Eine Modeboutique und ein Teegeschäft in einem heruntergekommenen Haus, dessen zweiter Stock wegen der mangelhaften Statik kaum zehn Leute auf einmal verkraften kann; ein Café, in dem die Besucher auf einer halb abgerissenen Terrasse sitzen, mit vier Wänden, aber ohne Dach; eine Fotoausstellung in einem ehemaligen Fabrikvertriebsbüro, das schon so lange leer steht, dass der Pförtner im Außenbereich erfolgreich Weintrauben züchtet ... Dashilar Alley, einer der Veranstaltungsorte des „Design Hop" der Beijing Design Week, lockt Design-Aficinados an den vermutlich skurrilsten Teil der Stadt.
Dashilar, ein Stadtviertel von ungefähr einem Quadratkilometer Größe, in dem hauptsächlich traditionelle Siheyuan-Häuser mit Innenhof und einstöckige Häuser stehen, war 600 Jahre lang Pekings wohlhabendstes und gepflegtestes Viertel. Strategisch günstig neben dem Qianmen-Tor gelegen, verband sich in Dashilar höfisches und bürgerliches Leben, es entstand ein pulsierender Umschlagplatz und eine der wichtigsten Unterhaltungsstätten Chinas. Ein Ort, an dem die ältesten Geschäfte des Landes ebenso angesiedelt waren wie jene Theater, aus denen die sogenannten Pekingoper hervor gegangen sein soll. Irgendwann begann sich das zu ändern, wie sich die ganze Stadt veränderte, deren stetig wachsende und im Wandel begriffene Skyline auch den sich verschlechternden Zustand von Dashilar spiegelte. Durch Leerstände von Gebäuden, eine explosionsartig ansteigende Zahl von Migranten und einen Mangel an Infrastruktur wurde Dashilar zunehmend vom städtischen Leben isoliert und es entstand ein Slum im Herzen von Peking.
Was faktisch nur langsam in das allgemeine Bewusstsein dringt, dem begegnen Kuratoren, Geschäftsinhaber, Designer, Künstler und Fotografen in Dashilar Alley mit Enthusiasmus und Engagement. Mehr als zwanzig chinesische und internationale Teilnehmer haben sich den räumlichen Gegebenheiten des alten Stadtviertels angepasst und eine Reihe von Ausstellungen, Pop-up-Stores und Veranstaltungen initiiert, die über das ganze Viertel verstreut sind und das Publikum dazu ermutigen, die gewohnten Pfade zu verlassen und sich in die engen Gassen zu begeben, die Hutongs genannt werden. Die Räumlichkeiten, die sie vorfanden, haben ganz klar schon bessere Tage gesehen, einige sind traditionelle Häuser mit Innenhof, die dringend renoviert werden müssten. Bei einem der Häuser scheint der Moment eingefroren zu sein, bevor es völlig in sich zusammenfällt. Es gibt alte Fabrikgebäude aus der Mao-Zeit, die noch sozialistische Slogans auf den Wänden tragen. Die kreativen Köpfe nehmen das als Herausforderung und kombinieren das Bestehende durch minimale Veränderungen in einem Rahmenprogramm.
Der Wuhao Curated Shop, 2010 von Isabelle Pascal in Peking gegründet, ist eine Plattform zur Präsentation und Förderung talentierter Designer, Marken und Kreativer aus China und dem Ausland. Er ist in einem der Hutongs angesiedelt, die von der Dashilar West Street abgehen, in einem kleinen, etwa hundert Jahre alten Gebäude, das einst ein Teehaus war und heute einen Teeladen und einen Pop-up-Shop beherbergt. Hier sind ausgesuchtes Design, Mode und Accessoires vereint, die durch die fünf Elemente der chinesischen Philosophie inspiriert sind: Jeder der „Feuer"-, „Metall"-, „Wasser"-, „Holz"- und „Erde"-Räume stellt mit seinen Farben und Dekorationsgegenständen eine Verbindung zu den Charakteristika der Elemente her, wodurch eine Art begehbares Theater entsteht, in dem Design die Hauptrolle spielt.
In der unbeschwert wirkenden Holz-Präsentation, die durch die Farbe Grün und die Jahreszeit Frühling charakterisiert wird, steht ein scheinbar bescheidener Holztisch in der Mitte. Auf den zweiten Blick stellt sich heraus, dass die Möbeldesignerin Sarah Zhang mit der Zweideutigkeit des Tisches spielt, der als Teetisch oder auch als Esstisch für entspannte Momente genutzt werden kann und sich aufgeklappt in einen Schreibtisch verwandelt, mit einer Pinnwand auf der Rückseite der Holzklappe und Platz für Büro-Utensilien. Zusätzlich zu den Ausstellungsräumen der fünf Elemente gibt es einen Raum für Besucher, die sich hier hinsetzen und eine Teezeremonie genießen können. Das gesamte Ensemble zeugt von dem Versuch, eine neue Kultur und eine neue Ästhetik vorzustellen und gleichzeitig Kontext, Ideen und Rituale einer traditionellen Linie fortzuführen.
