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Das Studio von 7.5 in Berlin

Von Berlin in die Welt

Das Designstudio 7.5 aus Berlin hat für den amerikanischen Bürospezialisten Herman Miller den Bürostuhl "Cosm" entwickelt, der gerade auf dem Weg zum Welterfolg ist. Es wäre nicht der erste für Carola Zwick, Roland Zwick und Burkhard Schmitz. Ein Interview
Text von Fabian Peters, Fotos von Alexander Kilian | 12.12.2019

Fabian Peters: Ihr habt im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte vier höchst erfolgreiche Bürostuhlmodelle für Herman Miller entworfen. Wie kam es zu der Zusammenarbeit?

Carola Zwick: Alles begann mit einem Anruf. Es war in der direkten Nachwendezeit und wir hatten es endlich geschafft, einen Telefonanschluss für unser Studio zu ergattern. Das war damals eine echte Herausforderung. Und als ich hörte, wer da anrief, habe ich zuerst an einen blöden Streich geglaubt.

Burkhard Schmitz: Herman Miller lud uns zu einem europäischen Wettbewerb für ein sogenanntes Desk-Screen-System ein, also für einen Schreibtisch mit Sichtschutz. Wir waren gelinde gesagt überrascht, weil wir Herman Miller dafür bewundert hatten, dass sie keine Einzelmöbel, sondern Systeme wie das legendäre "Action Office" entwickeln. Am Ende haben wir deshalb selbst ein System eingereicht, und ein dickes Buch dazu, in denen wir ihnen die kulturellen und architektonischen Unterschiede zwischen den USA und Europa versucht haben zu erklären. Und warum das "Action Office" in Europa kein Erfolg war.

Und habt ihr den Wettbewerb gewonnen?

Burkhard Schmitz: Wir haben den Job natürlich nicht gekriegt. Aber wir hatten immerhin ihre Aufmerksamkeit erregt. Und irgendwann wollte Herman Miller dann tatsächlich mit uns zusammenarbeiten – für ein Stuhlprojekt, aus dem dann schließlich "Mirra 1" hervorging. Unsere Aufgabe damals war eigentlich eine ziemliche "Mission Impossible". Der Stuhl sollte nämlich mehr oder minder das gleiche können wie der extrem erfolgreiche "Aeron", aber 20 Prozent billiger sein.

Carola Zwick: Anfänglich kam es bei der Zusammenarbeit zu einem ziemlichen Kulturen-Clash. Wir führten den Projektverantwortlichen eine sogenannte Sitzkiste vor, mit deren Hilfe wir versucht haben, das Sitzgefühl, das uns vorschwebte, zu simulieren. Sie erwarteten aber ein Maßstabsmodell oder zumindest ein Rendering, mit dem wir ihnen das Aussehen des zukünftigen Stuhls präsentieren.

Roland Zwick, Carola Zwick und Burkhard Schmitz (v.l.n.r.)

Offenbar haben sich alle Seiten aber doch noch zusammengerauft?

Burkhard Schmitz: Letztendlich war das Projekt ein Riesenerfolg. Von "Mirra 1" sind mehr als eineinhalb Millionen Exemplare verkauft worden. Und wir waren plötzlich die ersten nicht-amerikanischen Designer, die für Herman Miller einen kommerziell erfolgreichen Bürostuhl entworfen hatten. Allerdings haben wir uns anschließend geschworen: So gehen wir das nie wieder an. Denn aus den veranschlagten zwei Jahren Entwicklungszeit waren am Ende fünf geworden.

Roland Zwick: Wir unternehmen bei der Entwicklung immer wieder sogenannte Explorationen. Dabei geht man in viele Richtungen und wenn man in eine Sackgasse gerät, kehrt man um. Herman Miller ist so eine Art Supertanker, der bei der Entwicklung von "Mirra 1" versucht hat, uns zu folgen. Das musste scheitern. Zum Glück saß irgendwann Bill Stumpf, der Designer des "Aeron", auf einem unserer Prototypen, rollte vor und zurück, und sagte dann: "Das ist, als würde man seinen Jaguar aus der Garage fahren." Dieser Ritterschlag hat uns wahrscheinlich zwischenzeitlich vor dem Rauswurf bewahrt.

Als ihr dann an die Entwicklung von "Setu" gegangen seid, habt Ihr es anders gemacht?

Carola Zwick: Völlig anders. Wir haben den Stuhl erst bei Herman Miller vorgeführt, als die Explorationsphase abgeschlossen war und er bereits weitgehend so aussah und sich so angefühlt hat, wie wir uns das für das Serienprodukt vorgestellt haben.

Es gab also kein wirkliches Briefing für "Setu"?

Burkhard Schmitz: Überhaupt keins! Uns war damals aufgefallen, dass großer Bedarf an etwas besteht, was wir "Instant Comfort" genannt haben: Es gibt so viele Orte, an denen man arbeitet, aber keinen eigenen Stuhl hat – Konferenzräume zum Beispiel. Trotzdem sind die Stühle dort oftmals nicht darauf ausgelegt, als Arbeitsstuhl zu fungieren. Hier wollten wir Abhilfe schaffen. Außerdem waren wir davon überzeugt, dass es auch mit weniger Materialaufwand möglich ist, Komfort zu erzeugen. Deshalb haben wir dann etwas entwickelt, was vom MIT später als "Compliant Mechanism" bezeichnet wurde.

Was muss ich mir darunter vorstellen?

