Im Jahr 2102 gibt es in Perm eine El Lissitzky-Airport, im Jahr 2201 wird in Peru eine multifunktionale Brücke in Gestalt eines rot-schwarzen Sterns ein tiefes Tal überspannen, 2241 treiben im Nordmeer künstliche Eisberge mit den Gesichtszügen berühmter Polarforscher, und 3021 schraubt sich über West Sibirien eine monumentale Doppelhelix in den Himmel.
Pavel Pepperstein ist wahrscheinlich der einzige Künstler in Venedig, der sich, in kleinen Aquarellen mit dem Titel „Landschaften der Zukunft" (Landscapes of the Future), ganz offen utopisch betätigt, auch wenn er die feinen kleinen Blätter im Russischen Pavillon in erschreckender Weise leider medial überinszeniert präsentiert. Doch bedient er sich des Utopischen nur, um die Transformation abstrakter Prinzipien und Formen, wie sie die russische Avantgarde propagierte, real werden zu lassen und dadurch auf die Schippe zu nehmen. Vom Furor der Futuristen ist diese hintersinnige Spielerei weit entfernt. Sichtbar wird nicht die Gefräßigkeit technisch-industrieller Massenproduktion, karikiert werden die Ambivalenzen der Moderne und der angebliche Suprematismus der Kunst.
Sieg über die Zukunft
„Victory over the Future" lautet der Titel der von Olga Sviblova kuratierten Gruppenausstellung auf russischen Territorium etwas großspurig. Er spielt auf die 1913 von Michail Matjuschin, Alexej Krutschonych und Kasimir Malewitsch geschaffene futuristische Oper „Sieg über die Sonne" an. Erwies sich die Oper rückblickend als Vorbote der Katastrophen des beginnenden 20. Jahrhunderts, so soll aus Sicht der Kuratorin ihre Biennale-Schau nun Spiegel der aktuellen Krise sein. So ohnmächtig illustrativ das Meiste ist, was sie präsentiert, glaubt man freilich eher an eine Krise des künstlerischen Ausdrucks und an einen Sieg der Vergangenheit über die Gegenwart.
Jährte sich Tommaso Filippo Marinettis „Futuristisches Manifest" in diesem Jahr nicht zum hundertsten Mal, der Futurismus wäre kein Thema. So aber wird die aggressive Vision des Kommenden zu einer überflüssigerweise herbeigeschafften historischen Kulisse, deren Funktion unklar bleibt. Und die historische Kulissenschieberei geht selbst an Venedig, das der gegen die Trägheit der Italiener und ihrer Kultur giftende Manager der Zukunft ja gerne abgerissen hätte, nicht spurlos vorbei. Man muss sich trotzdem keine Sorgen um die Serenissima machen, erweisen sich die vage auf den Futurismus bezogenen Werke doch allesamt als harmlose Illustrationen.
Sergei Shekhovtsov lässt ein Motorrad, für ihn lediglich ein Machtsymbol, wie in einem schlechten Action-Film durch die Wand des Russischen Pavillons brechen; und wenn im Australischen Pavillon ein Motorrad in umgekehrter Richtung, von außen nach innen, in die Sphäre der Kunst einzubrechen versucht, so erreicht es den White Cube doch nicht. Womit es auch schon ein Ende damit hat, dass Dynamik und Geschwindigkeit Ingredienzen des modernen Lebens sind. Nur von Ferne ist das Donnergrollen von Marinettis Prophetie einer beschleunigten, auf Maschine, Kampf und Laufschritt gegründeten Massengesellschaft noch zu hören. Sie ist ohnehin längst Wirklichkeit - von der Beschleunigung aller Lebensbereiche, der industriellen Massengesellschaft und der Allmacht der Technik bis zur Allgegenwart des Automobils, mit dem der Ritt auf der Kanonenkugel einst begann. Der Rest bleibt Geschichte.
Kitsch statt Futurismus
Ganz besonders hätte sich Filippo Tommaso Marinetti, eine Mischung aus großbürgerlichem Dichter, Ästhet und wortgewaltigem Prediger, über die „Hommage" gefreut, die ihm im neuen Italienischen Pavillon im hinteren Teil der Arsenale zu Teil wird. Was dort unter dem Titel „Collaudi" vorgeführt wird, ist von der Kritik schon bei der Eröffnung zu Recht als Bankrotterklärung der italienischen Kunst und kulturministeriell erzwungene Blamage bezeichnet worden.