Das Pekinger Modelabel Ruxi hat einen Pop-up-Shop mit einer neuen Teeseide-Kollektion unter dem Motto „Coexistence" eröffnet. Teeseide, ein sehr edler, handgefertigter Stoff aus natürlichen Materialien, markiert einen Höhepunkt chinesischer Handwerkskunst und Gestaltung der alten Zeit. Mit ihrer Kreation hoffen die Designer von Ruxi eine Verbindung oder Koexistenz zwischen traditionellem Handwerk und modernem Design zu schaffen. Die Kollektion wird in einem traditionellen Siheyuan-Haus vorgestellt, an dem keine größeren Instandsetzungsarbeiten durchgeführt wurden. Die abgewaschene Wandbemalung und der unebene Gipsboden dienen als natürlicher Hintergrund für die eleganten Stoffe.
Ein weiterer minimalistischer Pop-up-Shop, der Beachtung verdient, wurde von der Möbeldesignfirma Lost & Found ins Leben gerufen. Die Kollektion ist hauptsächlich inspiriert durch das Vorbild der einfachen, robusten und hoch funktionalen chinesischen Möbel der fünfziger und sechziger Jahre. Anklänge an sowjetische Einflüsse werden bei diesem Stil spürbar und das ruft Erinnerungen an vergangene Zeiten wach, als China in seiner Entwicklung noch längst nicht so weit war wie heute. Bei Lost & Found verbinden sich gutes Material und Handwerkskunst zu ehrlichen Produkten. Dashilar birgt bestimmte Elemente des alten Pekings und Lost & Found fügt sich angenehm und passend in dieses Viertel.
Der Creative Director der Beijing Design Week, Aric Chen, hat eine Ausstellung mit dem Titel „Silent Heroes" kuratiert: Die Objekte sind Artefakte aus der Kindheit der Schauspielerin Zhou Xun, neben anderen Objekten aus dem Leben heutiger Bewohner von Dashilar, zusammen stehen sie im Kontext von Bildern und Geschichten in einem Ausstellungsraum, der einst zu einer Fabrik gehörte. Diese Präsentation hat zum Ziel, alltägliche Dinge ins rechte Licht zu setzen.
Dies sind nur einige der Happenings rund um Dashilar. Sie machen aufmerksam auf die Fragen, die die Besucher der Beijing Design Week und dieses uralten Viertels sich stellen mögen: Welche Rolle spielt Design für eine Stadt? Einige der Aktivitäten in Dashilar richten in der Tat den Fokus auf den lokalen Kontext, zum Beispiel Objekte, die aus lokalen recycelten Materialien hergestellt wurden. In einige der Aktivitäten sind, wenn auch vielleicht zufällig, Ortsansässige involviert – für den Wuhao Curated Shop wurde lokale Hilfe in Anspruch genommen, um die Räume einzurichten, und für „Silent Heroes" wurden Bewohner des Viertels interviewt. Aber kann Design für die grundlegende Veränderung eines alten Stadtviertels wirklich hilfreich sein? Dies sind die Fragen, die sich auch die Guang'An Holding und Beijing Dashilar Investment Limited stellen, ein staatseigenes Entwicklungsunternehmen, das von der Regierung den Auftrag erhalten hat, Dashilar zu sanieren.
Unter der Federführung des Entwicklungsunternehmens wird die Plattform Dashila(b) aufgebaut, die eine „offene" Sanierungsweise verfolgt, im Gegensatz zum alten Konzept der Pauschal-Instandsetzung. Wichtige Knotenpunkte sollen Katalysatoren für die Veränderungen sein, bestimmte Archetypen werden in Dashila(b) gefördert, als Musterlösungen sowohl für die Anwohner als auch für internationale Investoren. Es besteht die Hoffnung, dass dieser sanfte Einfluss die umliegenden Stadtviertel anregen wird, individuell und gleichzeitig vernetzt flexible Lösungen zu suchen und eine zukunftsfähige, weniger oberflächliche Gemeinschaft mit einer größeren Vielfalt zu schaffen.
Im Rahmen des Sanierungskonzepts von Dashila(b) ist Dashilar Alley als Teil der Beijing Design Week die erste Maßnahme in einer ganzen Reihe von Interventionen, durch die leer stehende Gebäude zu Veranstaltungsorten für Experimente und Events für interessierte Gruppen werden sollen.
Die städtebaulichen Transformationsprozesse mögen einen langen Atem erfordern, aber die trostlosen Beispiele für Gentrifizierung in unzähligen Stadtvierteln Chinas sind alarmierend genug. Liang Jingyu, der kluge Kopf hinter Dashila(b), führender Architekt der Gruppe Approach Architecture, ist sich sicher: Der Widerstand der lokalen Bevölkerung gegen größere Abrissvorhaben zugunsten einer Pauschalsanierung wird so groß sein, dass es immer eine gesunde Mischung aus alten und neuen Häusern geben wird und eine bunte Zusammensetzung von Bewohnern und Lebensstilen in Dashilar.