen Markt zu positionieren ist ganz sicher einer der Hauptgründe, warum die Stadt und damit praktisch die chinesische Regierung selbst als einer der Hauptsponsoren der Design Week und ihrer vielfältigen, teilweise höchst kommerziellen Verkaufs-Schauen auftritt. Das Ziel ist, die einheimischen Produkte soweit zu stärken, dass sie endlich eine ernstzunehmende Konkurrenz zu den ausländischen Luxusmarken bieten können, die bislang die wachsende Nachfrage einer stetig wachsenden Gruppe wohlhabender Chinesen unter sich verteilt haben.
Gleichzeitig liest sich Lis Kommentar auch wie ein pointierter Kommentar zu dem schwindelerregenden Überangebot bei dem inzwischen zum siebten Mal ausgetragenen Pekinger Designfestival: Fast jede der zahlreichen Veranstaltungsstätten scheint eine ganz eigene Grafik – und eigene thematische Schwerpunkte auch – entwickelt zu haben, ein einheitliches Konzept ist schwer erkennbar. Vermutlich gab es auch auf dieser Design Week wirklich alles. Aber wie sollte man es finden? Und vor allem: wann sollte man das alles schaffen?
In China ist alles größer
Die BJDW 2016 war ein Veranstaltungsgeflecht, das auch zwei 900 bzw. 500 Seiten starke „Ausstellungsführer“ nicht vollständig entwirren konnten. Über 550 Einzelveranstaltungen umfasste das in neun Hauptbereiche untergliederte Festival, darunter Konferenzen, Vorlesungen, Workshops, Ausstellungen, Pop-up-Shops, Spaziergänge oder öffentliche Performances. Dieses totale Überangebot wäre wahrscheinlich nur zu schaffen gewesen, hätte man sich die Tage vom 23. September bis 7. Oktober komplett dafür freigenommen.
Da die verschiedenen Veranstaltungsorte weit verstreut waren und auf den Straßen ein permanentes Verkehrschaos herrscht war es eine gewaltige logistische Herausforderung, auch nur einen Bruchteil der Events zu besuchen. Das einzige Verkehrsmittel, mit dem man sich in Peking oberirdisch schnell fortbewegen kann, ist das Fahrrad – allerdings geht man als Fahrradfahrer ein nicht zu unterschätzendes Gesundheitsrisiko ein; weniger wegen der dahinschleichenden Autos, sondern aufgrund der immensen Luftverschmutzung. Das insofern wohl beste Fortbewegungsmittel in Peking ist die U-Bahn, über die sich seit ihrer umfangreichen Erweiterung im Rahmen der Vorbereitungen für die Olympischen Spiele 2008 die meisten Stadtgebiete erreichen lassen – man sollte allerdings dann damit rechnen, erstaunlich weite Strecken zu Fuß zurücklegen zu müssen. Smart City? Man möchte als erstes vorschlagen, sofort ein funktionierendes Fahrradverleihsystem an jeder U-Bahnstation zu installieren. In China gibt es doch alles?
Am Ziel angekommen durfte man dann feststellen, dass die meisten Ausstellungen selbst die Größe einer kleinen Stadt hatten und dass es oft mehrere Stunden in Anspruch nahm, wollte man sich mit den Inhalten etwas gründlicher beschäftigen anstatt nur rasch ein paar Digitalfotos zu schießen. Das galt für die verstreuten, offenen Designer-Studios, für die riesigen Ausstellungen im ehemaligen Gaskraftwerk im 751D Park Design District - der so etwas wie das Zentrum dieser Design Week bildete - oder auch für die vielen, vielen Installationen und Performances des „Light Festivals“ im und rings um das Taikoo Li Sanlitun-Einkaufszentrum, das selbst ein eigener Stadtteil ist mit 19 Gebäuden, aufgeteilt in zwei Zonen und entwickelt nach einem Masterplan von Kengo Kuma.
Design City? Smart City? Wo denn?
Vor dem Hintergrund dieses urbanen Hindernisparcours schien es durchaus angemessen, dass der Fokus dieser BJDW auf der Stadt selbst lag: Unter der Schlagzeile „Smart City, Design City“ sollten architektonische und urbanistische Fragen erörtert werden. Erklärtes Ziel war es sogar, „Designlösungen für … die Herausforderungen der städtebaulichen Entwicklung zu präsentieren“. In Anbetracht der vielen Designfestivals, die sich nach wie vor als internationale Leitschauen für schöne teure Interieurs gerieren, klang dies wie ein erfrischend bodenständiges Ziel. Hier schien man fest entschlossen, Anknüpfungspunkte zwischen Objektdesign und urbanem Design zu finden. Und so fanden die Besucher auf ihrem teilweise sehr mühsamen Weg von Schau zu Schau genügend Zeit, um darüber nachzudenken, wie sich das soeben Gesehene oder Gehörte wohl auf die konkreten Probleme in Peking anwenden lassen würde.