Zwar sind unter den zwanzig dreißig- bis fünfzigjährigen Künstlern, die mit von der nationalen Partie sein dürfen, so namhafte Vertreter wie Sandro Chia, Marco Cingolani, Luca Pignatelli, Nicola Verlato und Masbedo; doch auch das hilft nicht. Dass alle Arbeiten eigens für die Ausstellung geschaffen wurden, macht die Sache nur noch schlimmer. Derart viel dekorativen Kitsch mit ebenso undeutlichen wie verblasenen Bezügen zur Gegenwart der Vergangenheit hat man selten vereint gesehen. Man will sich gar nicht ausmalen, was Marinetti mit denen gemacht hätten, die ihm hier offiziell huldigen sollen. Sie verfluchen, erschießen, überfahren und in der Luft zerreißen wäre das mindeste gewesen, um sich an den Schöpfern von so viel billigem kunstgewerblichem Tant zu rächen, der mit Futurismus so wenig wie mit Neo-Futurismus etwas zu tun hat.
Da helfen nur noch Rettungsinseln
Wer, grün vor Ärger über so viel Unfähigkeit, aus der Halle tritt, der freut sich ganz besonders über die Rettungsinseln, die Tamara Grcic gleich gegenüber in den alten Schwimmdocks verteilt hat. „Gaggiandre" hat sie ihre Installation nach dem Ort genannt, auf den sie bezogen ist. Mit Futurismus hat Grcic zum Glück nichts am Hut, dafür zeigt ihre Installation aber umso deutlicher, wie genau und inspirierend zeitgenössische Kunst sein kann.
Siebzehn orange-rote Rettungsinseln schaukeln auf dem mal türkishellen, mal dunkel wie Veroneser Grün schimmernden Wasser unterm Dach der alten Werfthallen. Mikrophone zeichnen die Geräusche auf, aus Lautsprechern ist ein seltsames Gemisch aus Stimmen, Türenschlagen und Morsezeichen zu hören. So erzeugt Tamara Grcic im Zusammenspiel von optischer und akustischer Sphäre ein ganz eigenes Feld, eine Art Parallelraum, in dem überraschender Weise gerade keine Atmosphäre der Bedrohung herrscht. Im Gegenteil: Rettung scheint möglich. Man kann entkommen, geborgen in einem eigenen, kleine Raum, einer schwimmenden Insel. Zwar sind diese schwimmenden Eilande isoliert, jedes für sich, atmosphärisch aber über den akustischen Raum, der sie umgibt, miteinander verbunden.
Hier ereignet sich kein Schiffbruch mit Zuschauer, hier braucht es keine in den Medien zirkulierenden Bilder von Boat Peoples und Flüchtlingen aus Afrika, die tagtäglich auf zu Italien gehörenden Mittelmeerinseln anlanden oder in überladenen Nussschalen auf offener See aufgegriffen werden, um das Gefühl zu erzeugen, an einen anderen Ort versetzt zu sein. Diese Inseln der geretteten Seligen schaukeln auf dem Wasser, um dem Taumel der Stimmen zu entrinnen, die um den Globus schwirren und in unsere Köpfe eindringen, und um der medialen Irrfahrt der Gefühle, einer Mischung aus Mitleid, Ohnmacht und Wut, metaphorisch ein Ende zu bereiten. In der stillen Intensität, mit der Tamara Grcics „Gaggiandre" die vielerorts spürbare Panik vermeidet, Auge und Ohr beruhigt und den ehemaligen Kriegshafen in einen Ort der Rettung verwandelt, zählt die Installation zum Besten, was in Venedig zu sehen ist. Ist Rettung nicht genau dies: im Moment der Gefahr anderswohin ausweichen zu können?
Immerhin bleiben Fragen im Gedächtnis haften: Müssen wir gerettet werden? Sind wir überhaupt noch zu retten? Wie könnte ein wirklich neuer Futurismus aussehen? In Sachen historischer „Futurismo" bleibt es am Ende allein der kleinen Kabinettausstellung „Macchina di Visione. Futuristi in Biennale" in der Ca' Giustinian, dem Sitz der Biennale Verwaltung, überlassen, anhand von Fotografien, die zeigen, wie die Werke der Futuristen in den zwanziger Jahren in Venedig präsentiert wurden, die historischen Verhältnisse zurechtzurücken.
53. Internationalen Kunstausstellung der Biennale Venedig
7. Juni - 22. November 2009
www.labiennale.org