Burkhard Schmitz: Das sind Elemente, die aus einem Stück bestehen, aber trotzdem beweglich sind. Sie besitzen eine Geometrie, die dafür sorgt, dass der Stuhl die Bewegungen des Sitzenden mitmacht. Gefertigt werden diese Teile aus einer Polypropylen-Variante, die ein bisschen Gummi in der Rezeptur hat. So eine Technik bedeutet natürlich, dass der Stuhl deutlich weniger Teile benötigt - und viel weniger wiegt: "Setu" kann 150 Kilogramm tragen, wiegt aber selbst gerade einmal neun Kilogramm.

Das spielt ja auch unter Umweltgesichtspunkten eine große Rolle.

Burkhard Schmitz: Nachhaltigkeit war für uns von Beginn an ein wichtiges Thema. "Mirra 1" war zum Beispiel das erste komplexe Produkt überhaupt, das die "Cradle to Cradle"-Zertifizierung erhalten hat. Das Produktgewicht wurde bei Herman Miller lange als relativ nachrangig angesehen. Mittlerweile ist es uns aber gelungen, das Unternehmen zu sensibilisieren. Denn bei 1,5 Millionen Exemplaren machen natürlich selbst 20 Gramm, die man an jedem Drehfuß spart, einen enormen Unterschied.

Wie hat sich eure Beziehung mit Herman Miller nach "Setu" fortgesetzt?

Burkhard Schmitz: Eigentlich waren wir ja heilfroh, es mit "Mirra 1" seinerzeit über die Ziellinie geschafft zu haben. Aber im Nachhinein waren wir mit dem Ergebnis nicht völlig zufrieden. Also haben wir zehn Jahre später bei Herman Miller angeklopft und gefragt, ob wir "Mirra" noch einmal entwickeln dürfen.

Wie war die Reaktion?

Burkhard Schmitz: Verhalten. Sie haben uns gefragt, ob wir nicht lieber etwas ganz Neues machen wollen. Irgendwann habe ich dann zu Brian Walker, dem damaligen CEO, gesagt: "Brian, warum fährst Du einen BMW? Weil Du schon weißt, wie der nächste BMW aussehen wird. Nämlich wie ein BMW." Da hat er verstanden, dass es uns darum ging, Vertrauen in ein bestehendes Produkt zu demonstrieren.

Carola Zwick: Bei der Entwicklung von "Mirra 2" haben wir es dann geschafft, den Stuhl um das komplette Gewicht von "Setu", also um neun Kilogramm, abzuspecken. Fast alle Teile, die bei "Mirra 1" noch aus Stahl gefertigt waren, sind bei "Mirra 2" aus Kunststoff oder Aluminium. Letztendlich ist "Mirra 2" die wesentlich bessere Verkörperung unserer Ursprungsidee als sein Vorgänger.

Bei "Cosm", eurem neuesten Stuhl für Herman Miller, habt ihr Ideen weitergeführt, an denen ihr schon bei "Setu" und "Mirra" gearbeitet habt.

Carola Zwick: Burkhard sagt immer: "Revolution is overrated." Revolution klingt zwar immer sexy, aber Evolution ist das viel mächtigere Konzept. Den ersten Prototyp für "Cosm" hat Roland tatsächlich fast komplett aus Teilen von "Setu Lounge" und "Mirra 2" zusammengebaut. Und als wir uns dann daraufgesetzt haben, stellten wir fest: "Verdammte Falle. Wenn die Konkurrenz so etwas rausbrächte, hätten wir ein Problem.“

Burkhard Schmitz: "Cosm" hat wie "Setu" eine durchgehende Membran-Sitzfläche und wie "Mirra 2" einen zentralen Träger, der die Rückenlehne stabilisiert. Das Besondere ist aber eigentlich, das sich "Cosm" komplett selbst einstellt.

Roland Zwick, Carola Zwick und Burkhard Schmitz (v.l.n.r.)

Also "Instant Comfort" wie schon bei "Setu"?

Burkhard Schmitz: Genau. Allerdings hat "Setu" nur ein Wippgelenk. Das Gelenk von "Cosm" ist um ein Vielfaches komplizierter. Wir sprechen von einer "Ankle Tilt"-Bewegung. Eigentlich ist es dazu immer erforderlich, dass man den Stuhl manuell einstellt. Aber "Cosm" wiegt mich automatisch, wenn ich mich auf ihn setze, und justiert sich entsprechend.

Wie funktioniert das?

Roland Zwick: Bis der Mechanismus zur Serienreife gelangt war, dauerte es insgesamt 18 Jahre. Ursprünglich hatten wir eine solche Technik bereits für den ersten "Mirra"-Stuhl vorgesehen. Den ersten Prototyp habe ich damals aus einem Aluminiumrohr von einer Melkmaschine und Federn von meiner Vespa zusammengebaut – eine wilde Konstruktion, die aber bereits funktioniert hat. Aber für den angestrebten Verkaufspreis wäre die Mechanik nicht umzusetzen gewesen. Also verfolgten wir die Idee damals nicht weiter.

Burkhard Schmitz: Natürlich haben wir die Konstruktion in den letzten fünf Jahren noch einmal erheblich weiterentwickelt, damit sie alle erforderlichen Tests besteht und der Mechanismus narrensicher funktioniert. Und nicht zuletzt mussten wir auch mit Herman Miller die Produktionsmethoden erarbeiten.

Welches Sitzgefühl soll "Cosm" vermitteln?

Carola Zwick: In Deutschland sagt man ja: Bequemlichkeit liegt auf halbem Weg zur Liederlichkeit. Schließlich soll man ja arbeiten und nicht einschlafen. In den USA lernten wir, diese Einstellung zu hinterfragen. Heute haben wir erkannt, dass Komfort kein frivoles Vergnügen ist, sondern die wichtigste Eigenschaft eines guten Bürostuhls.

Carola Zwick auf "Cosm"
Roland Zwick mit dem Prototyp der "Cosm"-Mechanik