Diesen Fokus auf Design als Mittel zur urbanen Problemlösung gibt es bei der BJDW übrigens seit 2013, als Beatrice Leanza die gestalterische Leitung des Designfestivals übernahm. Allerdings hat Leanza ihren Posten inzwischen wieder aufgegeben und die Tatsache, dass kein Nachfolger für sie ernannt wurde mag eine Erklärung dafür sein, warum die formulierten Kernthemen offenbar etwas aus dem Blick verloren wurden.
Mikro-Sanierung
Das galt jedoch nicht für die beiden großen, städtischen Umgestaltungsprojekte in den Innenstadtvierteln Dashilar und Baitasi, die Leanza noch mitinitiiert hatte und die einen großen Schwerpunkt dieser Design Week bildeten. Beide Viertel sind bis heute vor allem von Hutongs geprägt, jenen traditionellen, kleinteiligen Wohnstraßen und Wohnhöfen, die bis vor wenigen Jahren noch recht gleichgültig für modernere, größere Wohnbebauungen dem Erdboden gleich gemacht wurden, inzwischen aber unter Denkmalschutz stehen.
Bei Fragen der Infrastruktur und der Revitalisierung dieser Viertel treten einige sehr komplexe und für Peking typische urbane Probleme zutage. Ja, auf den ersten Blick scheinen beiden Hutongs ideale Spielplätze für moderne Gestalter zu sein: dicht bebaute, fußgängerfreundliche Flachbau-Wohnviertel, die der engen Straßen wegen fast komplett autofrei sind und in denen die Anwohner ein langjährig gewachsenes, enges soziales Netz geknüpft haben.
Jetzt, da die Hutongs unter Denkmalschutz stehen, rücken allerdings genau die Probleme, die vor Jahren dazu geführt haben, dass ein Großteil von ihnen abgerissen wurde, wieder in den Mittelpunkt: extreme Überbevölkerung – bis zu sieben Familien leben in Wohnhöfen, die ursprünglich für eine einzige gebaut worden waren –, das Fehlen adäquater Abwassernetze und Sanitäranlagen – was zur Folge hat, dass die Anwohner Gemeinschaftswaschhäuser nutzen müssen und auf Toiletten mit Abwassertanks angewiesen sind – sowie ein Mangel an öffentlichen Plätzen – abgesehen von den engen Gassen zwischen den Höfen. Zu diesen rein strukturellen Problemen gesellen sich außerdem ökonomische. Denn obwohl die Hutongs heute reine Wohnviertel sind, waren viele von ihnen früher auch Handelsplätze und Standorte für Kleinindustrie, Dashilar war sogar ein wichtiges Zentrum der chinesischen Finanzwirtschaft. Jetzt, da diese ehemaligen wirtschaftlichen Kerngeschäfte abgewandert sind, weil die Hutongs dem heutigen Mainstream-Business keine angemessenen Bedingungen bieten, müssen neue Wirtschafts- und Geschäftsmodelle für diese Viertel entwickelt werden.
Die Hipster-Falle
Die 2011 begonnene Sanierung des an den Platz des Himmlischen Friedens angrenzenden Hutongs Dashilar ist einer der ersten Versuche einer materiellen und ökonomischen Wiederbelebung eines Hutongs in China. Architektur und Design wurden bei diesem „natürlichen Wiederbelebungsprozess durch Mikro-Sanierung“ sowohl genutzt, um einige spektakuläre Pilotprojekte in den alten Wohnhöfen zu gestalten, gleichzeitig sind Designer und Architekten (sowie andere als "Kreative" bezeichnete Berufsgruppen) selbst die Zielgruppe dieser Eingriffe. Die Hoffnung ist recht explizit, dass sich kreative Unternehmen in diesen Vierteln niederlassen und diese sich also zu neuen Design-Hotspots in Peking entwickeln.
In der Tat funktioniert diese Logik: Zahlreiche Architektur- und Designmagazine haben in den vergangenen Jahren bereits über die Projekte berichtet, insbesondere über die höchst fotogenen Einbauten von Zhang Ke und seinem Büro, ZAO/standardarchitecture. Er schlägt vor, die traditionellen Häuser und Höfe mit einer neuen Struktur zu durchziehen, die neue Nutzungen ermöglicht bzw. das bestehende Angebot geschickt ergänzt. Nicht ganz so fotogen, dafür vielseitiger einsetzbar, zielt das modulare System aus Isolier-Paneelen von People's Architecture Office in dieselbe Richtung: die neue Struktur beseitigt einige der Schwächen der historischen Bebauung, ohne diese zu zerstören.
Diese Berichte haben Dashilar bei den kreativen urbanen Hipstern bekannt gemacht. In Straßen wie der Yangmeizhu Xieje haben daraufhin zahlreiche kleinere Design-, Mode- und Schmuckgeschäfte eröffnet, auch Läden wie UN1INC., einer der besten Läden für Kunstbücher und -magazine in Peking. Schon öffnen hier und dort entsprechende Coffee-Shops und Bars. Wenn allerdings in viele der neuen Einbauten eben jene Architekten einziehen, die sie gestaltet haben – so etwa im Fall des People’s Architecture Office –, und wenn die UN1INC. ein eigenes Regal für das Kinfolk-Magazin einrichtet und sich eine Verkaufslizenz für Freitag-Produkte besorgt, stellt sich allerdings die Frage, ob das Viertel tatsächlich noch als Testfeld für neue Methoden der urbanen Wiederbelebung zu sehen ist oder ob das nicht alles total an den Bedürfnissen der ursprünglichen Bevölkerung vorbei geht und wir hier nicht eher Zeugen einer besonders rasanten Gentrifizierung durch wohlhabende Hipster werden.
Learning from Dashilar
Das Projekt in Baitasi verspricht hingegen, aus eben diesen Problemfeldern in Dashilar bereits seine Lehren gezogen zu haben. Der Startschuss für "Baitasi Remade" fiel erst in diesem Jahr, Direktorin ist eben jene Beatrice Leanza, was vielleicht auch ein Grund dafür ist, dass die Veranstaltungen dort wie eine komprimierte und in sich stimmige Design Week wirkten. Hier galt ein einheitliches visuelles Konzept und mit einem klaren Gesamtkonzept wurde eine Reihe von Projekten, Pop-up-Stores und Installationen vorgestellt, aber auch dauerhafte architektonische Eingriffe in den Wohnhöfen begonnen oder schon fertig gestellt. In einer alten Markthalle öffnete die „Global School“, in der Workshops, Vorträge und Diskussionsrunden stattfanden, auch diese Schule soll verstetigt werden und den Revitalisierungsprozess dauerhaft begleiten. So soll ein dauerhafter, erfrischend ganzheitlicher Ansatz zur urbanen Sanierung etabliert werden, der das „kommunale Engagement“ der Bewohner dialogisch in den „architektonischen und infrastrukturellen Ausbau“, sprich: in die Modernisierung des Hutongs einbezieht.
Wie das als Architektur aussehen kann, wird prototypisch bereits auf drei Nachbargrundstücken sichtbar: Zwei Wohnhöfe und ein zweistöckiges Gebäude wurden dafür transformiert. „Courtyard Hybrid“ von Vector Architects ist eine behutsam in die vorhandene Bebauung eingefügte Holz-Glas-Konstruktion, die neue Nutzungen jenseits des Wohnen ermöglichen soll. Ebenso der „Co-Living Courtyard“ von ZAO/standardarchitecture, der zwar ebenfalls hauptsächlich aus Beton besteht, aber dennoch wesentlich subtiler ausfällt als ihre Projekte in Dashilar. Besonders eindrucksvoll allerdings wirkten die ausdrucksstarken räumlichen Eingriffe in das zweistöckige Gebäude, die Xu Tiantian von DnA ausgeführt hat. Sie entfernte Teile der Wand- und Bodenplatten und rundete die Ecken ab, sodass mehr Licht bis tief in die Räume fallen kann. Während der „Co-Living Courtyard“ für die Dauer des Projekts den Hauptsitz von „Baitasi Remade“ beherbergen wird, sollen er sowie die übrigen überarbeiteten Gebäude künftig als Gemeinschaftszentren für die Bewohner des Hutongs fungieren. Genau wie bei der "Global School" steht die Verknüpfung von lokalen Bedürfnissen und globalem Wissen im Zentrum aller Projekte in Baitasi, was zumindest in den Ankündigungstexte und Grundsätzen vielversprechend wirkt. Es wird sehr spannend sein zu beobachten, wie sich dieses Projekt in dem vorgeschlagenen Drei-Jahres-Plan entwickeln wird und ob hier eine sanfte, sozial verträglichere Modernisierung der traditionellen Wohnformen durchsetzen lässt. Das prominent besetzte Programm während der Design Week war beeindruckend, stellte aber gleichzeitig die Frage nach dem langen Atem, der nötig sein wird, ein so ambitioniertes Programm dauerhaft fortzuführen. Die erfolgreiche Umsetzung einer sozial verträglichen, mindestens partiellen Neuerfindung des Baitasi Hutongs könnte aber tatsächlich zweierlei beweisen. Erstens, dass sich aus den historisch gewachsenen Strukturen tatsächlich ein zukunftsfähiger Teil der Stadt entwickeln lässt und zweitens, dass Design dazu mehr beitragen kann, als nur eine neue Interessentenschicht von außen - jung, hipp und kaufkräftig – anzulocken.